24. Ein geheimes Treffen
Le-Iva hatte Cario in den Garten bestellt. Im Palast trieb der Mönch sein Unwesen, und sie traute ihm auch tagsüber nicht über den Weg. Es war nirgends sicher, und von dieser Sache durfte er auf keinen Fall erfahren.
Cario hatte noch nicht ganz zu seinem wahren Selbst zurückgefunden. Er war blass und stiller als gewöhnlich, und als er über die verschneiten Wege schritt, die Hände in den Taschen seines Mantels mit dem aufgestellten Kragen, dachte Le-Iva darüber nach, wie wenig sie ihn kannte. Er hatte ihr nicht vertraut. Er hatte versucht, sein kleines Geheimnis für sich zu behalten, und das tat weh, denn sie hatte einen Freund in ihm gesehen. Einen echten Freund.
»Majestät.« Er blieb in angemessener Entfernung von ihr stehen, den Kopf gesenkt.
Die Wächter standen außer Hörweite. Nur Nara war bei ihr, sie hatte es sich neben ihr auf der Bank bequem gemacht, wischte den Schnee mit den Schuhen hin und her und wirkte auf eine freundliche Weise einfältig. Das machte sie absichtlich, wie Le-Iva sehr wohl wusste, doch es hatte einen beruhigenden Einfluss auf sie.
Sie konnte es. Sie konnte dafür sorgen, dass alles wieder gut wurde.
»Fürst Cario. Tretet näher. Ich habe nicht vor, diese geheime Unterredung schreiend durchzuführen.«
Er gehorchte. Immer noch mit gesenktem Kopf näherte er sich der Bank.
»Geht es Euch gut?«, erkundigte sie sich. »Ich habe meine Wächter angewiesen, Euch bei der Befragung mit dem gebührenden Respekt zu behandeln.«
»Es geht mir gut, danke«, sagte er förmlich. »Eure Leute haben sich angemessen verhalten.«
Was alles und nichts bedeuten konnte.
»Ich ...« Sie rang nach Worten. »Es tut mir leid.«
Überrascht blickte er sie an. »Euch tut es leid? Euch, Majestät? Nachdem ich Euch enttäuscht habe?«
»Ihr habt mich nie enttäuscht«, sagte sie. »Und daran hätte ich denken sollen, statt Euch zu misstrauen und in den Kerker werfen zu lassen. Ihr seid immer einer der wenigen gewesen, auf die ich mich voll und ganz verlassen konnte, und dennoch habe ich beim ersten Anschein von Verrat nicht mehr an Euch geglaubt.«
»Eine kluge Königin rechnet immer damit, dass Verrat möglich ist«, sagte er steif.
»Ist das so? Ich bin nicht naiv. Ich weiß durchaus, wie es in dieser Welt zugeht und wie gefährdet ein Thron ist. Doch niemand kann sich darauf halten, wenn er nur von Verrätern und Mördern umgeben ist. Ein König braucht loyale Menschen an seiner Seite. Und die habe ich. Ich hätte mich nicht so schnell davon abbringen lassen sollen, an Euch zu glauben. Dabei habt Ihr Euch sogar verlobt, um jedes Gerücht über etwaige Absichten auf den Thron zu ersticken.«
Ihre Wächter hatten alle Einzelheiten aus ihm herausbekommen, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Jedenfalls war es ihr so berichtet worden, und sie hoffte sehr, dass es stimmte. Major Bralin, der Anführer ihrer Wache, hatte ein aufbrausendes Temperament.
Fürst Cario nickte, ohne dass seine Miene etwas verriet. »Ja, Eure Majestät.«
Sie sehnte sich nach seiner Vergebung, aber mehr, als sich zu entschuldigen, konnte sie nicht tun. Es musste genügen. Cario war nicht die Art Mann, die sich in Selbstmitleid zerfleischte. Sie hatte ihn auf ihren gemeinsamen Reisen erlebt – er war ein Kämpfer, ein Planer und jemand, der seine Pläne auch durchführte. Hätte er ihren Tod angeordnet, dann wäre sie schon längst tot.
»Ich habe das Kriegsrecht verhängt, was Euch unerwartet an die Spitze meines Krisenstabs gesetzt hat.«
»Enthebt Ihr mich meines Amtes?«, fragte er. »Nach dem, was ich getan habe, wäre das eine durchaus angemessene Maßnahme.«
»Was Ihr getan habt?«
Einen Moment lang konnte sie die Hoffnungslosigkeit in seinem Blick erkennen. »Ich habe Baroness Asati den Wohnort der Liebeszauberin verraten. Obwohl ich davon wusste, dass sie Euch liebt.«
Le-Iva fühlte sich peinlich berührt. Oder warum sonst war ihr so unbehaglich zumute? »Ich möchte nicht über die Baroness reden. Weder mit Euch noch mit sonst jemandem. Meine Frage ist: Seid Ihr bereit, Euer Amt auszuüben?«
»Natürlich, Eure Majestät.« Früher hätte er gelächelt, seine Augen hätten vor Begeisterung gefunkelt. Hätte sie je darüber nachgedacht, einen neuen König neben sich auf den Thron zu setzen, wäre Cario tatsächlich ihre erste Wahl gewesen. Er war loyal, klug und so unerschrocken, dass es an Sturheit grenzte. Zum ersten Mal fragte sie sich, warum er wirklich so erschüttert war. War es die Tatsache, dass sie so schnell an seine Schuld geglaubt hatte, oder war es etwas anderes?
»Ich habe Euch rufen lassen, um mit Euch meinen Krieg zu planen.«
»Sollte dann nicht Marschallin Vilja an diesem Treffen teilnehmen?«
»Mit militärischer Macht allein werden wir gegen den Orden nicht ankommen. Ich setze auf die Zauberer.«
»Die Zauberer«, wiederholte er, während das Begreifen in seinen Augen dämmerte.
»Ich habe mehr Zauberer nach Berrin rufen lassen. Eridan hat für mich Kontakt mit dem Archiv am Roten See hergestellt und etliche Adepten sind bereits eingetroffen. Sie sind als Händler und reisende Handwerker in die Stadt gekommen, damit niemand vom Orden Verdacht schöpft.«
»Die Soldaten sind also bloß eine Ablenkung.«
»So ist es. Der Orden soll denken, dass wir auf unsere Armee setzen, während wir im Hintergrund eine ganz andere Streitkraft aufbauen. Das muss weiterhin unauffällig geschehen und niemand darf auch nur das Geringste ahnen. Zauberer sind kostspielig. Angeblich soll es im Kloster unvorstellbare Reichtümer geben, die ich den Magiern im Falle eines Sieges in Aussicht gestellt habe. Gleichzeitig müssen wir unsere Soldaten für den Aufstieg in die Berge rüsten. Und im Palast darf nie auch nur ein Wort über diesen Plan fallen, denn wir wissen nicht, wann und wo der Feind mithört.«
Cario hatte ihr aufmerksam gelauscht. Nun nickte er. »Ich verstehe, meine Königin. Wenn ich eine Frage stellen darf?«
»Früher hättet Ihr nicht gezögert.«
»Verzeiht, wenn ich Euch verärgere, Eure Majestät.«
Es war nicht mehr wie früher. Vielleicht würde es auch nie mehr so sein, wenn er irgendwann begriff, dass sie ein ganz anderes Spiel spielte. Aber darüber würde sie ihm nichts sagen.
»Sprecht.«
»Womöglich kommen die Zauberer gegen die Mönche an, wenn sie stark und zahlreich genug sind, und ich kann mir vorstellen, dass sie sie sogar besiegen und das Kloster erobern könnten. Doch was ist mit Prinz Tagoron?«
»Was soll mit ihm sein?« Sie wollte sich nicht mit Cario streiten, wirklich nicht, doch ihre Nerven waren mittlerweile so angespannt, dass sie kurz davor war, aus der Haut zu fahren.
Prinz Tagoron.
Der Fluch, der über ihnen allen hing.
»Dem Herrn des Ordens entgegenzutreten – könnt Ihr das von einem Söldnermagier verlangen, gar von einem der jungen Adepten? Oder will Meister Eridan das persönlich übernehmen?«
Le-Iva zwang sich zu einem Lächeln. »Um dieses Problem kümmern wir uns.« Sie spürte Naras Wärme an ihrer Seite. Die Göttin kicherte leise. »Wir haben uns da schon etwas überlegt.«
***
In Malias Zimmer war es nicht ganz dunkel. Ein kleines Licht verwandelte die Möbel in schwarze Ungeheuer. Im Schlaf fürchtete sie sich nicht davor. Lange hatte sie wach gelegen und furchtsam in alle Ecken gespäht, als könnte der geheimnisvolle Mönch urplötzlich daraus auftauchen.
Dabei war der geheimnisvolle Mönch längst da. Ke-Achan wartete. Er kam lautlos, stiller als ein Schatten. Die Nacht gehörte ihm. Dieses Zimmer. Der Palast. Und das Mädchen.
Sie würde nicht erwachen. Träume hatten sie gefangen. Unruhig stöhnte sie, wälzte sich herum, auf den Bauch, dann wieder auf die Seite, und grub die Hände ins Kissen. Sie schien mit derselben Heftigkeit und Leidenschaft zu schlafen und zu träumen, mit der sie tanzte.
Stürmisch. Selbstvergessen. Nur für sich.
Hör auf, über sie nachzudenken.
Ke-Achan hob die Decke an und legte ihre Beine frei. Das weiße Nachthemd bedeckte das Mädchen bis zu den Knien. Dünner Stoff zwischen seinen Fingern, als er das Kleid hochschob und ihren Oberschenkel freilegte.
Er hielt das Messer über ihre Haut, senkte die Klinge.
Ein wundervolles Bein. Ein runder Po. Nicht so wie Asatis Rehbeine. Volle Schenkel, wohlgerundete Waden.
Weich.
Er verharrte, das Messer in der Hand, und horchte auf ihren Atem. Sie hatte aufgehört zu träumen und atmete wieder tiefer. Ruhiger. Ein und aus. Ein und aus.
Malia war eine Zauberin. Es war eine bodenlose Dummheit, eine Zauberin anzugreifen, ohne zu wissen, wie mächtig sie war. Sie mochte singen und tanzen wie ein Kind, aber sie hatte den Körper einer Frau. Er durfte sich nicht in Sicherheit wiegen.
Den Körper einer Frau. Es juckte ihn in den Fingern, mehr davon zu sehen. Das Nachthemd höher zu schieben.
Du bist ein Mönch. Ein Mönch!
Wann hätte dich je der Körper einer Frau verlockt?
Jetzt.
Nein!
Er schrie sich selbst an. Seine Finger krallten sich um das Messer. Mit Gewalt senkte er es, jetzt berührte es ihre Haut … Doch statt sie damit zu schneiden, bevor er überhaupt wusste, was er tat, zog er die Hand zurück, beugte sich vor und atmete ein. Es war nicht einmal ein Kuss, flüchtiger als ein Windhauch, keine Berührung, nur eine Andeutung. Wärme wehte ihm entgegen, der Duft ihrer Haut stieg ihm in die Nase.
Er fuhr zurück und stolperte fort. Beinahe vergaß er, so lautlos zu verschwinden, wie er hergekommen war. Er prallte gegen eine Kommode, stieß gegen einen dunklen Schatten, der erschreckend zu klirren begann – verdammt, ihre Fläschchen! –, und wollte gerade durch die geheime Tür fliehen, da richtete sie sich auf.
»Warte!«
Er musste verschwinden. Sofort. Und doch war da etwas in ihrer Stimme, etwas Ängstliches, und er konnte sie nicht so zurückgelassen.
Zögernd drehte er sich um.
Malia saß aufrecht in ihrem Bett, sie zupfte an ihrem Nachthemd herum, und als er innehielt, blinzelte sie. »Du bist wirklich da. Ich habe dich nicht geträumt.«
Wenn er sich nicht bewegte, würde sie dann nicht genau das glauben – dass sie doch träumte?
»Hast du mir eine Eisblume in den Rücken geschnitzt?«
Er zögerte.
»Bist du taub? Ich sehe dich. Du bist nicht unsichtbar, weißt du?«
»Ich habe nicht ... nein.«
War sie enttäuscht? Malia versuchte, unter ihr Nachthemd zu spähen, ohne die Grenzen der Schicklichkeit zu verletzen. Sie hielt ihre Bettdecke höher, und Ke-Achan musste ein Grinsen unterdrücken, denn ihr war doch gewiss klar, dass er diese Grenzen längst verletzt hatte.
Dummerweise überfielen ihn ausgerechnet jetzt Schuldgefühle. Er war ihr zu nah getreten. Er hatte sie in ihrem Schlafzimmer aufgesucht, er war ihr so nah gekommen, dass er ihr das Muster in die Haut hätte ritzen können. Zu nichts davon hatte er ein Recht.
»Ich weiß nicht, ob ich mich dafür bedanken soll, dass du es dir anders überlegt hast«, sagte sie. »Du bist ein Künstler. Deine Fähigkeiten sind einzigartig, und ich wünschte mir nur, du würdest deine Blumen dort hinterlassen, wo man sie sehen kann und nicht an unaussprechlichen, peinlichen Stellen.«
»Die Königin könnte ein ausgeschnittenes Kleid tragen.« Was redete er denn da?
»Das könnte sie, ja. Auch wenn ich es mir bei Le-Iva nicht so recht vorstellen kann. Sie ist mehr die Frau für eine Soldatenuniform.«
»Und du?«, fragte er. »Wo hättest du gerne so eine Eisblume gehabt?«
Malia klopfte ihre Bettdecke glatt. »Ich weiß nicht. Wenn du mich schon so fragst ... auf dem Arm vielleicht, wo ich sie immer sehen kann?«
»Du bist die Priesterin einer anderen Gottheit«, sagte er. »Ich kann dir nicht das Symbol des Eisgottes geben.«
»Dann bin ich die Einzige im Palast, die keine Blume bekommen kann?«
»So sieht es aus.« Wieso wurde ihm das erst jetzt klar?
Sie legte den Kopf schief. »Warum bist du dann hier?«
Er lächelte, dann wurde ihm bewusst, dass er mit einem Mädchen schäkerte, seine Wangen brannten vor Scham, und als Nächstes fiel ihm ein, dass sein Gesicht im Schatten der Kapuze lag. Sie konnte ihn gar nicht sehen. Was sie sah, war eine dunkle Gestalt in einer Ecke ihres Zimmers. Wieder einmal bewunderte er ihren Mut. Konnte es ein unerschrockeneres Mädchen geben als dieses?
»Keine Antwort ist auch eine Antwort«, murrte Malia. »Komm näher, dann muss ich nicht so schreien.«
Oh, sie schrie nicht. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Sie hatte weder versucht, die Wachen zu alarmieren, noch ihn mit einem Hilfeschrei zu vertreiben.
»Besser nicht«, sagte er.
»Warum? Keine Sorge, ich spähe dir nicht unter die Kapuze. Ich will deine Hände sehen.«
Das überraschte ihn. »Warum?«
»Weil ich sehen will, wie du solche feinen Muster hinbekommst. Hast du besonders kleine Hände? Wie ein Zwerg siehst du nicht aus.«
Wieder musste er lächeln. Was war das für eine Frau?
Obwohl er wusste, dass es ein Fehler war, kehrte er zu ihrem Bett zurück und streckte seine Hände vor. Malia betrachtete seine Finger. »Schön. Ja. Wirklich hübsch.«
»Du findest, ich habe hübsche Hände? Die sehen ganz gewöhnlich aus. «
Bei Keioron, das hatte ihm noch niemand gesagt.
»Kannst du keine Komplimente annehmen?«
»Das ist, äh, peinlich?«
Sie lachte leise. »Woher wusstest du, dass ich eine Priesterin bin? Hast du mich belauscht? Die Königin? Die Zauberer?«
»Ich bekomme so einiges mit, was im Palast vor sich geht.«
Ihre Augen weiteten sich plötzlich. »Du warst es!«
»Ich war was?«
»Die Zellentür. Die ohnmächtigen Wachen. Du hast uns zur Flucht verholfen!«
Es war zwecklos, es zu leugnen, also zuckte er nur mit den Schultern.
»Warum wolltest du uns helfen?«
»Ich wollte dir helfen«, sagte er leise.
»Warum?«
»Weil du unschuldig warst.« Konnte es noch schlimmer werden?
Doch diesmal lachte Malia nicht. »Zeig mir dein Gesicht, Mönch.«
Er wich zurück. Beinahe wäre er wieder über den Hocker gestolpert. Wie ein plötzlich Erblindeter taumelte er davon. Er wählte nicht die geheime Tür, um die Geheimgänge nicht zu enthüllen, sondern riss die Tür zum Korridor auf und floh, so schnell er konnte.
Hoffentlich hatte Keioron nichts davon mitbekommen. Beim ewigen Eis, was hatte er sich nur dabei gedacht?