25. Singen, beten, schlagen
Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Malia war es nicht gewöhnt, dass man ihr das Frühstück ins Zimmer brachte. Dass die Stunden verstrichen, ohne dass sie so recht wusste, was sie tun sollte. Dass sie diesen Mönch nicht aus dem Kopf bekam. Seine Stimme. Die lautlosen Bewegungen, als würde ein Schatten durchs Zimmer gleiten. Der gefährlichste Mann von ganz Berrin, der Mann, den die Königin hasste wie niemanden sonst, und sie hatte mit ihm geredet wie mit einem Nachbarn, den sie auf der Straße getroffen hatte.
Was, wenn die Königin nach ihm fragte? Wenn irgendjemand den Mönch auf dem Gang vor ihrem Zimmer gesehen hatte, wenn er danach ein paar Wachen ermordet hatte? Doch nein, davon hätte sie gehört. Der Mönch war genauso still verschwunden wie in den Nächten zuvor.
Und als wäre all das noch nicht genug, hatte Le-Iva sie dazu eingeladen, mit ihr zu Abend zu speisen.
Oh Hilfe. Deiara und alle anderen Götter, die mir zuhören: Hilfe!
Die Königin stocherte in ihrem Essen herum und wirkte zerstreut. Dabei war es vorzüglich. Wo sonst hätte Malia jemals solche kleinen, kross gebratenen Flügel genossen, eine solche braune, mit feinen Zwiebelwürfelchen gewürzte Soße, rote Früchte, die sich zu einer kleinen Pyramide häuften? Und ach, der Nachtisch!
Malia bedankte sich bei der stummen grauhaarigen Dienerin, die ihren Teller neu füllte, was diese mit einem freundlichen Nicken zur Kenntnis nahm.
»Ich sehe, es schmeckt dir«, meinte Le-Iva. »Und doch fühlst du dich unwohl.«
»Entschuldigt, bitte. Ich bin es nicht gewöhnt, in einer solchen Umgebung zu sein.«
»Willst du wieder nach Hause? Du brauchst es nur zu sagen.«
Im Grunde rechnete sie jeden Tag damit, dass man sie wieder zurück zu ihrem Vater, in ihre kleine Wohnung schickte. Warum war sie noch hier? Sie hatte sich nicht getraut, danach zu fragen, und sie wagte es auch jetzt nicht. Es klang unverschämt, und sie wollte Le-Ivas Großzügigkeit nicht mit Unverschämtheit begegnen.
»Ihr seid sehr gnädig, Majestät.«
»Was würdest du tun, wenn du daheim wärst?«, fragte die Königin.
Malia verfolgte mit der Gabel eine Traube über den Teller. »Dies und das. Tränke und Salben anrühren. Auf Kunden warten.«
»Dann tu es hier. Mach alles bereit. Wenn ich dich empfehle, wirst du dich vor Kundschaft kaum retten können.«
Malia musterte die Königin verstohlen. Sie wirkte übernächtigt, blass, mit dunklen Ringen unter den Augen, als hätte sie die ganze Nacht auf den Besuch des unheimlichen Mönchs gewartet. Malia ertappte sich bei dem Gedanken, dass die mächtige Königin von Berrin auch nur ein Mensch war.
Was wollte Le-Iva bloß von ihr? Malia würde nicht darum bitten, gehen zu dürfen, und zwar nicht nur, weil Eridan ihre Kräuterkammer zerstört hatte und ihr Vater sie mit dem Schneider verheiraten wollte. Damit würde sie schon fertigwerden. Es war vielmehr das Gefühl, dass sie Antworten brauchte.
Sie hatte einen Mann verletzt. Sie hatte beinahe die Königin umgebracht. Und sie wusste immer noch nicht, wie das hatte passieren können. Sie wusste immer noch nicht, was es bedeutete, dass sie angeblich eine Priesterin war. Jetzt so zu tun, als sei nichts geschehen? Nein, das war nicht möglich.
»Ich frage mich, warum Deiara dich zu mir geschickt hat«, murmelte die Königin mehr zu sich selbst als zu ihr. »Aber darüber mag ich nicht einmal hier im Palast sprechen. Die Wände haben Ohren. Brauchst du nicht irgendetwas aus deinem Haus? Hast du alles Nötige für deine Tees und Tinkturen?«
»Nun, ich hätte gerne meine Waage und den Mörser. Dann die Ringelblumensalbe, die fehlt mir, die benutze ich häufig als Grundlage. Und …«
Le-Iva stand auf. »Dann sollten wir fahren.«
»Was?« Schon wieder. Sie konnte es sich einfach nicht abgewöhnen. Jedermann hier im Palast musste sie für eine Straßengöre ohne Manieren halten.
»Wir nehmen die Kutsche. Ich muss mit dir reden.«
Das Gefährt glitt durch den Schnee. Wie auf Wolken. Nicht einmal die Kutsche von Graf Felias war dermaßen bequem. Malia starrte aus dem Fenster auf die verschneiten Straßen. Die Passanten wichen zur Seite und blieben ehrfürchtig stehen, als die königliche Kutsche vorbeifuhr. Sie neigten die Köpfe; eine alte Frau ließ sich sogar auf die Knie fallen.
»Was weißt du über die Kriegermönche?«, fragte Le-Iva.
Malias kindliche Freude darüber, in diesem luxuriösen Gefährt zu sitzen, mit dem Hintern auf den aufgewärmten Polstern – war das Magie? –, verflog so rasch, wie sie aufgeflackert war.
Alte Kröte, wusste die Königin etwa von dem nächtlichen Besuch des Mönchs? Dass sie miteinander geredet hatten, als wären sie alte Bekannte? Sie würde nichts zugeben, wenn sie nicht dazu gezwungen wurde. »Das, was jeder weiß, nehme ich an«, sagte sie daher vorsichtig. »Sie wohnen in den Bergen. Sie beten Keioron an, den Gott des Eises. Von ihm erhalten sie ihre Kraft, die darin besteht, dass sie fliegen können und im Kampf unbesiegbar sind. Sie können so lautlos und schmerzlos töten, dass man nicht merkt, wenn man tot ist.« Sie rutschte auf dem Sitz hin und her vor lauter Unbehagen. Die Königin, die ihr gegenübersaß, schien sie bis auf den Grund ihrer Seele zu durchschauen, und Malias verlegenes Lachen klang selbst in ihren eigenen Ohren nicht echt. »Aber das ist wohl ein Gerücht?«
Le-Iva schaute nachdenklich aus dem Fenster. »Ich denke nicht. Ungefähr so, wie du es beschreibst, könnte es sich verhalten. Ich habe es selbst erlebt. Man spürt sie nicht, man hört sie nicht. Du weißt mittlerweile, dass sie mich in meinem eigenen Palast verhöhnen. Dieser Mönch ist nicht greifbar – ein Schatten. Ein Gespenst. Doch weiter. Was ist mit der Liebe?«
»Liebe? Das könnt Ihr nicht ernst meinen. Es sind Mönche.« Sie lächelte unsicher. »Sie leben keusch, sie begehren nichts und niemanden. Ihr fleischliches Herz haben sie ihrem Gott gegeben, und nun schlägt ein Herz aus Eis in ihrer Brust.«
»Ist das so?«, fragte Le-Iva nachdenklich. »Das ist, was sie uns glauben lassen. Doch wenn es um Keuschheit geht, warum hat Keioron dann Söhne?«
»Ich verstehe die Frage nicht. Man nennt die Eiskrieger seine Söhne, aber doch nur, weil sie sich ihm verschrieben haben?«
»Nein«, sagte die Königin. »Das trifft auf die gewöhnlichen Mönche zu, ja. Aber die Prinzen, die dem jeweiligen Orden vorstehen, sind seine leiblichen Söhne. Sie sind Halbgötter, deshalb ist ihre Macht um ein Vielfaches größer als die der anderen Mönche.«
Woher wusste die Königin das? Ihr Kampf gegen den Orden hatte etwas Persönliches, aber Malia hatte noch nicht herausgefunden, was es sein könnte.
»Der Gott des Eises und seine Diener kennen keine Liebe des Herzens«, fuhr Le-Iva fort. »Mit Keuschheit hat das nichts zu tun. Sie dürfen ins Bett steigen, mit wem auch immer sie wollen, solange sie nur ihr Herz nicht verschenken. Und hier kommt die Göttin der Liebe ins Spiel.« Sie schob die Vorhänge vor das kleine Fenster und wandte ihr Aufmerksamkeit wieder Malia zu. »Ich habe mich gefragt, warum Deiara so unverhofft in mein Leben getreten ist. Ihre Kräfte und Gaben sind sehr speziell. Alles muss man sich schenken lassen – das ist eins der Grundprinzipien ihrer göttlichen Kraft. Niemals als Erstes anzugreifen, sondern den Schlag abzuwehren und gegen den Feind zu wenden. Ja, du hast mir eine Lehre erteilt, gestern im Palasthof, Malia. Seitdem frage ich mich: Wie kann ich das, was mein Gegner mir antut, in eine Waffe gegen ihn verwandeln? Schau her.« Sie zog den Gürtel aus ihrem Mantel und legte eine Schleife damit, durch die sie das eine Ende zog. Ihre geschickten Finger drehten die Schleife einige Male hin und her, und gleich darauf hielt Le-Iva einen ballförmigen Knoten in der Hand. »Das hat mir ein Seemann in Arit gezeigt. Hier.« Sie reichte Malia den Gürtel. »Versuch, ihn aufzumachen.«
Mit ungeschickten Fingern zerrte Malia an dem Knoten. »Es geht nicht.«
»Oh doch. Nur einmal hier ziehen.« Ein kurzer Ruck, und unter den Händen der Königin zerfiel der Knoten. »Ganz einfach. Deiara kämpft nicht, aber ihre Waffen sind anderer Art. Sie kann Knoten knüpfen, die niemand auflöst. Gefangenschaft – aber süße Fesseln.« Sie schaute Malia erwartungsvoll an.
»Ich verstehe nicht recht.«
»Wirklich nicht?«
Auch in ihrer Zunge schienen sich Knoten zu bilden. »Ihr könnt nicht meinen, dass man die Mönche zur Liebe verführt, oder? Deiara kann nur einen Funken zur Glut anfachen. Und die Herzen dieser Krieger sind aus Eis.«
Sie dachte an den Mönch in ihrem Schlafzimmer. Er hatte ihr keine Eisblume in die Haut geritzt, sondern nur mit ihr gesprochen. Seine Stimme hatte ihr gefallen. Seine Stimme war jung und verriet mehr über ihn, als ihm bewusst sein mochte. In jener Stunde war er ein Mensch für sie geworden – kein gefährliches Ungeheuer, das durch den Palast schlich, sondern der junge Künstler, dessen Leinwand die Haut der Adligen war.
War er jemand, der ein Herz hatte? Doch wie hätte jemand, der so etwas Schönes schaffen konnte, kein Herz haben können?
War es möglich, einen Mönch zur Liebe zu verführen?
Vielleicht hätte sie ihn tatsächlich in ihr Bett locken können. Vielleicht hatte er es sogar gehofft. Doch da hatte sie noch nicht gewusst, dass ihm körperliche Genüsse nicht verboten waren.
Nach dem, was die Königin gesagt hatte, ging es jedoch nicht einfach um Verführung. Das Herz eines Eiskriegers zu gewinnen – das war etwas ganz anderes.
»Deiara und Keioron sind wie Feuer und Eis«, sagte Le-Iva. »Gegensätzlicher könnten Götter nicht sein. Er ist einer der Hauptgötter, sie ist klein und unbedeutend. Aber als ihre Priesterin weißt du um ihre Stärke. Sie ist viel stärker, als man denken mag, und das macht alle, die ihr dienen, ebenso stark. Keioron hingegen ist mächtig, aber nicht allmächtig. Und die Mönche sind nicht so unbesiegbar, wie viele glauben. Was können sie, außer zu töten und zu rauben und Menschen zu erschrecken? Sie sind wie der Winter – lästig und kalt. Leute hungern und frieren und sterben, aber der Winter geht vorbei. Jeder Winter. Das nimmt ihm den Schrecken, findest du nicht auch? Er ist nicht ewig, und gegen die Sonne kann er nicht bestehen.«
»Ja«, sagte Malia, »aber ...«
Der Mönch in ihrem Schlafzimmer. Eine dunkle Gestalt, ein schwarzer Mantel, eine Stimme, die schönen Hände. Es wäre ein tödlicher Fehler, so jemanden zu unterschätzen, nur weil er ein gewisses Maß an Höflichkeit aufbrachte oder weil seine Stimme so einen angenehmen Klang hatte.
»Fliegen können sie übrigens auch nicht«, fuhr Le-Iva fort, die es überaus zu genießen schien, alle Unzulänglichkeiten des Gegners aufzuzählen. »Jedenfalls nicht sehr gut. So wie Schneeflocken fallen oder wie Schneebälle, die man durch die Luft schleudert. Nicht sehr hoch und nicht sehr weit. Ich kenne einen Adepten, der tatsächlich auf Luft gehen kann, dagegen ist ihr Talent eher schwach. Besteht ihr Herz wirklich aus Eis? Sie haben es ihrem Gott geweiht, aber sind sie deswegen gegen jedes Gefühl gewappnet? Das gilt es herauszufinden.« Triumphierend fügte sie hinzu: »Selbst Keioron kennt Begehren. Selbst der Gott des Eises weiß um den Zauber der Schönheit. Warum dann nicht auch seine Diener? Deine Kräuter und deine Künste sind für mehr nützlich, als liebeskranke Berriner zu trösten.«
»Aber …«
Le-Iva war die Königin; kein Wunder, dass ihre eigenen Ideen sie begeisterten. Aber mit ein paar Kräutern und Sprüchen gegen die mörderischen Mönche vorzugehen, erschien Malia doch sehr gewagt. Um nicht zu sagen, aussichtslos. »Selbst wenn ihr Herz nicht völlig tot ist – damit sich jemand verliebt, braucht er einen möglichen Partner, oder nicht? Wie stellt Ihr Euch das vor? Wollt Ihr scharenweise schöne Frauen in die Berge schicken, in der Hoffnung, dass die Mönche darauf hereinfallen?«
Oder wollen wir darauf warten, dass sie in unsere Schlafzimmer kommen, um sie dort zu einem Glas Wein einzuladen? Den Gedanken behielt sie lieber für sich.
»Ich weiß noch nicht«, gab die Königin unumwunden zu. »Ich habe gehofft, dass wir gemeinsam einen Plan ausarbeiten können. Du arbeitest mit Deiaras Kraft, nicht ich.«
»Mir scheint jedoch, dass Ihr mehr darüber wisst als ich.«
Le-Iva lächelte charmant. »Wir finden einen Weg. Es wird nicht heute sein und nicht morgen. Aber ich bin mir sicher, dass wir dem Orden auf diese Weise schwer zusetzen können. Sie sind nicht umzubringen? Dann werden wir sie dazu verführen, ihren Gott zu verraten, sodass er ihnen die Kraft nimmt oder sie eigenhändig tötet.«
Liebe war stark. Liebe war göttlich.
Man konnte sie nicht benutzen, um einen Betrug zu begehen. Es war keine Liebe, wenn sie geplant war, um jemandem zu schaden.
Daher widersprach dieser Plan allem, wofür Deiara stand. Malia hätte die Königin gerne darauf hingewiesen, aber es schien ihr unklug, der Herrscherin von Berrin zu widersprechen.
»Ich kann mir darüber Gedanken machen, Majestät. Aber es ist nicht so einfach. Irgendwie müssen die Mönche das Mittel zu sich nehmen, anders geht es nicht. Wir können ihnen ja schlecht einen gedeckten Tisch an einem Berghang aufbauen.«
»Du könntest einen Liebestrank für die Eiskrieger herstellen.«
Malia zögerte. »Ja, aber es würde sie noch lange nicht dazu bringen, ihre Gelübde zu brechen. Es könnte sie nur verlocken, ihrem Herzen mehr Raum zu gewähren. Offen zu sein für das, was ihnen begegnet. Ich kann nicht zaubern – nicht so, wie Ihr es Euch wünscht, fürchte ich.«
Le-Iva fuhr sich durchs Haar und seufzte. »Die größte Schwierigkeit wird sein, es ihnen zu verabreichen. Wir müssen ihnen eine Falle stellen. Ich brauche jemanden, der mitdenkt, der neue Gedanken denkt. Die Zauberer denken leider nur daran, wie sie Feuer durch die Gegend werfen und Steine durch die Luft schleudern.« Sie verzog den Mund. Malia hatte eigentlich gedacht, dass Le-Iva sehr viel von den Zauberern hielt, aber wie es aussah, mochte sie sie nicht einmal besonders.
Das konnte Malia gut nachvollziehen. Vor allem Meister Eridan war kein Mensch, den man auf Anhieb liebenswürdig fand.
»Damit du dich verteidigen kannst, wenn es darauf ankommt, solltest du mit einem der Zauberer üben. Ich schicke dich erst los, wenn du so weit bist. Dir wird nichts passieren. Hoffentlich. Zu behaupten, dass es nicht gefährlich wäre, würde ich nicht wagen. Doch wenn du dich weigerst oder dich zu sehr fürchtest, werde ich mir etwas anderes überlegen.«
»Ich soll ins Gebirge gehen?«
»Wen könnte ich sonst schicken?«
Oh Götter. »Natürlich gehe ich in die Berge, wenn Ihr es wünscht.« Was sonst sollte sie zur Königin von Berrin sagen? Innerlich jedoch schnappte sie nach Luft. Ihr Götter! Oh Deiara!
Le-Ivas forschenden Augen durchschauten sie, da war sie sich sicher.
Wie klein sie sich fühlte. Wie ganz und gar unfähig.
»Oder wir fangen einen Mönch und zwingen ihn dazu, den Liebestrank einzunehmen. Dann sehen wir, was geschieht.«
»Einen Kriegermönch fangen«, wiederholte Malia skeptisch. Den Mönch aus dem Palast? Ihren Mönch? Es war absurd, so von ihm zu denken, nur weil sie einmal mit ihm geredet hatte.
»Ja, ich weiß, wie das klingt.« Le-Iva lachte verhalten. »Ich werde mit den Zauberern darüber reden, wie man das anstellen könnte. Unser heimlicher Besucher scheidet dafür wohl leider aus. Er ist zu schlau, zu gefährlich. Aber irgendwo da draußen gibt es gewiss einen Mönch, der dumm genug ist.«
Sie war verrückt. Ein so gefährliches und tödliches Wesen wie einen Kriegermönch einfangen zu wollen – das war Wahnsinn.
Doch Malia war nur eine kleine Liebeszauberin. Sie konnte die mächtige Königin nicht an den Schultern packen und sie schütteln, bis sie Vernunft annahm.
»Wenn Deiara dich mir geschickt hat, werde ich dich als meine geheime Zauberwaffe benutzen.« Le-Ivas dunkler Blick war intensiv und entschlossen.
Malia war ihr ausgeliefert, und dazu musste sie noch dankbar sein. Es gab keinen Ausweg. Wem die Königin einen Befehl gab, der musste gehorchen.
Die Kutsche hielt. Zu Malias Überraschung waren sie schon vor ihrem Haus angelangt; zu Fuß hätte sie Stunden in die Südstadt und bis in ihr Viertel gebraucht. »Ich hole meine Sachen. Ich bin gleich wieder zurück.«
Aber Le-Iva wartete nicht. Sie stieg doch tatsächlich mit ihr aus und folgte ihr in den übelriechenden Hausflur und die knarrende Stiege hinauf. Noch nie war Malia der Geruch so schlimm vorgekommen. Noch nie war die Armut so schmerzhaft sichtbar gewesen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür in die Wohnung.
Ihr Vater sprang von seinem Sessel auf. »Malia! Den Göttern sei Dank! Ich wusste doch, es war nur ein Missverständnis. Nie wieder gibst du dich mit diesem elenden Grafen ab!«
Da erblickte er die hohe, dunkel gekleidete Gestalt hinter ihr. »Wie könnt Ihr es wagen, herzukommen!«, blaffte er die Besucherin an. »Reicht es Euch nicht, dass Ihr meine Tochter ins Verderben gerissen habt und jeder sie Hure schimpft? Raus aus meinem Haus!«
Bevor Malia ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machen konnte, trat die Königin hinter ihr ins Licht.
»Verzeiht meinem Vater«, bat Malia hastig, »er hat ja keine Ahnung …«
Nio hatte mittlerweile gemerkt, dass er weder den blonden Grafen noch die edle Dame, wegen der Malia verhaftet worden war, vor sich hatte. Misstrauisch starrte er die Königin an. »Und wen schleppst du jetzt wieder an? Wieder eine Adlige, die uns Unglück bringt? Das dulde ich nicht länger, jetzt, wo Doril erneut seine Absichten bekundet hat. Verlasst auf der Stelle diese Wohnung!«
Malia hatte mehrmals versucht, ihn zu unterbrechen. Es war zwecklos.
»Hört ihm nicht zu«, sagte sie. »Bitte, hört ihm nicht zu, Majestät.«
»Wie redest du denn mit mir?«, fuhr ihr Vater sie an. »Ich stehe Todesängste aus, die ganze Nacht schlafe ich nicht, ich denke, ich sehe dich nicht wieder, und dann kommst du her und bist frech zu mir?«
»Vater«, sagte Malia sanft, »das ist die Königin.«
Nio lachte schrill. »Aber die Königin würde doch nicht … hierher …« Sein Lachen erstarb, während er ihre Begleiterin näher in Augenschein nahm. Vielleicht fiel ihm jetzt die kleine Stickerei auf dem dunklen Mantel auf – der goldene Baum Vandis. Da Le-Iva ihn offen trug, sah man darunter die Tunika, so tiefrot, dass sie schon schwarz wirkte, sanft glänzend aus edelstem Samt, und die schwarz schillernden Beinkleider. Dann war da noch die diamantenbesetzte Schließe des Pelzumhangs und die goldene Gürtelschnalle. Die pelzbesetzten Stiefel oder der schwarze Ring aus einem Stein, den man in Berrin und dem ganzen Berriner Gebirge vergeblich gesucht hätte.
»Äh?«, machte ihr Vater, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, und dann kippte er ohne Vorwarnung um.
Die Königin erwies sich als erstaunlich stark. Statt ihre Wachen hereinzurufen, die auf der Treppe warteten, fasste sie mit an und half Malia, den Bewusstlosen auf die schmale Liege in der Kräuterkammer zu betten. Doch noch während Malia damit beschäftigt war, ihren Vater aufzuwecken, nahte schon das nächste Unheil. Es war, als hätte sich heute alles gegen sie verschworen, um sie vor Le-Iva in Verlegenheit zu bringen.
Diesmal trug es den Namen Doril, und so wie schon ihr Vater ahnte auch der Schneider aus der Nachbarstraße nicht, mit wem er es zu tun hatte. Offenbar war er in der Küche gewesen und hatte Nios besten Likör dezimiert, und seine Augen weiteten sich überrascht, als er sich plötzlich Malia und einer schönen fremden Frau gegenübersah.
Nachdem er eine Weile über den Adel im Allgemeinen und Malias Kundschaft im Besonderen gewettert hatte, wandte die Königin sich mit verblüffter Miene zu Malia um. »Ich wundere mich sehr über deinen Geschmack. Das ist dein Bräutigam?«
»Was? Nein!« Malia hätte beinahe einen Hustenanfall bekommen. »Nur über meine Leiche. Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr Euren Soldaten befehlt, ihm eine Tracht Prügel zu verpassen.«
»Das ist die Dankbarkeit für meine Geduld? Für meine Bereitschaft, dir wieder einmal zu verzeihen?«, schrie Doril. »Und das, obwohl wenn du schon wieder einen geschniegelten Lackaffen mitgebracht hast!«
»Das muss ich mir nicht bieten lassen«, sagte die Königin. »Ich denke, das mit der Tracht Prügel übernehme ich.« Sie verpasste dem Schneider einen Hieb, der ihn gegen den nächsten Sessel warf. Er stürzte mitsamt dem Möbelstück um und rappelte sich auf; seine erschrockene Miene verwandelte sich in Wut. Er stieß einen wilden Schrei aus, stürmte vorwärts und rannte in Le-Ivas Faust. Sie trat elegant einen Schritt zur Seite, bevor er sie umwerfen konnte, packte ihn am Kragen und schleifte ihn zur Tür. Doril wehrte sich und schlug wild um sich, doch Le-Iva ließ sich nicht davon beeindrucken. Sie riss die Tür auf und stieß ihn den Leibwächtern auf der Treppe entgegen. »Dieser Kerl muss sich in einer Zelle beruhigen und sich dort auf seine Manieren besinnen.«
Der Soldat grinste und reichte Doril an den nächsten weiter, der ein paar Stufen tiefer stand.
»Malia!«, schrie der Schneider. »Malia, so tu doch etwas!«
»Majestät! Ich kann gar nicht sagen, wie leid mir das tut«, stammelte Malia. »Er hat Euch getroffen, Ihr seid verletzt!«
Le-Iva befühlte ihr Gesicht und betrachtete ihre blutigen Fingerspitzen. Blut sickerte ihr aus der Nase. »So viel Spaß hatte ich schon seit langem nicht mehr. Aber ich bin aus der Übung. Hast du vielleicht etwas zum Kühlen?«
Malia sah sich hektisch um, dann fiel ihr ein, dass draußen auf der Straße Schnee lag. Sie eilte an den Leibwächtern vorbei die Treppe hinunter und füllte mit beiden Händen Schnee in ein Tuch. Der Kutscher und die anderen vier Soldaten, die vor dem Haus warteten und Doril festhielten, rissen erstaunt die Augen auf, da hastete sie schon wieder nach oben.
Die Königin hielt sich das schneegefüllte Päckchen ans Gesicht. »Verflucht. Das gibt ein blaues Auge.«
»Majestät, ich bin untröstlich«, sagte Malia. »Ich fürchte, ganz zum Verschwinden kann ich es nicht bringen, aber es sollte recht schnell vorbeigehen. Wollen wir wieder fahren? Ich werde Euch im Palast behandeln.«
Der Kampf hatte sie den Grund ihres Aufenthalts hier ganz vergessen lassen. Schnell packte sie ihre Geräte aus der Kräuterkammer sowie ein paar ihrer besseren Kleidungsstücke ein. Für den Palast viel zu einfach, aber zum Arbeiten wollte sie sich wohlfühlen und nicht in Samt und Seide hüllen. Ein Stöhnen auf der Liege verriet, dass ihr Vater wieder zu sich kam.
»Die Königin«, murmelte er. »Habe ich das geträumt?«
»Nein, Vater. Sie ist hier.« Sollte sie ihm erzählen, dass Doril abgeführt worden war? Nicht, dass er ein zweites Mal in Ohnmacht fiel.
Benommen machte er sich auf den Weg in die Wohnstube und erbleichte. Malia verstand gut, warum – es war nicht nur die Königin, die den Eisbeutel an ihr Gesicht hielt. Es waren auch die zerbrochenen Möbel. Der kurze Kampf zwischen Doril und Le-Iva hatte überraschend viel Chaos geschaffen. Unordnung und zerbrochene Dinge waren kral
für Nio.
Sie konnte ihn nicht damit allein lassen. »Ich muss hier noch ein wenig helfen.«
Le-Iva stand im Türrahmen und schaute eine Weile zu, wie sie Holzsplitter zusammenfegte und mit dem kämpfte, was einmal ein Stuhl gewesen war.
»Komm jetzt«, meinte sie schließlich ungeduldig. »Ich werde ein paar Leute herschicken, die das hier in Ordnung bringen. Die Möbel ersetze ich natürlich.«
Sie suchte den Blick ihres Vaters. »Ja? Kannst du so lange warten?«
»Gewiss«, murmelte er. »Ich fühle mich geehrt. So … so unglaublich geehrt.«
Die Königin stieg vor ihr die steile Treppe hinunter und setzte sich in die Kutsche. Wasser tropfte aus dem Tuch, das sie sich gegen die Stirn hielt. Sie stöhnte, als die Pferde anzogen, aber in ihren Augen leuchtete etwas – Schalk und Mut und Abenteuerlust, alles Kinder eines Gefühls, das Malia lange nicht gesehen hatte und doch erkannte: Hoffnung.