30. Im Gebirge
Die Soldaten schwärmten in kleinen Trupps aus. Herzogin Vilja, die Feldmarschallin, stand mit gerunzelter Stirn auf der Mauer, die Hände auf den rauen Steinen.
»Und Ihr seid sicher, dass es der richtige Zeitpunkt ist?«
»Oh ja«, sagte Le-Iva. »Ganz sicher. Ich hab die Kleine hochgeschickt.«
Viljas Miene blieb ernst und angespannt. »Aber Ihr wisst nicht, ob sie Erfolg haben wird.«
»Das hat sie, in eben diesem Moment.«
Die Feldmarschallin schenkte ihr einen schrägen Blick.
»Es wird gelingen. Es muss. Ich habe lange genug gewartet.«
»Ist sie denn ausreichend vorbereitet?«
»Wenn Ihr damit meint, ob sie Bescheid weiß, was passieren wird? Nein. Und das sollte sie auch nicht. Ich weiß, was ich tue, Marschallin.«
»Wir haben so einiges zusammen durchgemacht, daher glaube ich Euch, auch wenn es mir nicht leichtfällt.«
Die Soldaten, die sie den Winter über nach Berrin einberufen hatte, marschierten den Pfad hoch, der zum Pass führte. Dort würden sie sich erneut aufteilen.
»Wir werden keine großen Verluste erleiden«, sagte Le-Iva. Es klang wie eine Prophezeiung. Zu schön, wenn es eine gewesen wäre.
»Ihr wollt gegen einen Gott kämpfen und rechnet nicht mit Verlusten?« Doch Vilja lächelte. Sie hatten all das lang und breit durchgesprochen. Seit Wochen hatten sie geplant und ihre Strategie entwickelt, hatten Pläne wieder verworfen und Schwachstellen ausgemerzt. Für jedes Szenario galt es einen Weg zu finden, für jede Schwierigkeit, die auftauchen könnte, eine Lösung bereitzuhaben. Sie hatten nicht einen Plan, sie hatten Dutzende. Es war wie damals bei der Schlacht am Schwarzen Tor, als sie gegen die Horden aus Arit gekämpft hatten. Schon damals waren sie als Zweiergespann unschlagbar gewesen.
Es war wie damals und es war doch ganz anders. Le-Iva hatte sich seit über zwanzig Jahren auf diesen Moment vorbereitet, ihn herbeigesehnt und ihn gefürchtet. Endlich war er da.
Sie atmete tief aus. »Fürst Cario ist unterwegs?«
Vilja nickte. »Er ist aufgebrochen, sobald ich das Zeichen gegeben habe.«
»Gut.« Es war gut. Es musste gut sein. Wenn nicht, würden sie alle sterben. Dann war es ihre Schuld, ihr Volk in den Untergang geführt zu haben. Sie straffte sich. »Gehen wir.«
Die Marschallin fragte nicht, ob sie es sich anders überlegt hätte. Sie kannten einander. Vilja wusste, dass Le-Iva keinen Rückzieher machen würde.
Die Zauberer hatten Wochen gebraucht, um das Kloster zu finden, doch letztendlich hatte der junge Adept, der fliegen konnte, es bei einer seiner Erkundungswanderungen entdeckt.
Le-Iva hatte die übrigen Zauberer dennoch immer wieder hochgeschickt; die Mönche sollten nicht ahnen, dass man ihr Versteck längst ausfindig gemacht hatte.
Nun schwärmten die Soldaten aus, um den Pass zu bewachen und die Zugänge zu den Dörfern, die dem Orden Tribut zollten, zu blockieren. Die Männer und Frauen waren mit dicken Mänteln und Schneeschuhen ausgerüstet, die hier unten im Tal in der Frühlingssonne übertrieben schienen. Doch bald schon würden sich die Soldaten über die warme Kleidung freuen. Ein junger Adept begleitete jeweils fünfzig bewaffnete Soldaten. Die jungen Zauberer waren nicht so gut wie die Meister, die den Namen ihrer Kraft kannten, doch durchaus dazu fähig, sich gegen die Ordenskrieger zu wehren und den Soldaten beizustehen. Le-Iva beobachtete, wie die Magier unter dem Tor hindurchtraten, aufgeregt, manche sogar vor Erwartung strahlend. Sie hatten nie eine echte Schlacht erlebt, und sie hatten es nie mit Keiorons Dienern zu tun bekommen. Alle ernsten Warnungen hatten nicht viel genützt. Le-Iva konnte nur hoffen, dass die jungen Menschen nicht durch bittere Erfahrung würden lernen müssen, wie sehr sie die Eismönche unterschätzt hatten.
Da sie nicht gleichzeitig aufbrachen, dauerte es Stunden, bis der letzte Soldat und der letzte ihnen zugeordnete Adept um die Wegbiegung verschwunden war. Dann füllte der Hof sich mit erwachsenen Zauberern. Die Männer und Frauen, die das Archiv geschickt hatte – die besten, zum Kampf bereiten Magier und einige ausgewählte Adepten mit besonderen Fähigkeiten.
Sie waren hier, um unendliche Reichtümer zu erlangen. Für sich und für das Archiv. Nur deshalb hatten sich die Meister an den Verhandlungen mit der Königin von Berrin interessiert gezeigt. Sie würden alle gewinnen – oder alle gemeinsam untergehen.
Eridan trat an die Spitze der Schar aus grimmig schweigenden Magiern. Sie waren weiß gekleidet, wie es üblich war, und hatten auch bei ihren Mänteln, Pelzhauben und Stiefeln Sorgfalt wirken lassen. Alles, was sie trugen, war weiß. Manche hatten sich sogar das Gesicht gepudert oder trugen Masken aus weißem Leder. Sie würden jeden Vorteil nutzen, der sich ihnen bot.
Le-Iva stieg die Stufen von der Wehrmauer hinab und trat vor die versammelte Schar.
»Wir beginnen mit dem Aufstieg. Jeder von euch sollte dafür gerüstet sein.«
»Das sind wir«, sagte Meister Eridan mit einem nachsichtigen Lächeln. Nichts konnte diesen Mann erschüttern.
»Gut.« War es ihre eigene Aufregung, die ihr das Sprechen so schwer machte, oder die Energie, die in der Luft vibrierte, die Magie, die darauf wartete, entfesselt zu werden? »Dann brechen wir auf.«
»Ein letztes Mal ...«, begann Eridan.
»Ich komme mit. Dies ist meine Schlacht.«
»Seid Ihr sicher, dass Prinz Tagoron aus dem Weg geschafft wurde?«
»Es ist alles bereit«, sagte sie kühl. »Wie ich es versprochen habe.«
Während sie durch das Tor marschierten, blickte sie zurück. Nara stand an einem der Fenster und blickte hinaus; ein blasses Gesicht, umrahmt von silbernem Haar. Zu gerne hätte Le-Iva sie gebeten, mitzukommen, aber dies war nicht Naras Kampf. Es war ganz allein ihrer.
***
Sie hätte nicht mitkommen sollen. Wie konnte eine Königin so leichtsinnig sein, so verrückt, eine solche Mission nicht nur zu planen, sondern sogar an ihr teilzunehmen?
Die Königin von Berrin trug Wollhosen und derbe Stiefel, die sich für das raue Gelände und den Schnee eigneten, darüber einen knielangen Mantel, eine Pelzmütze und Handschuhe. In dieser Kleidung, die sie nicht von dem Rest der Gruppe unterschied, wirkte sie nicht wie ein Adlige, die in einem Schloss wohnte, sondern wie die anderen auch. Eine Soldatin, bereit zum Kämpfen.
Galahar hätte nicht sagen können, was ihn daran so sehr irritierte. Dass sie mit den kampferfahrenen Männern und Frauen Schritt hielt? Es war allgemein bekannt, dass Le-Iva bereits in mehreren Schlachten gekämpft hatte. Mittlerweile hatte Galahar herausgefunden, dass Le-Iva auch keine Hemmungen im Umgang mit Zauberern hatte und keine Ehrfurcht vor der Kraft. Dass sie sich mit Eridan unterhielt, als wären sie Freunde, obwohl jeder wusste, dass der Meister keine Freunde hatte. Dass sie keine Angst zu haben schien – weder vor dem Berg noch vor den Eiskriegern, denen sie zwangsläufig begegnen würden, und nicht einmal vor einem Gott.
Man hätte sie nicht die Königin der Tränen nennen sollen, sondern die Königin des Wahnsinns.
Galahar konnte nicht verhindern, dass seine Blicke immer wieder zu Le-Iva wanderten, die in der Mitte der Zauberer den steinigen Pfad entlangmarschierte. Rechts von ihnen ging es steil hinunter in eine Schlucht, links ragte die Felswand nahezu senkrecht in die Höhe. Er selbst war einer der wenigen, die sich wegen der gefährlichen Wanderung keine Sorgen zu machen brauchten. Die Magie in ihm flüsterte leise, wie sie es manchmal tat, wie eine Stimme, die aus weiter Ferne versuchte, ihm etwas zu sagen. Manchmal schien sie zu singen, manchmal rief sie ihm Warnungen zu, manchmal brüllte sie ihn an.
Diesmal sollte es vermutlich eine Warnung sein. Er war sich nicht sicher. Im Gegensatz zu anderen Magiern, die darin weitaus begabter waren, hatte Galahar sich schon immer schwer damit getan, die Stimme der Magie zu deuten.
Während die Soldaten die Pässe besetzten und die Wanderpfade höher hinaufmarschierten, schlugen die Zauberer einen anderen Weg ein. Sie stiegen an einer Stelle hoch, die selbst für die besten Kletterer zu gefährlich war. Aus dieser Richtung würden die Eiskrieger niemanden erwarten. Das hoffte Galahar jedenfalls. Er hatte keine Ahnung, ob der Gott seine Diener warnen würde, dass Feinde sich näherten, oder ob er zu beschäftigt war, um sich um einen kleinen Orden in den Bergen zu kümmern. Womit auch immer sich die Götter beschäftigten.
Eiskalter Wind wehte ihnen ins Gesicht. Es war eine schlechte Idee, sich die Mütze tiefer über die Augen zu ziehen, denn der Pfad entlang der Felswand wurde immer schmaler und gefährlicher. Er und seine Mitstreiter gingen jetzt nur noch hintereinander. Der Schnee verbarg alle Stolperfallen wie lose Steine oder Löcher im Felsen. Hin und wieder war das Gestein gefährlich vereist, und direkt daneben drohte der Abgrund.
Es wäre sinnvoll gewesen, ihn vorgehen zu lassen, auch wenn Galahar bloß Adept war und dies sein erster richtiger Einsatz war. Schließlich hatte er das Kloster gefunden. Außerdem war er der Einzige, der nicht abstürzen konnte. Selbst wenn er fiel oder ausrutschte, würde er nicht sterben. Doch natürlich musste Eridan den Trupp anführen. Was auch sonst.
Galahar hätte es ihm gegönnt, zu stolpern. Der Mann war einfach zu überragend. Arrogant gegenüber jedem, ganz gleich wem. Sogar der Königin gegenüber benahm er sich unverschämt. Als könnte nichts und niemand ihn jemals beeindrucken oder gar besiegen.
»Wirst schon sehen«, murmelte Galahar, was ein Fehler war, denn seine trockenen Lippen platzten auf. Er schmeckte das Blut auf seiner Zunge. Jedes Luftholen war wie eine Strafe. Die Kälte laugte ihn aus, sie fraß ihn von innen. Er zitterte nicht einfach bloß, er schlotterte so stark, dass es ihn schüttelte, und um ein Haar wäre er gefallen. Gerade rechtzeitig hielt er sich an der Schulter der vor ihm gehenden Zauberin fest.
Sie grunzte etwas, aber Galahar schaffte es nicht einmal, eine Entschuldigung zu murmeln.
Endlich wurde der Pfad breiter. Die Felswand wölbte sich über ihnen und verschlang den halben Himmel. Es hatte etwas Erdrückendes an sich. Tonnen und Abertonnen von Gestein. Der Berg konnte sie zermalmen.
Aber er würde es nicht. In ihrer Truppe waren zwei oder drei Magier, die Steine bewegen konnten. Sie würden nicht zulassen, dass sie unter einer Masse von Fels begraben wurden.
Jedenfalls hoffte Galahar inständig, dass ihre Macht groß genug dafür war. Sie waren Meister, einer von ihnen ganz bestimmt. Die Frau hatte er im Archiv einige Male gesehen, wenn er auch nicht viel Kontakt mit ihr gehabt hatte. Jeder Adept lernte für sich. Und die Meister ... nun, sie unterstützten die Adepten, so gut sie es vermochten, aber sie behielten ihre Geheimnisse für sich. Niemand wollte riskieren, dass ein anderer Zauberer die für einen selbst bestimmten Kraftfäden stahl.
Auf der Plattform, die sich unter den überhängenden Felsen breitete, versammelten sich die Zauberer.
»Adept Galahar.«
Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, wer gesprochen hatte. Und dass er gemeint war. Die Königin. Oh, verdammt.
»Ja, Eure Majestät.« Seine Zähne klapperten gar nicht mehr so sehr.
»Ihr seid an der Reihe«, sagte sie. »Das Seil?«
Einer der Zauberer wuchtete das aufgerollte Seil von seinem Rücken. Ob er über einen Tragezauber verfügte, der jede Last leicht machte? Das wäre eine äußerst praktische Kraft.
Es gab Zeiten, in denen Galahar andere Magier um ihre Fähigkeiten beneidete. Er konnte exakt zwei Dinge – fliegen und Schildkuppeln errichten, und damit kam man nicht weit. Im übertragenen Sinn.
Es wäre jedenfalls wünschenswert gewesen, wenn er zugleich magisch stark gewesen wäre. Das Seil war erschreckend schwer, er konnte es kaum halten, geschweige denn damit fliegen.
»Nehmt nur ein Ende in die Hand, Adept«, wies ihn die Königin an. »Und seid auf alles gefasst.«
»Jawohl, Eure Majestät.« Erst da fiel ihm ein, dass sie besprochen hatten, Le-Ivas Titel nicht zu benutzen, um sie nicht zur Zielscheibe für die Mönche zu machen, falls diese in der Nähe lauerten. Diese verdammte Kälte! Er hatte es vergessen. Es war so schwer, in dieser Kälte auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Und es war unerwartet schwer, zu fliegen.
Wäre Galahar nicht bereits durch die Berge geflogen, er hätte gedacht, seine Kraft würde ihn im Stich lassen. Es war, als würde ihn die Kälte so stark lähmen, dass er nicht einmal mehr die Willenskraft aufbrachte, die Kraft in sich zu sammeln und die Füße vom Boden zu lösen. Es war, als wäre die Magie, die in ihm wohnte, nicht mit dem Eis und dem Schnee glücklich. Als wäre das Flüstern in ihm der Ruf nach etwas anderem. Nach Wärme und Sonne, nach der glitzernden Fläche des Sees zu Füßen der Weinberge.
Nein, er würde nicht versagen. Man hatte ihn hergeschickt, und er würde die Meister nicht enttäuschen.
Den Namen, den er hätte anrufen müssen, kannte er immer noch nicht, aber ihm war, als würde die Kraft davon flüstern, von jenem Namen, von der Sonne, von etwas Leuchtendem, das in ihm wohnte. Und er flog. Er packte das Seil, so fest er konnte, und flog. Die anderen Zauberer beobachteten ihn, während er dem überhängenden Felsen auswich, ihre Augen gerötet vom Wind und der Kälte, aber er meinte, Neid darin zu lesen. Fliegen zu können war einzigartig.
»Beeil dich«, knurrte Eridan, und das brachte das Aufwallen von Glück, das Galahar eben noch empfunden hatte, schlagartig zum Erliegen.
Doch er flog immer noch. Er spürte die Luft unter seinen Füßen so fest werden wie eine Treppe, und er stieg die unsichtbaren Stufen hinauf, während er sich selbst so leicht und frei fühlte wie eine Seifenblase. Der Wind wehte immer stärker, je höher er stieg, es war so kalt, dass seine Lungen schmerzten, aber er richtete den Blick starr auf sein Ziel, auf die obere Kante der Felswand. Sobald er sie erreicht hatte, zwang er sich, langsamer zu werden. Zuerst musste er prüfen, ob die Luft rein war. Wenn er auch noch das Talent besessen hätte, sich unsichtbar zu machen ... Aber man konnte sich leider nicht aussuchen, wozu die Kraft einen befähigte.
Alles war still. Vor ihm lag eine glänzende Schneeschicht, makellos glatt wie der See, wenn nicht das leiseste Lüftchen wehte. Und dort, direkt vor der schroffen Bergflanke, die wie eine raue Fischflosse aus dem Schnee ragte, stand das Kloster. Es war teilweise in den Berg hineingebaut, die Türme so hoch, dass man kaum glauben mochte, dass dies von Menschenhand geschaffen worden war. Es war das Werk von Magie. Oder gar das Werk eines Gottes, der den Berg nach seinem Gutdünken geformt und die Steine mit seinen eigenen Händen zusammengefügt hatte. Es wirkte nicht bloß einschüchternd, es war wie eine Drohung, die Ankündigung des Unheils. Galahar war zum zweiten Mal hier, dennoch war es ein Anblick, an den er sich nie gewöhnen würde. In den vergangenen Wochen hatte er sich manchmal gewünscht, dass er dieses monströse Bauwerk nur geträumt hatte, dass es sich nicht wirklich hier oben befand, ein Albtraum aus Kälte und Stein.
Es war nicht bloß ein Gebäude, es war ein Ort des Grauens. Es war kral , und seine Augen schmerzten davon.
Galahar schluckte. Er musste sich konzentrieren, sich nicht von seinem Entsetzen ablenken lassen. Von den Kriegern war nichts zu sehen. Offenbar war der Plan erfolgreich gewesen, sie hatten die Mönche in die Irre geführt und diese waren allesamt unterwegs, um die Soldaten abzufangen.
Nun galt es, das Seil zu befestigen. Es gab keinen Felsbrocken, an dem er es hätte festknoten können. Das hatte er Le-Iva und Eridan längst erzählt. Er musste es mit einem Schild fixieren.
Wann hätte ein Magier je etwas Ähnliches auch nur versucht?
Der Name der Kraft hin oder her ... Er war fähiger als jeder andere Adept. Sie würden ihm den Titel eines vollwertigen Magiers verleihen, wenn dieser Tag erfolgreich verlief. Sie mussten. Ohne ihn, Adept Galahar, wäre der Sieg unmöglich.
Er hielt das Seil fest, während er sich auf den Schild konzentrierte und gleichzeitig versuchte, den Anblick des gigantischen Klosters auszublenden. Es war eine kniffelige Angelegenheit. Für gewöhnlich durchdrangen die Schildwände jeden Widerstand, bis sie auf den Boden trafen, wo sie fest auflagen, ganz gleich, wie rau und uneben das Gelände sein mochte. Der Schnee war nicht das Problem, die unsichtbare Kuppel würde durch ihn hindurchgehen wie ein heißes Messer durch Butter. Doch er musste verhindern, dass die Schutzwand auch das Seil einfach zerteilte; sie sollte es festhalten, nicht in Stücke schneiden. An dieser Stelle musste die Magie das Seil fest an den Boden pressen, ohne dass Schnee und Eis die Sicherheit behinderten. Das verlangte wahres Können. Er hatte es im Garten der Königin geübt, doch hier auf dem Berg, umtost vom kalten Wind, in Sichtweite des Klosters, kam es ihm vor, als wäre er ein blutiger Anfänger.
Seine Finger ließen sich kaum biegen, das Seil wollte ihm durch die Handschuhe gleiten, und seine Augen tränten. Er wollte nur schnell damit fertigwerden und die anderen Zauberer an seiner Seite haben, bevor ihn die Eismönche entdeckten. Bestimmt waren noch welche in der Nähe, die Wache hielten, die ihn längst beobachteten, die auf den richtigen Zeitpunkt warteten ... Oh Götter. Er war so gut wie tot. Und die gesamte Mission wäre gescheitert.
Die Kuppel war klein, kaum größer als eine umgestülpte Schüssel. Sie war nur zu sehen, weil sie durch den Schnee schnitt. Galahar zog an dem Seil, erst zaghaft, dann kräftiger. Und hielt das ausgefranste Ende in der Hand.
Noch einmal.
Er durfte nur nicht daran denken, dass sie alle sterben würden, wenn er seine Aufregung nicht in den Griff bekam. Er sollte jetzt nicht an das Kloster denken und an die Eiskrieger, die ihn in kleine Stücke schneiden würden. Es hieß, dass sie töteten, ohne dass man es überhaupt mitbekam – wenn sie gnädig waren. Wenn nicht, konnten sie einen Menschen Tage oder gar Wochen lang leiden lassen. Sie ließen ihr Opfer nicht sterben, selbst wenn es darum bettelte.
Die Vorstellung ließ ihn schwitzen, die Magie in ihm flammte auf, und da war sie, die perfekte Kuppel, groß wie er selbst, ein vollkommener Kreis im Schnee. Das Seil ragte daraus hervor wie eine Schlange. Er zog und zerrte daran, aber es hielt.
Endlich.
Bald darauf erschienen die Zauberer. Sie mussten nicht jeder für sich mühsam hochklettern, was von behäbigen Magiern aus der Stadt am See wohl auch kaum zu erwarten gewesen wäre. Einer von ihnen – Ginar? – verfügte über die Kraft, Dinge leichter zu machen, und ließ die Zauberer leichtfüßig nach oben schweben. Sie mussten sich nur an dem Seil festhalten, um vom Wind nicht über die Schlucht getragen zu werden, und sich nach oben hangeln. Für Galahars Geschmack dauerte es viel zu lange, bis auch der Letzte oben angekommen war. Er behielt das freie Schneefeld die ganze Zeit über im Blick. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er eine Schutzkuppel über ihnen allen errichtet, doch dafür waren sie nicht hier. Die Königin plante einen Angriff, und sich zu verstecken kam nicht in Frage.
Er wünschte sich, er wäre mutiger. Ein kämpferischer Mann, so wie Eridan, der ohne zu zögern alle anderen Magier um sich sammelte und voranging. Galahar konnte Eridan nicht leiden, aber das änderte nichts daran, dass er ihn bewunderte. Allerdings waren seine Fähigkeiten einzigartig. War Tapferkeit auch dann noch eine lobenswerte Eigenschaft, wenn man über eine immense Kampfkraft verfügte, oder bloß selbstverständlich?
Die Schutzkuppel ließ er bestehen, während er den anderen durch den Schnee folgte. Sie würden das Seil für den Rückweg brauchen – oder für den schnellen Rückzug, falls nötig. Selbst wenn er nicht zurückkehren sollte, würde die Kuppel lange genug halten, um seinen Mitzauberern und der Königin zu dienen. Sie würde monatelang bestehen bleiben, wenn nicht gar ewig.
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Sie hinterließen kaum Spuren, da der Leichtigkeitszauber immer noch wirksam war, und bewegten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit vorwärts. Schon nach kurzer Zeit blieb Galahar weit hinter den anderen zurück, denn im Gegensatz zu ihnen sank er bis zur Hüfte ein. Ginar drehte sich zu ihm. »Probleme, Adept?«
Dieses finstere Lächeln. Als ob Galahar nicht eben noch das Seil befestigt hätte. Tausend Götter, er hatte diese Mission erst möglich gemacht!
»Ich dachte, du kannst fliegen?«
»Ja, aber ...«
Aber nicht jetzt. Er war erschöpft von der Konzentration auf den Schild, von der Angst, die mit leisen Schritten näher kroch, ihn umkreiste, ihn wie ein wildes Tier verfolgte. Immer, wenn er den Kopf wandte, schien etwas da zu sein, ein Schatten huschte aus seinem Sichtfeld.
Es war, als hätte die Angst eine Gestalt.
»Ich kann dir helfen«, sagte Ginar, dessen Lächeln breiter wurde, und im nächsten Moment fühlte Galahar, wie sein Körper leicht wurde. Es war anders, als wirklich zu fliegen. Wenn er das tat, schien die Luft unter ihm fest zu sein, sodass er auf ihr gehen konnte wie auf einer Straße oder einer Treppe. Dies hier veränderte sein Körpergefühl. Es war so seltsam, dass er auf die Knie fiel, seine Hände sanken in den Schnee, jedoch nicht tief. Vorsichtig, mehr als vorsichtig, richtete er sich wieder auf.
Die Angst floh aus seinem Blick, sie wartete irgendwo hinter ihm.
Ginar rannte hinter den anderen her, sein heller Mantel flatterte im scharfen Wind. Die anderen Zauberer hatten die Mauer, die das Kloster umgab, schon beinahe erreicht.
Galahar fasste sich ein Herz. Wenn es noch irgendwo Sicherheit gab, dann bei seinen Mitstreitern. Er traute der Stille nicht, genauso wenig wie dem singenden Wind oder dem Knistern des Schnees unter der goldenen Sonne. Es war nicht zu glauben, dass die Mönche ihr Kloster völlig unbewacht zurückgelassen hatten.
Da war schon das Tor. Es stand weit offen.
Eine Fahne knatterte laut. Eine Blume in Rot – nein, eine Eisblume.
Und unter dem Fahnenmast warteten die Mönche. Es waren nur fünf, aber Galahar spürte, wie ihm das Blut in den Adern stockte.
Fünf Männer, die nur leichte Gewänder trugen, keine Pelzmützen, keine Handschuhe, keine Stiefel. Sie hatten Umhänge über ihren Hosen und gegürteten Tuniken, und sie waren barfuß. Er hätte sich nichts Bedrohlicheres vorstellen können als diese fünf Eiskrieger mit ihren kahlen Schädeln und ihrem grausamen Lächeln.