33. Der Anfang
»König Avi? Ah, das war einer. Immer am Lachen und Schäkern, immer ein Lächeln im Gesicht, immer ein gutes Wort für uns alle.«
Der Wächter lehnte sich zurück und trank den Becher, den Asati ihm reichte, in einem Zug aus. Seine Haare waren grau und die tiefen Falten verliehen ihm einen grimmigen Ausdruck, doch er wirkte, als hätte er sich jede einzelne davon redlich verdient und wäre genauso stolz darauf wie auf seine Narben. Er war noch nicht zu alt, um sich an dem Angriff gegen den Orden zu beteiligen, doch die Krücke, die an seinen Stuhl gelehnt war, bewies, dass es andere Gründe für ihn gegeben hatte, hierzubleiben. Der Mann gehörte zu den Veteranen, die die Stellung hielten, während die Soldaten ausschwärmten.
Asati hatte vor, die Abwesenheit der Königin zu nutzen.
Skrupellos, wenn nötig.
Alles war besser, als hier zu sitzen und Däumchen zu drehen, während Le-Iva oben in den Bergen kämpfte.
»Du erinnerst dich sehr gut an ihn, wenn man bedenkt, wie kurz seine Regierungszeit war.« Er. Es war komisch, »er« zu sagen, nachdem die Königin »sie« gesagt hatte.
»Ein Jahr, höchstens? Ich weiß. Aber er hat einen Eindruck hinterlassen. Sie waren ein Anblick, diese beiden. Die Königin noch ein halbes Kind – wie alt war sie damals? Sechzehn, siebzehn, höchstens achtzehn. Und immer haben sie einander angeschaut, tief in die Augen, Götter, waren das Zeiten.« Er duldete mit einem Lächeln, dass Asati ihm nachschenkte.
»Ein Jahr«, murmelte sie. Wie hatte ein Jahr mit König Avi die Königin in diese Frau verwandeln können, die sie jetzt war, fünfundzwanzig Jahre später? Die Königin der Tränen. Die Königin, die Berrin in den Untergang reißen würde.
»Sah er gut aus? Ich meine, soweit du das als Mann beurteilen kannst.«
Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht. Es gab im ganzen Palast kein einziges Porträt von Avi. Unter einem König hatte sie sich einen stolzen, bärtigen Mann vorgestellt, groß und von soldatenhafter Statur – vielleicht ein bisschen so wie Fürst Cario, wenn sie es recht bedachte.
»Gut? Er war bloß ein Knabe. Ein Milchgesicht. Runde Wangen, nicht einmal ein bisschen Flaum im Gesicht. Große blaue Augen. Als sie ankamen, diese beiden, immerzu turtelnd und flüsternd und kichernd, und dann haben sie sich im Palast umgesehen wie erschrockene Kinder – da dachten wir, das soll sie sein, unsere neue Königin, das letzte Blatt am Baume Vandi? Dieses junge Mädchen und dieser milchgesichtige Bub, der aussah, als hätte er sich noch kein einziges Mal die Stoppeln vom Kinn geschabt, sind unser Herrscherpaar?«
Auch das passte. Ein Gesicht wie ein Kind, bartlos, weichhäutig. Ein Mädchen. Avi war nie ein König gewesen – sie war Königin an Le-Ivas Seite. Und sie war verschwunden, bevor jemand ihr Geheimnis entdeckte.
Er wischte sich den Bierschaum von den Lippen. »Aber König Avi hat sich rasch Respekt verschafft. Hat nicht zugelassen, dass er nicht ernst genommen wurde. War streng mit den Wachen, mit den Dienern, mit den Adligen, die wie die ausgehungerten Ratten aus ihren Löchern gekrochen kamen, um mitzuherrschen. Hat sie vertrieben wie ein Kammerjäger, oh ja, das hat er. Er sah aus wie der Lehrling eines Schreibers mit der weißen Haut und dem weichen Haar und den zierlichen Händen, aber er hatte das Rückgrat eines Feldwebels, und genauso konnte er Befehle brüllen, das hätte man nicht geglaubt, wenn man es nicht miterlebt hätte. Es war die reine Freude, wenn man nicht gerade das Ziel seines Missfallens war.« Er grinste versonnen. Die Erinnerungen an jene Zeit waren offenbar gut. Asati hatte schon ein paar andere Diener und Wachleute gefragt, die alt genug waren, um damals schon im Palast gedient zu haben, und sie hatte kein einziges schlechtes Wort über König Avi gehört.
Er – sie? – war sehr jung gewesen, so wie Le-Iva auch, und eine Überraschung für das Volk von Berrin, das nach dem Tod des letzten Königs das Gezänke der Adligen um die Krone leid war. Es hatte eine Weile gedauert, um die Thronerbin zu finden. Wäre der magische Baum nicht gewesen, der die Existenz eines Nachfahren von königlichem Blut bewiesen hätte, wäre einer der Fürsten auf den Thron gestiegen.
Die Zauberer hatten den Erben gesucht und ein Mädchen aus einem der Dörfer geholt. Jung, aus einfachen Verhältnissen, ein Mädchen, das nichts von seiner Herkunft geahnt hatte. Ein Mädchen, das man nicht einfach mit einem der adligen Ratsherren vermählen konnte, um diesem den Thron zu sichern. Dafür sorgte die junge Le-Iva selbst. Sie brachte einen Verlobten mit, den sie gleich bei ihrer Ankunft heiratete. Einen Jungen aus den gleichen, bescheidenen Verhältnissen, aus denen sie kam.
Ihre Freundin. Ihre Geliebte.
Wie hatten die beiden es geschafft, ihre Herrschaft zu festigen, anstatt mit wehenden Fahnen unterzugehen? Wie hatte sich dieser blasse Junge mit den runden Wangen – das hübsche Mädchen vom Lande? – gegen das Pack von Fürsten und Grafen, gegen die Soldaten und die Feldwebel und die Hauptleute der Palastwache behaupten können? Le-Iva war der letzte Spross der Familie Vandi, ein entfernter Ableger nur, und hätten die Adligen sie beseitigt, hätte nichts mehr zwischen ihnen und dem Thron gestanden. Oder sie hätten den jungen, unerfahrenen König umbringen und Le-Iva zu einer zweiten Heirat zwingen können, mit einem von ihnen.
Avi war nach einem Jahr verschwunden.
Hatten die ehrgeizigen Fürsten tatsächlich versucht, dem zweiten Mädchen etwas anzutun? Oder war es ihnen sogar gelungen und die Königin hatte dafür gesorgt, dass die Leiche unauffindbar blieb, damit man sie nicht zu einer erneuten Heirat zwingen konnte? Le-Iva hätte König Avi nach all den Jahren für tot erklären können, aber das hatte sie nie getan. Dennoch galt sie beim Volk und auch bei ihren Verbündeten aus anderen Königreichen als Witwe; sie hatte schon etliche Angebote für eine neue Vermählung bekommen und jedes einzelne freundlich abgelehnt.
Wusste Le-Iva, was mit Avi passiert war? Oder rätselte sie immer noch darüber, was aus ihrer Geliebten geworden war, ob sie eine Witwe war oder nicht, ob die zweite Königin irgendwo da draußen noch lebte, vielleicht als Gefangene grausamer Feinde? Oder war Avi geflohen, weil es ihr letztendlich doch zu schwer fiel, das Leben eines angeblichen Königs im Palast zu führen, und sie hatte die erstbeste Gelegenheit ergriffen, um sich aus dem Staub zu machen, weil sie die Lüge nicht mehr leben konnte?
Wenn Asati Le-Iva einfach hätte fragen können, das hätte alles so viel leichter gemacht. Doch die Königin wich jeder Frage nach ihrem Ehemann aus. Sobald Asati auch nur in die Nähe dieses Themas kam, wurde Le-Ivas Gesicht hart und verschlossen, und sie schickte Asati aus dem Zimmer.
Trauerte sie Avi nach? Oder war sie wütend, weil ihre Freundin sie verlassen hatte? War Avi tot, musste es ein Geheimnis bleiben, weil Le-Iva damals einen Mord vertuscht hatte und die Schuldigen davongekommen waren?
»Er konnte reiten wie kein Zweiter«, murmelte der Wächter in seinen Bart. »Hat jeden Soldaten der Reiterei gezeigt, was ein Künstler ist. König Avi hat jedes störrische Ross nur angeschaut, und es war lammfromm. Er konnte auf allem reiten – auf Pferden und Eseln und Mauleseln und sogar auf den großen Bergziegen. Ist damit hoch ins Gebirge rein, wo kein Pferd folgen kann. Hinunter in die Schluchten. Tagelang. Er war unglaublich. Kein Wunder, dass Le-Iva ihm so verfallen war.« Er seufzte leise. »Würde er heute noch leben, er wäre eine Legende. Dann würde sich der Orden nicht hier runter nach Berrin trauen, das sage ich Euch, Baroness. Kein verdammter Mönch würde sich auch nur in die Nähe der Königin wagen.«
Asati versuchte, sich ein Bild von diesem jungen König zu machen, der Le-Iva das Herz gebrochen hatte, und konnte es immer noch nicht. Von dieser anderen Königin. Seltsamerweise fiel ihr das viel leichter.
»Und das Kind?«
»Das Kind war schon da, als er verschwand. Es muss um die Zeit der Geburt herum gewesen sein. Manche sagen, es sei tot geboren worden, aber andere behaupten, sie hätten es schreien gehört. In all dem Trubel, da weiß man oft nicht mehr, was davor geschah und danach.«
Das Kind war tot. Oder etwa nicht?
Wessen Kind war es gewesen? Von wem, verdammt noch mal, war dieses Kind, wenn Avi doch ein Mädchen war?
Der König war verschwunden.
Und Le-Iva blieb zurück, nie wieder dasselbe unbeschwerte, lachende Mädchen.
Königin der Tränen.
Nara lächelte nur, als Asati nach dem König fragte.
Die alte Dienerin war zwar stumm, aber wenn sie wollte, konnte sie sich durchaus verständlich machen. Es kam jedoch selten vor, dass sie es auch nur versuchte. Da sie nie von Le-Ivas Seite wich, hätte Asati sich nicht gewundert, wenn sie mit in die Schlacht gezogen wäre. Doch die Dienerin war im Palast geblieben.
»Ich will es nur verstehen. Bitte. Es ist wirklich wichtig. Ist er gegangen, weil das Kind gestorben ist, war es ihm zu viel? Oder wurde er umgebracht?«
Die Antwort war nur ein Achselzucken.
»War Avi ein Mädchen? Hat sie sich nur als König verkleidet?«
Oh, wie Nara lächeln konnte.
»Bitte«, flehte Asati. »Ich muss wissen, was damals geschehen ist. Wie sonst soll ich Le-Iva verstehen? Wie soll ich ihre Liebe gewinnen, wenn ich nicht weiß, was sie eigentlich betrauert. Ist es Tod? Ist es Verrat? Du weißt es, oder?«
Nara verließ den Raum, ohne darauf zu reagieren, doch wenig später kehrte sie zurück. Sie trug ein Bündel in den Armen, das sie Asati übergab, ihr zunickte und dann wieder verschwand.
Es war ein Reisesack. Er enthielt ein wenig Proviant – Brot, ein paar Äpfel, eine Flasche. Dazu ein zusammengerolltes Bündel Kleider, das sich als eine genau passende derbe Hose und eine Leinentunika samt Wollweste entpuppte. Eine Wollkappe und ein Schal vervollständigten die Ausrüstung.
Perplex breitete Asati die Sachen auf ihrem Bett aus.
Die Botschaft war klar. Sie sollte auf Reisen gehen. Sie sollte sich so anziehen – nicht wie eine vornehme Dame, sondern wie ein Wanderer.
»Wohin?«, fragte sie laut. »Wohin soll ich denn gehen?« Es war keine Karte dabei, kein Hinweis auf das Ziel.
Nara schien zu glauben, dass Asati von selbst darauf kommen würde, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Hätte sie nicht ein wenig hilfreicher sein können?
Sie setzte sich auf die Bettkante und hielt die Weste in der Hand. Das konnte sie nicht hier im Palast anziehen, sie würde zu sehr auffallen. Am besten, sie verwandelte sich an einem anderen Ort in den Wanderer, der das Rätsel um die trauernde Königin lösen würde.
Wohin?
Die Geschichte war hier im Palast tragisch zu Ende gegangen.
Vielleicht hatte Nara recht. Vielleicht musste sie fortgehen und eine neue Perspektive gewinnen. Vielleicht musste sie an den Anfang. An den Ort, von dem Avi und Le-Iva gekommen waren. Dort, wo die Zauberer sie gefunden hatten.
Ein Dorf, so hieß es. Asati wurde bewusst, dass sie noch nie den Namen dieses Dorfes gehört hatte. Wo war die Königin aufgewachsen? Bei welchen Menschen hatte sie gelebt, bevor sie nach Berrin gekommen war? War sie eine Waise gewesen? Mindestens ein Elternteil musste verstorben sein, als die Zauberer sie holten, und zwar derjenige mit dem königlichen Blut, sonst hätte man ihre Mutter oder ihren Vater auf den Thron gesetzt.
Ob auch Avi aus diesem Dorf stammte? Würde Asati verstehen, warum dieser Junge, dieses Mädchen nicht nur Le-Ivas Liebe, sondern auch das Herz der Palastbewohner gewonnen hatte, wenn sie mit Leuten redete, die Avi gekannt hatten?
Oder vielleicht, sagte eine Stimme in ihrem Hinterkopf, vielleicht wohnt Avi immer noch in jenem Dorf. Vielleicht hat sie die letzten fünfundzwanzig Jahre zu Hause verbracht und so getan, als gingen die Geschehnisse in Berrin sie nichts an. Womöglich war sie sogar mit Le-Ivas Zustimmung zurückgekehrt.
Asati atmete tief durch, als sie durch die Palasttore ins Freie trat. So viele Fragen. Es brachte nichts, sich damit herumzuquälen. Sie musste losziehen und das Rätsel lösen, das war der einzige Weg. Selbst wenn sie dabei feststellen würde, dass Avi noch lebte, dass Le-Iva gar keine Witwe war, dass sie ihre erste Freundin immer noch liebte. Dass die Tränen, die die Königin vergoss, Tränen der Sehnsucht und der Einsamkeit waren und nicht der Trauer.
Draußen wölbte sich der klare blaue Himmel über den Bergen von Berrin. Es roch nicht nach Kampf und Tod, nicht nach Gefahr und Zauberei. Man hörte keinen Schlachtlärm, und es zuckten keine Blitze über den Himmel. Im Gegenteil, es war so friedlich wie schon lange nicht mehr. Die Welt war schön. Die Frühlingssonne brachte einen neuen Geruch mit sich, von Frische und Neuanfang. Das Neue zitterte in allen Bäumen, die hier wuchsen, in ihren hellgrünen Knospen, und selbst der geschnitzte Baum auf dem Tor schien in die Höhe zu streben, dem Licht entgegen.
Asati ging langsam, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen ihres Mantels. Die Gartenpfade waren schlammig, und an einigen Stellen verbarg sich Eis unter dem schmelzenden Schnee. Es war rutschig, der Saum ihres Kleides war nach kurzer Zeit durchnässt. Für gewöhnlich war der Garten der Königin nicht für die anderen Palastbewohner geöffnet, doch heute, da die meisten Soldaten fort waren und die Wächter die Mauern und das große Tor bewachten, standen keine Bewaffneten an der Gartenpforte.
Sie hatte erwogen, erst nachts hineinzugehen, im Schutz der Dunkelheit. Götter, sie hatte sogar darüber nachgedacht, eine Schaufel mitzunehmen, um das Grab zu öffnen.
Wie lange dauerte es wohl, so tief zu graben? Und würde nach so langer Zeit überhaupt etwas von dem kleinen Leichnam übrig sein?
Nein, das würde Le-Iva ihr niemals verzeihen.
Kies knirschte unter ihren Füßen. Die kahlen Stängel der Rosenbüsche ragten aus ihren schützenden Hüllen. Ein Vogel hüpfte durchs Gebüsch davon und zeterte. Und da, am hinteren Ende des Gartens, im Zentrum des spiralförmig angelegten Weges, stand der magische Baum. Knorrig, uralt, kaum mehr als eine Wurzel und ein paar Zweige. Das Grab lag nur zwei Lanzen entfernt, ein kleiner flacher Stein verriet die Stelle.
Seltsam eigentlich, dass nie bekanntgegeben worden war, ob die Königin ein Mädchen oder einen Jungen geboren hatte. Asati hatte ein paar Leute gefragt, alte Diener, sogar ihre Mutter, die für gewöhnlich alles wusste! Doch sogar die Baronin hatte zugeben müssen, dass sie nur riet, wenn sie behauptete, es sei ein Sohn gewesen.
Der flache Stein trug keine Inschrift, keine Symbole, nicht einmal das königliche Wappen. Es war nur ein Stein auf der flachen Erde, und wie sollte sie in Erfahrung bringen, ob hier jemals ein Neugeborenes begraben worden war?
Der Himmel über ihr färbte sich dunkler, während die Sonne hinter die Schneegipfel sank. Und während die Wolkenränder brannten und der Schnee rot glänzte, als wollte er die kommende Schlacht vorwegnehmen, sang der Wind. Trockene Fruchtkapseln vom letzten Herbst klingelten wie kleine Glöckchen. Der magische Baum schien das Licht in seiner dunklen Rinde zu verschlucken. Ein Blatt, ein allerletztes, hing an dem dürren Zweig. War auch dieses Blatt übriggeblieben? Würde es abfallen, sobald der Baum neu austrieb?
Asati wusste nicht, wie die Magie in den Zweigen wirkte. Gab es in jedem Frühling ein neues Blatt, oder klammerte sich das alte, trockene Blatt an den Zweig, solange Le-Iva lebte?
Sie trat näher und besah sich die Zweige. Der Baum wirkte wie tot. Nein, da war eine Blattknospe kurz davor, sich zu entfalten. Im Winter sah man nicht, wie viele Mitglieder der Familie es noch gab. Erst in zwei, drei Wochen, wenn sich das neue Blatt aus der schützenden Hülle kämpfte ...
»Götter«, murmelte sie.
Sie streckte die Hand aus, berührte die flaumige Schicht, die schon das erste Grün freigab. Sie hatte sich geirrt. Das große Blatt war neu, es hatte sich bereits entfaltet, es war nicht alt und vertrocknet. Und das hier war das zweite Blatt.
Zwei Blätter am Baume Vandi.
Le-Iva und ihr Kind.
Es lebte. Es hatte die ganze Zeit über gelebt. Wann immer die Königin hergekommen war, dann nicht, um über dem Grab zu weinen, sondern um den Baum zu betrachten. Um sich zu vergewissern, dass ihr Kind lebte. Dass es da draußen war – irgendwo.
Ein längst erwachsenes Kind. Ein Prinz oder eine Prinzessin, verschollen. Unvergessen.
Oh Götter!
Sie brauchte keine Schaufel. Der Sarg war leer gewesen. Oder sie hatten eine andere Leiche hineingelegt, ein anderes Kind, das gerade gestorben war, oder eine tote Katze.
Den Entschluss, den sie längst gefasst hatte, war nun unausweichlich, die Reise ins Ungewisse dringlicher denn je. Sie musste herausfinden, was damals passiert war.
Wer König Avi war und ob er oder sie gestorben war oder nicht.
Was mit dem Kind passiert war. Wenn es nach der Geburt gelebt hatte ... Was, wenn Avi mitsamt dem Kind verschwunden war? Wenn sie es mitgenommen hatte, um es vor den Feinden zu schützen, die nach dem Thron gierten?
Immer mehr neue Möglichkeiten taten sich auf.
Und immer noch hatte sie keine Ahnung, was Le-Iva fühlte – oder was sie fühlen könnte, wenn sie die Gewissheit hatte, frei zu sein. Erst wenn dieses Rätsel gelöst war, konnte Asati die Königin fragen, ob ihre Liebe eine Zukunft hatte. Und wenn das nicht der Fall war, würde sie gehen und ihr eigenes Herz in Sicherheit bringen. Ein für alle Mal.
Es gab kein Entkommen, außer, sie ging. Jetzt, solange sie den Mut dazu aufbrachte. In der Gartenlaube zog Asati die Wanderkleidung an. Dann verließ sie den Garten und trat durch das Tor nach draußen.
Der Wächter am großen Eingangstor war alt und hatte bestimmt alles mitbekommen, was das Verschwinden des Königs betraf, doch sie durfte ihn nicht nach dem Dorf fragen, aus dem Le-Iva stammte. Die Königin sollte auf keinen Fall erfahren, wohin sie unterwegs war. Würde sie Asati vermissen, wenn sie ohne ein Wort des Abschieds verschwand? Sich Sorgen machen? Oder nahm sie es einfach hin und wandte sich den anderen Mätressen zu?
Nicht nur Keioron hatte ein Herz aus Eis. Nicht nur die Kriegermönche wagten nicht, zu lieben.