32. Einen Zauberer täuschen
»Wie bitte?«, fragte sie. »Ich glaube, ich habe dich falsch verstanden.«
»Oh, ich glaube, du hast mich sehr wohl verstanden.«
»Du bist ein Mönch.«
»In der Tat, das bin ich. Ein Diener des Eisgottes. Über den die meisten Menschen recht wenig wissen. Und ich sagte bereits, es wird dir nicht gefallen.«
»Warum überrascht mich das nicht? Heute ist noch recht wenig passiert, was mir irgendwie gefallen hätte.«
Er sah sie wieder so an. Sie hätte sein Lächeln schmerzlich genannt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Kriegermönche keine Gefühle hatten.
»Wir müssen den Zauberer glauben machen, dass du tot bist und ich meine Kraft verloren habe«, sagte er. »Das könnte ihn dazu bewegen, den Schild fallen zu lassen. Wenn er denkt, dass ich keine Gefahr mehr für ihn darstelle … Er ist grausam und hinterhältig, wie das hier«, seine Hand beschrieb einen Bogen, »beweist, also besteht sogar die Möglichkeit, dass er mich nicht ersticken lässt, sondern mir entgegentritt, um es … auszukosten.«
Für einen seiner Sorte musste es unfassbar sein, dass jemand das Sterben seiner Opfer genüsslich beobachtete. Kriegermönche töteten so schnell, hieß es, dass man noch eine halbe Meile laufen konnte, bevor man merkte, dass man tot war.
»Du weißt«, fragte er leise, »was einen Kriegermönch von Keioron trennt?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Wenn man ihm ungehorsam ist«, erklärte er. »Wenn man seinen Eid bricht. Aber die meisten Menschen glauben, dass passiert, wenn einer von uns eine Frau berührt.«
»Und das, ähm, stimmt nicht?« Das hatte auch Le-Iva behauptet. Trotzdem war es etwas ganz anderes, es aus seinem Mund zu hören.
»Nein«, sagte er. »Wir verlieren sie nur, wenn unser Herz dabei ist. Nicht, wenn wir Gewalt ausüben, Herzen brechen, betrügen oder falsche Versprechungen machen.«
»Und du meinst, das weiß der Zauberer nicht.«
»Woher soll er es wissen?«
Sie dachte an die Stunden, die er in ihrem Zimmer zugebracht hatte. Auf dem Sessel, seine Stimme dunkel und seidig in der Nacht.
»Hast du das mit mir vorgehabt? Mir falsche Versprechungen zu machen? Mir das Herz zu brechen?«
»Nein«, sagte er.
»Das würde jeder Betrüger sagen.«
»Nein«, wiederholte er. »Nein, ich würde nie ... nein. Ich hatte nie vor, dir Schaden zuzufügen.«
Glaubte sie ihm? Glaubte sie ihm nicht? Es spielte keine Rolle. Sie mussten möglichst rasch einen Weg finden, den Feind von ihrem Tod oder seiner Hilflosigkeit zu überzeugen.
»Das Herz Keioron geopfert«, murmelte er, »den Leib Keioron geweiht … aber der Zauberer wird es durchaus menschlich finden, wenn ich meine letzten Stunden mit dem versüße, was ich niemals hatte.«
»Aber …«
Sein Blick war so intensiv, dass sie instinktiv zurückweichen wollte.
»Es wäre eine Lüge, dass mein Herz nicht daran beteiligt ist.«
Was bewirkte, dass ihr Herz stolperte. »Ist das so?« Er war nicht in sie verliebt. Das war völlig unmöglich. Er besuchte sie in ihrem Zimmer im Palast und redete mit ihr über Belanglosigkeiten, weil ... weil ... Ihr fiel kein Grund ein, warum er das tun sollte. »Aber dann verlierst du deine Kraft ja doch.«
»Ich werde meine Kraft nicht verlieren«, sagte er leise. »Nicht, wenn wir unser Schauspiel so aufführen, dass es sowohl den Zauberer als auch meinen Gott überzeugt.«
»Und was soll das heißen?«
»Keioron sieht, was vor Augen ist. Er bewertet unsere Taten, unsere Worte. Was wir denken, was wir fühlen, was wir wirklich glauben, das kann er nicht wissen. Es macht ihn wütend, vielleicht macht es ihm sogar Angst, aber in der Hinsicht ist er blind. Er kann meine wahren Gefühle nicht lesen.«
Was sind deine wahren Gefühle?, hätte sie am liebsten gefragt, aber sie wagte es nicht. »Also musst du so tun, als wäre ich dir gleichgültig.«
»Und du musst so tun, als würdest du mich hassen.«
»Ich soll also ... schreien und mich wehren und dich schlagen? So in etwa?«
Er nickte. Glücklich sah er nicht aus. »Ja, so in etwa. Wenn seine Diener einer Frau Gewalt antun, nimmt Keioron das als Opfergabe an.«
Heißer Zorn stieg in ihr auf. »Beim Himmel, das ist das Letzte, was ich von einem Mönch erwartet hätte! Wenn du es wagst, mich anzufassen, bringe ich dich um, das schwöre ich!« Sie zwang sich dazu, nicht zurückzuweichen. Ahnte er, wie gering ihre magischen Kräfte tatsächlich waren? Er hatte ihre kümmerlichen Versuche, eine Kuppel zu erschaffen, mitangesehen. Wenn er sie zu Boden zwingen wollte, konnte sie ihm nichts entgegensetzen. »Tut ihr das öfter? So lebt ihr Mönche also! Bei den Göttern, ihr seid ja noch schlimmer, als ich dachte!«
Er wurde glühend rot. »Ich habe nicht einmal im Traum daran gedacht. Es kommt äußerst selten vor. Es ist … eine Art Geheimnis des Ordens.«
»Verschwinde! Fass mich nicht an!«
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Hab keine Angst, Malia. Ich tue dir nichts, das solltest du mittlerweile wissen. Und wir müssen nicht ... nicht richtig. Ich meine, wir müssen es nicht tun. Es muss nur so aussehen, für den Zauberer. Er soll glauben, dass ich ungehorsam war und keine Kraft mehr habe. Wir können diesen Plan nur ausführen, wenn du einverstanden bist. «
»Einverstanden?«, fuhr sie ihn an. »Ich soll mit so einem blödsinnigen Plan einverstanden sein?«
»Blödsinnig ist er nicht«, sagte er. Sie konnte fühlen, wie seine Verlegenheit in Zorn umschlug, obwohl er kaum lauter wurde. »Unangenehm, vielleicht. Schockierend, sicherlich. Aber blödsinnig? Hast du eine bessere Idee, Zauberin? Dann nur heraus damit.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen, Entschuldigung!«, fauchte sie ihn an.
»Es muss nur so aussehen«, wiederholte er.
Wenn er nicht so schuldbewusst und unbehaglich dreingesehen hätte, wäre es ihr viel gerechter vorgekommen, ihm unlautere Absichten vorzuwerfen. So jedoch hatte sie das Gefühl, dass sie wertvolle Zeit verstreichen ließ.
In wenigen Stunden würde die Luft knapp werden.
Er hätte sie einfach töten können, um selbst länger zu leben. Doch das würde er nicht; er dachte nicht einmal darüber nach. Ihr wurde bewusst, dass sie ihm vertraute. Er machte diesen unglaublichen Vorschlag nicht, um unter ihre Kleider zu gelangen, sondern weil es wahrscheinlich wirklich die einzige Möglichkeit war, den Zauberer dazu zu bewegen, die Kuppel aufzuheben.
»Na gut«, sagte er müde. »Es ist nicht einmal sicher, dass es klappen würde. Vielleicht würde der Feind uns nur zusehen und gar nichts unternehmen. Er muss uns nicht eigenhändig töten. Das erledigt der Schild ganz allein.« Er setzte sich auf den harten Boden, die Arme auf die Knie gestützt.
»Ich dachte, du bist so schwer umzubringen?«
»Ich weiß nicht, wie lange ich durchhalten kann. Woher soll ich das wissen? Wenn nur du stirbst und ich nicht ... Er kann mich einfach ewig hier drinnen lassen.«
»Würde dein Gott dir nicht helfen?«
»Ja«, sagte er. »Davon gehe ich aus, solange ich nichts getan habe, was ihn erzürnt.«
Also würde nur sie sterben.
Der Vorschlag, den er ihr gemacht hatte, dieses unerhörte Ansinnen – das war, um sie zu retten. Er riskierte, seine Kraft tatsächlich zu verlieren, um sie aus dieser Kuppel herauszuholen.
»Der Zauberer wird eventuell darauf hereinfallen«, meinte sie, »aber ich bezweifle sehr, dass du Keioron etwas vorspielen kannst. Wenn ich einverstanden wäre – was ich natürlich nicht bin –, würde er es doch wissen, dir deine Kraft nehmen, und wir wären nicht besser dran als zuvor. Es sei denn …« Der Gedanke kam ihr gerade. »Wenn der Zauberer mich für tot hält und dich für schwach und die Kuppel auflöst …«
Dann war es egal, ob der Mönch stark war oder nicht. In einem Duell gegen den Zauberer konnte sie gewinnen, wenn es ihr gelang, seine eigene Kraft auf ihn zurückfallen zu lassen. Er musste nur den Schild aufheben, musste nur glauben, dass er auf keinen Gegner treffen würde …
Bei Deiara, es war tatsächlich ein guter Plan. Und was hatten sie zu verlieren?
Oh Deiara, hilf mir!, betete sie im Stillen, dann fiel ihr ein, dass Deiara die falsche Göttin war, um sie in einer solchen Situation anzuflehen. Deiara würde es nur zu gut gefallen, wenn sie Keioron einen seiner Diener abspenstig machte, und wenn es auch nur für wenige Augenblicke vor seinem Tod war.
Als Nächstes erinnerte sie sich daran, dass sie vorhin noch darum gebetet hatte, in den Armen eines Mannes sterben zu dürfen. Dabei hatte sie jedoch nicht an den Mönch eines finsteren Gottes gedacht! Oh, diese Götter! Hörten sie eigentlich jemals richtig zu? Musste man ihnen immer alles ganz genau erklären, damit sie es begriffen? Sie war eine Liebeszauberin. Malia wollte nicht irgendwen, sie wollte einen Geliebten!
»Ich habe Angst«, sagte sie leise.
»Es muss nur so aussehen«, wiederholte er. »Wir müssen nur so tun, als ob.«
Na gut. Viel Auswahl hatte die Göttin nicht gehabt, hier unter dieser magischen Kuppel, aus der es kein Entkommen gab.
Er war ... schön.
Tatsächlich. So schön wie seine Stimme. So schön wie seine Hände.
Das letzte Geschenk der Göttin für ihre Dienste?
Was für schöne Augen er hatte … Graf Felias würde ihn bestimmt hübsch finden. Er würde sich nicht so zieren, kein Zweifel, sondern sämtlichen Göttern des Himmels danken.
Und sie würde wenigstens nicht als alte Jungfer sterben. Andererseits ... er hatte gesagt, sie müssten nur so tun, als ob. Was bedeutete das? Was würden sie tun? Was mussten sie tun, um nicht zu sterben?
Wie komisch es war, über sein eigenes Sterben nachzudenken. Wie unwirklich alles wurde. Wie unwichtig. Sie würden sterben. Jeder in seiner Ecke, wenn man davon absah, dass es in diesem Rund keine Ecken gab. Oder … oder anders.
Er fuhr sich über die Wangen und blickte von ihr fort auf die schimmernde Oberfläche der Kuppel.
Er hat Angst, dachte sie plötzlich. Er hat genauso viel Angst wie ich … Es ist eine Lüge, dass Kriegermönche nichts fühlen können. Er will nicht sterben, ausgeliefert an einen Feind, der über unser Schicksal bestimmt. Er will kämpfen, bis zum letzten Atemzug. Auf einmal empfand sie Mitleid mit ihm.
»Wenn es nicht klappt, wirst du ohne deinen Gott sterben.«
»Nein«, widersprach er. Er flüsterte, sodass sie ihn kaum verstehen konnte. »Wenn du gut schauspielerst, breche ich keins seiner Gesetze.«
»Aber die Götter sehen ins Herz.«
Er lachte spöttisch. »Keioron interessiert sich für niemandes Herz. Gib ihm Tränen und Blut und Geschrei, und er ist zufrieden.«
Ihr wurde kalt. »Wie kannst du nur so einem fürchterlichen Gott dienen?«
Darauf gab er ihr keine Antwort. Eine Weile stand er da, reglos, düster, dann wandte er sich ihr wieder zu.
»Und? Hast du dich entschieden?«
Sie schluckte. Wenn ihr Vater sie verheiratet hätte, wäre es dann nicht ganz ähnlich gewesen? Man hätte sie mit einem Fremden in ein Zimmer gesperrt. Wenn nicht mit Doril, dann mit jemand anders … Und doch hatte sie immer gehofft, eines Tages jemanden zu finden, den sie aufrichtig lieben konnte. Sie hatte unzählige Geschichten über die Liebe gehört und über das Begehren. So kompliziert und doch so einfach …
Aber hier ging es nicht um Liebe. Nur ums Überleben. Nur ums Gewinnen, nur ums Entkommen.
Oder darum, in den Armen eines Menschen zu sterben statt allein …
Wenn sie den Zauberer nicht täuschen konnten, würde sie wenigstens nicht sterben, ohne zu wissen, wie es war. Ohne das, worin sie andere beriet, selbst erlebt zu haben.
Wie er wohl mit Haaren ausgesehen hätte?
Wenigstens konnte man so seine Ohren sehen. Schön geformte Ohrmuscheln, das musste man ihm lassen. Sie registrierte jede Einzelheit. Seine dichten Brauen, seine dunklen Augen, sein Mund … Der weite Umhang verbarg seine Gestalt. Er war einen Kopf größer als sie. Wenn er ruhig dastand, gelang es ihr beinahe, zu vergessen, wie schnell er sich bewegen konnte.
Ihm entging die genaue Musterung nicht, der sie ihn unterzog, und wieder war da dieses seltsame Lächeln, das ihre Erwartungen nicht erfüllte. Nicht kalt, nicht höhnisch, nicht mordlustig, sondern … unsicher. Auf eine Art unsicher, die ihn erschreckenderweise viel menschlicher machte, viel männlicher.
Er hatte sie nicht besucht, um sie im Auftrag seines Gottes zu vernichten. Er war in ihr Zimmer gekommen, um ihre Katze zu streicheln und mit Malia zu reden und Nähe zu finden.
Er investierte sein Herz.
»Es macht nichts, wenn du mich abstoßend findest«, sagte er, nachdem sie ihn etwas zu lange gemustert hatte. »Das wird unsere kleine Vorstellung nur umso überzeugender machen. Fangen wir an?«
Nein, wollte sie antworten, aber sie sagte: »Na gut.«
Das vage Lächeln verschwand. Seine Augen waren dunkel und intensiv.
»Na los«, zischte sie, »zeigen wir dem Schweinehund, dass wir schlauer sind als er.«
Und jetzt würde es also geschehen. Er würde sie an sich reißen und dann hier auf dem kalten, harten Boden … Nun denn.
Sie wich vor ihm zurück. »Nein! Oh, lasst mich!«
Wirkte es glaubhaft? Würde der Zauberer darauf hereinfallen?
Das Gesicht des jungen Mannes war schwer zu deuten, eine ausdruckslose Maske. Wann hatte sie angefangen, einen Mann in ihm zu sehen und nicht bloß einen Mönch?
»Dann wollen wir mal unsere letzten Stunden so angenehm wie möglich verbringen«, sagte er laut, als könnte der Feind ihn hören. Aber vielleicht las der Zauberer die Worte von ihren Lippen ab? Nein, dazu war die Sicht zu verzerrt. Das diente einzig und allein dazu, sich besser auf ihr ungewöhnliches Schauspiel einzulassen.
»Ohne mich!«, rief sie, und dachte gleichzeitig: Was sind wir doch für schlechte Schauspieler, das glaubt uns kein Mensch. Ich glaube es ja selbst nicht wirklich. Der Mönch zögerte immer noch. Letztendlich würde er sich vielleicht gar nicht trauen, sie anzufassen. Er hatte sich überschätzt.
Trotzig blieb sie stehen, und er baute sich vor ihr auf und sah auf sie herunter. Dann streckte er die Hände aus und löste die Schlaufe ihres Umhangs. Der Stoff fiel mit leisem Rascheln hinter ihr auf den Boden. Seine Finger berührten vorsichtig ihr Haar. Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter.
»Du kannst ruhig langsam zur Sache kommen, ehe uns die Luft ausgeht«, schlug sie vor.
Plötzlich sah sie etwas in seiner Hand aufblitzen. Sein Messer? Was hatte er denn jetzt vor? Sie wollte zurückweichen, aber er packte sie am Ausschnitt ihrer Tunika und schnitt durch den Stoff wie durch Butter. Darunter blitzte schon ihr feines weißes Mieder auf.
»Lass das!«, schrie sie ihn an, und diesmal war ihre Empörung nicht gespielt. »Meine Unterwäsche geht dich nichts an!«
Sie wollte zurückspringen, aber sie hatte unterschätzt, wie schnell er war. Seine Linke krallte sich vorne in ihr Mieder, und weil sie sich nach hinten warf, riss ein Teil der Fäden. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Hör auf damit! Du machst es ja kaputt. Nicht!«
Mit einem Ruck riss er die letzten Schnüre entzwei. Sie versuchte zu fliehen, aber er hielt den Stoff fest und streifte ihn über ihre Schulter. Sie versuchte den Rest vor ihrer Brust zusammenzuraffen, aber wieder war er zu schnell. Mit einem geschickten Tritt zwischen ihre Füße brachte er sie zu Fall, fing sie über seinem Knie auf und drückte seine Lippen auf ihre. Sie stemmte ihre Hände gegen seine Brust, aber es war unmöglich, ihn wegzuschieben. Sie keuchte; mit seinem Mund auf ihrem bekam sie kaum Luft. Sie rang nach Atem, und schon glitt seine Zunge zwischen ihren Zähnen hindurch. Vor Schreck erstarrte sie einen Moment, den er sofort nutzte, um die zerschnittene Tunika über ihre Arme nach hinten wegzuziehen. Sein wilder, ungestümer Kuss gab ihr keine Gelegenheit, zu schreien. Bei Deiara, er hatte nicht angekündigt, dass das dazugehörte … Sie versuchte, das Gesicht wegzudrehen, seine Hand von ihrer Brust wegzureißen, und fühlte sich einen Moment lang seiner Gier völlig ausgeliefert. Dann biss sie ihn in die Zunge. Er fluchte; sein Griff lockerte sich für einen Moment. Sie wand sich heraus und brachte ein bisschen Abstand zwischen sich und ihn, doch die Kuppel hinderte sie daran, weiter zu fliehen. Sie hielt sich den zerrissenen Stoff vor die Brust.
Er stand da und befühlte mit dem Finger seinen Mund. »Verdammt«, brachte er undeutlich heraus.
»Komm nicht näher«, rief sie ihm zu, als er sich das Blut von den Lippen wischte. »Ich breche dir sämtliche Knochen! Bleib weg!« Sie hatte jedenfalls genug von diesem Spiel. »Das reicht.« Ihre Stimme wurde schriller. »Hör auf damit!«
Sie versuchte auszuweichen, als er auf sie zukam, doch mit ein paar großen Schritten war er bei ihr und zog sie zurück in die Mitte ihres Gefängnisses, dorthin, wo ihr Umhang auf dem Boden lag. Sie stemmte die Füße in den Felsen, aber auch Treten und Kratzen nützte nichts. Spätestens jetzt musste er wissen, wie schwach und langsam sie war. Mit einem Tritt hebelte er ihre Beine aus und warf sie rücklings auf den Mantel. Ihre Hände umschloss er mit einer einzigen Hand – vorher waren seine Hände ihr gar nicht so groß vorgekommen. Er hielt ihre Arme über ihrem Kopf fest und presste ihre Beine mit seinem Gewicht auf den Fels. Trotz ihres Mantels spürte sie jede Unebenheit in ihrem Rücken.
Seine Lippen streiften ihre, doch jetzt war er vorsichtiger geworden, woran er recht tat, denn sie versuchte mehrmals vergebens, ihn zu beißen, während sein Mund ihr Gesicht erforschte.
»Wie kannst du es wagen!«
»Bin ich zu grob?«, fragte er leise.
Das Schauspiel. Einen Moment lang hatte sie doch tatsächlich vergessen, dass sie ein Schauspiel aufführten, dass dies eine List war.
Sie hatte ihm erlaubt, sie anzufassen.
Aber da hatte sie noch nicht gewusst, was sie fühlen würde.
Und, was fühlte sie?
»Darf ich dich küssen?«, wisperte er an ihrem Ohr.
Das hatte er schon, auch wenn es sich mehr wie ein Überfall angefühlt hatte. Doch nun lag er über ihr, sein Gewicht drückte sie auf den harten Fels, sein Gesicht so dicht über ihrem war nah. Zu nah. Oder vielleicht auch nicht nah genug.
»Nun mach schon«, flüsterte sie und presste ihre Lippen auf seine.
Es war auf eine Weise berauschend, die sie nicht erwartet hatte. Diesmal öffnete sie den Mund, ohne zuzuschnappen. Die Bisswunde musste ihm immer noch wehtun; er stöhnte unwillkürlich auf, als ihre Zungen sich trafen.
Er streichelte ihren Bauch, ihre Seite. Seine Hand wanderte tiefer, näherte sich Stellen, wo sie wirklich nichts zu suchen hatte. Das war Deiaras geheimster Ort … Die poetischen Namen, die ihre verschämten Kundinnen für diesen Körperteil benutzten, kamen ihr absurderweise in den Sinn. Der Vorhof des Tempels … der Schrein … er wird doch nicht … Der innerste Garten …
Er würde doch nicht ... Nein, seine Hand blieb zwischen ihren Leibern gefangen. Der Zauberer würde nicht sehen, was hier geschah, dass es weit harmloser war, als es den Anschein hatte. Dennoch war ihre Haut auf einmal überaus empfindlich, jedes kleine Streicheln entlockte ihr ungeahnte Gefühle. Unwillkürlich hielt sie still und vergaß zu atmen, während seine Finger über ihren Bauch strichen. Ein plötzlicher Schmerz an ihrem Hals ließ sie aufschreien. Er hatte sie gebissen; sein spöttisches Lächeln hing über ihr. »Vergiss nicht, dich zu wehren«, flüsterte er, »bevor jemand glauben könnte, dass wir etwas tun, was dir gefällt.«
»Es gefällt mir nicht! Was bildest du dir ein!«
Er ließ ihre Hände los; mit aller Kraft schlug sie ihm ins Gesicht. Sie wollte aufspringen, aber er hielt sie fest, deshalb landete sie unsanft auf dem Fels. Während sie sich bemühte, von ihm wegzukriechen, zog er sie an ihrem Knöchel zurück. Sie schrammte sich die Haut auf und fauchte ihn an.
»Du tust mir weh!«
»Das ist der Sinn der Sache.« Seine Augen funkelten amüsiert, aber dahinter war mehr, mehr Gefühl, mehr Zärtlichkeit, mehr Begehren. Mehr, als man vorspielen konnte.
»Mach dich nicht über mich lustig!«
Sie wollte seine Haut berühren. Sie wollte wissen, wie er aussah, wie er sich anfühlte … ein Mönch, schlimmer noch, ein Diener Keiorons, ein Feind der Königin … Doch wie hätte sie ahnen können, dass seine Nähe so berauschend sein würde? Dass in ihr etwas erwachte, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es existierte.
»Wehr dich, verflucht!«, flüsterte er ihr ins Ohr, aber sie wusste nicht mehr, wogegen. Seine Hände liebkosten ihre Brüste, sein Mund erstickte alle Rufe im Keim. Doch was hätte sie rufen können außer: Wer bist du? Und warum habe ich nicht gewusst, dass es dich gibt?
Mit allem hatte sie gerechnet, mit Schrecken, mit Abscheu, mit Ekel, dem Wunsch, es möge schnell vorbei sein. Aber beim besten Willen fand sie nichts an ihm abstoßend. Was für ein schönes Gesicht er hatte, was für klare blaue Augen. Er war nicht einfach hübsch. Er war umwerfend. Woher kamen solche Mönche? Seine Hände waren jetzt schon so vertraut. Seine Stimme – sie wollte seine Stimme hören, wollte ihn sagen hören, wie schön er sie fand. Aber natürlich sagte er nichts dergleichen. »Kämpf gegen mich, Malia!« Aber was tat er denn? Er hätte grob sein sollen, brachte das jedoch einfach nicht fertig. Er schwelgte in den Berührungen, den Küssen, nicht anders als sie.
So zu sterben hatte durchaus etwas.
Sie schloss die Augen und wartete auf den Tod. Schöner konnte es jetzt eigentlich nicht mehr werden.
»Au!«
Er hatte sie grob gekniffen, was sie daran erinnerte, dass sie kämpfen sollte. Sie versuchte, ihn von sich herunterzustoßen, ihre Hände krallten sich in seine weiten Ärmel, richteten aber nichts aus. Mit den Knien zwang er ihre Beine auseinander. Mit einer Hand nestelte er an seinem Gewand, und sie war sich dessen bewusst, dass ihr Versuch, ihn wegzustoßen, mehr als halbherzig ausfiel. Vielleicht könnte es als Angriff durchgehen, wenn sie versuchte, ihm auch die Kleider zu zerreißen? Das sollte sie wirklich tun.
Doch dazu gab er ihr keine Gelegenheit mehr. Er legte sich über sie und sie fühlte … nichts. Wieso? Da war immer noch Stoff zwischen ihnen, zu viel Kleidung und zu wenig Haut, und was sollte das? Ah, jetzt fiel es ihr wieder ein. Er tat nur so, ganz so, wie sie es besprochen hatten. Es war nicht genug, und doch war es intensiver als alles, was sie je erlebt hatte. Sein Gewicht und seine Nähe und seine Küsse und sein heftiges Atmen, sein Herzschlag an ihrer Brust, sein glatter, haarloser Schädel unter ihren tastenden Fingerspitzen. Wieder vergaß sie alles um sich herum. Er verschloss ihren Mund mit seinem und sie erwiderte seinen Kuss mit einer Heftigkeit, die sie nicht bremsen konnte. Seine Hände waren überall. Er versuchte ihr wehzutun, aber nicht einmal das gelang ihm, auch er hatte längst vergessen, wozu das hier diente.
Es wird nicht klappen … Wir versüßen uns nur unsere letzten Stunden … Sie hätte Angst haben sollen, aber ihr Körper verlangte mit einer solchen Stärke nach mehr, dass alles andere dagegen verblasste.
Sein Mund an ihrem Ohr, in ihrem Haar …
»Hör nicht auf«, wisperte sie, »bitte hör nicht auf.«
»Wehr dich«, gab er zurück, »bei den Göttern, tu doch wenigstens so!«
Aber sie konnte sich nicht wehren. Sie umschlang ihn mit beiden Armen und zog ihn enger an sich heran. Sie wollte ihn dazu bringen, sie wieder zu küssen. Ihre Hände strichen über seinen glatten Schädel. Wenn er wenigstens Haare gehabt hätte, zum Festhalten … Warum musste er so verdammt gut schmecken …
Dass er sie biss, half auch nicht weiter. Sie stöhnte und presste sich in seine Umarmung. Dann wirbelten ihre Sinne vollends durcheinander. Er ächzte, und sie verbanden auch ihre Münder zu einem nicht endenwollenden Kuss. Davon würde sie nie, nie genug bekommen …
Das Gefühl ebbte langsam ab. Er lag immer noch über ihr und wurde ihr zu schwer, sie spürte auch wieder die scharfen Kanten des Felsens und die Falten ihres Mantels. Sein Herzschlag ging schnell und heftig und sein Atem strich über ihr Gesicht.
»Was war das denn für eine miserable Vorstellung«, flüsterte er.
Und sie lachte leise.