34. Wein und Tränen
Irgendetwas stimmte nicht. Basdin hatte jedoch mit Gefahr gerechnet und nicht damit. Es war ein unglaublicher Anblick – eine bunte Decke, Teller, ein Krug, der vermutlich Wein enthielt, Brot und Kuchen. Und das alles mitten im Tal, in dem die Frühlingsblumen die grünen Wiesen mit weißen und gelben Tupfen sprenkelten, im Schutz einiger großer Felsbrocken, die über die Hänge verstreut waren.
Basdin näherte sich dem Platz vorsichtig. Niemand war zu sehen. Es gab Anzeichen für einen Überfall – der Korb war umgefallen, das Brot von der Decke gerollt, die Teller unordentlich übereinander. Holzteller, zum Glück, sonst wären sie bestimmt zerbrochen.
Wer auch immer die unvorsichtigen Menschen, die es sich hier hatten bequem machen wollen, gestört hatte, war gründlich gewesen. Es war nichts von ihnen übrig, keine Knochen, kein Blut. Eine Lerche zwitscherte hoch über dem Tal, ihr Lied schmerzhaft schön in seinen Ohren. Gewiss war es ein Liebespaar gewesen. Sie hatten gegessen, Wein getrunken, und dann? War ein Tier über sie hergefallen? Oder war einer der Ordensbrüder hier gewesen – Ke-Achan vielleicht? Er war in diese Richtung unterwegs gewesen, und eigentlich hatte Basdin gehofft, auf seinen Freund zu treffen. Sie mussten wachsam sein. Die Soldaten schwärmten wie Ameisen ins Gebirge hinein, und was auch immer sie sich davon erhofften, der Orden musste ihnen rasch deutlich machen, dass sie eine herbe Enttäuschung erleben würden.
Basdin zog die Decke gerade und kniete sich darauf.
»Das ist gegen die Regeln.« Torlin stand hoch über ihm auf dem zerklüfteten Felsbrocken. »Das ist Luxus. Wein und ... sag bloß. Kuchen?«
»Es ist Beute.« Basdin würde sich von dem kleinen Scheißer nicht seinen schönen Fund madig machen lassen. »Wir dürfen uns an Beute gütlich tun.«
»Das ist etwas, das dein verweichlichter Freund sagen würde.«
Die Worte sollten vermutlich gemein klingen, aber seit Torlin um ein Haar geopfert worden war, hatten seine Beleidigungen ihren Stachel verloren. Er wusste, wer Ke-Achan war. Und womöglich ahnte er sogar, was es bedeutete, dem wahnsinnigen Gott zu dienen.
»Komm her. Willst du auch einen Schluck?«
»Er ist weg.«
»Wie, er ist weg?«
»Ke-Achan. Das Mädchen. Und der Zauberer. Sie waren hier, und dann ... waren sie verschwunden.«
Wovon sprach er da bloß?
Basdin zog den Korken aus dem Krug und griff nach einem der weggerollten Becher. Der Wein duftete herb und würzig, nach Sternennächten und verpassten Gelegenheiten. Er kribbelte auf Basdins Zunge.
Torlin sprang vom Felsen und landete auf dem Gras. »Glaubst du mir nicht? Es war ihr Wein. Ihr Kuchen. Ihre Decke.«
»Und wo ist sie dann hin?«
»Weiß ich doch nicht. Ich schätze, Keioron hat sie alle drei auf einen Schlag vernichtet.«
»Mit einem Kraftstrahl?« Der Eisgott würde niemals den Prinzen töten, den Herrn des Ordens, seinen Lieblingssohn.
»Du glaubst mir immer noch nicht.«
»Nimm dir einfach ein Stück Kuchen und sei still.«
»Wein. Kuchen. Was kommt als Nächstes?«, spottete der Junge. »Eine Frau in deinem Bett? Schuhe? Eine weiche Decke gegen Kälte und Unbehagen?«
»Wer weiß. Frechheit und Auflehnung sind genauso Zeichen eines verwöhnten Gemüts wie Wein und Kuchen.«
»Gerede. Nichts als schlaues Gerede. Wenn ich der Gott wäre ...«
»Du bist nicht der Gott.«
Der Junge ließ sich elegant im Gras nieder, ohne die Decke auch nur mit den Zehen zu berühren. »Ist es Sünde, so etwas zu sagen? Sich vorzustellen, wie man handeln würde, wenn man ein Gott wäre?«
Die Frage schien ernst gemeint. Basdin nahm einen weiteren Schluck. Ihm war danach, die Augen zu schließen. Stattdessen beobachtete er seinen Ordensbruder. Die Sonne malte goldene Flecken in Torlins Gesicht, auf sein Stirnrunzeln, als wollte sie sich über seine grimmige, trotzige Miene lustig machen. Sie schien ihm direkt in die geröteten Augen, die der Junge halb zusammenkneifen musste.
Er ist nicht glücklich, dachte Basdin.
Aber wer war das schon? Sie waren nicht im Orden, um glücklich zu sein.
»Der Kuchen sieht nicht besonders gelungen aus«, sagte er. »Ich denke, du würdest deinen Gaumen damit peinigen, ihn zu essen.«
»Meinst du?« Torlin griff nach dem Rosinenkuchen und biss ein kleines Stück ab. »Du hast recht. Ist ziemlich trocken.« Seine Augen leuchteten auf. Ein Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln.
Es war nicht möglich, dass Keioron den besten Krieger des Ordens getötet hatte. Ohne etwas zu sagen. Ohne eine Spur zu hinterlassen. Es durfte nicht sein.
Basdin weigerte sich, es zu glauben.
Er beugte sich vor und untersuchte die weiteren Leckerbissen, die auf der Decke verstreut lagen. »Schinken. Wer will schon Schinken? Der ist bestimmt zu salzig, um ihn ohne Brot und Wein zu essen.«
»Ich mag ohnehin keinen Wein«, sagte Torlin und streckte die Hand nach dem Krug aus.
»Er ist sauer. Zieht dir den Mund zusammen und lässt dich niesen.«
»Du musst von Wein niesen?«
»Noch nicht, aber das passiert bestimmt gleich.«
Er ließ die Sonne sein Gesicht wärmen. Er dachte an Ke-Achan und wo er sein mochte. War sein Freund wieder in den Palast gegangen, um die Königin zu beobachten? Diese verfluchte Königin. Es war nicht sicher dort, nicht einmal für den besten Krieger des Ordens. Nicht in Zeiten wie diesen.
Torlin hob plötzlich den Kopf. »Hast du das gehört?«
»Was denn?« Doch noch während er sprach, hörte er es auch. Ein Donnern, lauter als jedes Gewitter. Die Erde bebte. Er stieß einen Fluch aus. »Eine Lawine!«
»Wo? Das schien von da drüben zu kommen.«
Es konnte alles Mögliche bedeuten. Doch wahrscheinlich hieß es, dass die Soldaten, die Königin Le-Iva seit Wochen nach Berrin holte, sich endlich zum Angriff entschlossen hatten. Und dass ihre Ordensbrüder bereits gegen sie kämpften.
»Wir müssen los. Wir müssen ihnen helfen!«
Ke-Achan.
Das war sein erster und einziger Gedanke. Wenn gekämpft wurde, dann war der Prinz an vorderster Front, wie immer. Dann war er derjenige, der voranging. Und der am meisten gefährdet war, weil er stets zögerte, wenn es darum ging, dem Gott Herzen zu opfern. Ke-Achan neigte dazu, sich in die größte Gefahr zu begeben. Oder der Gott war es, der ihn dorthin stellte, wo es am gefährlichsten war – als würde Keioron es absichtlich darauf anlegen, seinen kostbaren Sohn in Gefahr zu bringen. Das sah dem Eisgott ähnlich. Er verschlang alles, was irgendwie gut und wertvoll war.
Trotzdem konnte Ke-Achan nicht tot sein. Er würde kämpfen, wo auch immer gerade der Kampf stattfand.
»Basdin? Jetzt komm schon! Sitz da nicht wie eingefroren.«
»Wo ist Ke-Achan?«
Torlin musterte ihn aus verengten Augen. »Er ist weg, das sagte ich doch! Und überhaupt, spielt das eine Rolle? Es ist unsere Pflicht, mit unseren Brüdern zu kämpfen.«
»Wir müssen Ke-Achan den Rücken stärken. Er muss dort irgendwo sein.«
Doch Ke-Achan würde niemals eine Lawine auslösen, die auf ein ganzes Dorf niedergehen könnte. Wo war er? Torlin konnte nicht recht haben.
»Dann ist er oben, beim Kloster.« Ja, so musste es sein. »Die Soldaten, der Angriff ... all das dient nur der Ablenkung. Die Königin will dem Orden einen vernichtenden Schlag versetzen. Das Kloster ist ihr wahres Ziel!«
Sie mussten sich nicht absprechen. Sie liefen gleichzeitig los, nebeneinander, als wären sie Freunde. Basdin fühlte sich leicht benebelt; er war nicht an Alkohol gewöhnt. Alles war anders, die Angst hämmerte in seiner Brust, in seinem Kopf herrschte Schneetreiben.
Ke-Achan, dachte er. Bitte. Oh, bitte.
***
Drei Eiskrieger lagen tot im Schnee, und Galahar hatte keinen Finger rühren müssen. Einige der anderen Zauberer hatten einen magischen Schutzwall errichtet, der sie vor den fliegenden Eiszapfen und Messern schützte, einer der Adepten ließ Steine auf die Mönche herabprasseln.
Jemand schrie. Hinter ihm wuchs der Schnee in die Höhe, bildete Arme und Beine aus und ein unförmiges Gesicht. Was war das? Galahar ächzte vor Schreck. Ein Riese aus Schnee, ein Monster! Es sah furchtbar aus, wie ein Krieger mit Hörnern und langen Klauen. Einen schrecklichen Moment lang war Galahar wie gelähmt. Dann fiel ihm wieder ein, wozu er fähig war. Er warf die Königin zu Boden und errichtete eine Kuppel über ihnen beiden. Noch nie hatte er so schnell einen so großen Schild errichtet.
Le-Iva stieß ihn zur Seite und richtete sich auf. Der Schneeriese brüllte jenseits der Kuppel – wahrscheinlich. Hier drinnen war nichts zu hören. Man sah nur, wie das Schneegesicht das Maul aufriss und Zähne entblößte, so groß wie Messerklingen, Hauer aus Eis.
»Gnädige Götter«, murmelte Le-Iva. Sie klang merkwürdig gefasst.
»Er kann uns hier drinnen nichts tun, Eure Majes... Herrin«, sagte er.
»Und er kann uns auch nicht hören?« Sie lächelte ermutigend.
»Nein.« Gerade rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass er aus diesem Grund gar nicht vorsichtig sein musste. »Eure Majestät«, fügte er hinzu.
»Und die Luft geht uns hier drin nicht aus?«
»Sie könnte, wenn es zu lange dauert. Oder wir erfrieren. Was ich nicht hoffe.«
Hinter der unsichtbaren Wand ging der Kampf weiter. Die Zauberer zerstörten den Schneekrieger mit Feuerstößen und Windböen, während andere gegen die verbliebenen beiden Mönche kämpften. Galahar wurde erst bewusst, dass alles vorbei war, als die Königin ihm die Hand auf die Schulter legte. »Adept? Du kannst die Kuppel nun öffnen.«
»Ja«, sagte er lahm. Einen furchtbaren Moment lang wusste er nicht, wie er das anstellen sollte. Es war, als hätten die Kälte und der Schrecken das ganze Wissen aus ihm herausgebrannt.
»Atme tief durch, Junge. Ja, so ist es gut. Und jetzt musst du den Zauber auflösen.«
Und da war es ganz leicht. Er ließ den Bann verwehen, die Kuppel verschwand, und der eisige Wind traf ihn mitten ins Gesicht.
Meister Eridan trat auf sie zu. Er nickte Galahar zu, was von diesem Mann ein Lob ohnegleichen war. Galahar spürte, wie ihm vor Freude wärmer wurde.
»Wir können das Kloster nun betreten«, sagte der Meister.
»Tun wir das. Aber wir müssen uns beeilen.«
Wollten sie es nicht zerstören? Galahar hatte gedacht, dass es darum ging. Um dem Orden einen Schlag zu versetzen, von dem er sich nicht so leicht erholen würde. Sie hatten einen Magier dabei, der die Macht über Steine besaß! Leider war er nicht in alles eingeweiht, aber so würde er es machen. Die Mauern einreißen. Alles verbrennen. Es dem Erdboden gleich machen und die überlebenden Mönche dazu zwingen, die Berriner Berge zu verlassen.
»Die Schatzkammer«, flüsterte Vinox, der junge Feuerzauberer, laut genug für alle.
Und sie rannten auf das Portal zu.
Galahar zögerte damit, ihnen zu folgen. Sie hatten gegen fünf Krieger gekämpft, doch es gab weitaus mehr. Konnten sie sich wirklich darauf verlassen, dass sie alle abgelenkt waren und an anderen Plätzen kämpften? Dass niemand mehr drinnen auf sie wartete, dass kein wütender Mönch ihnen in den Rücken fallen würde? Er bezweifelte das, doch als einziger draußen zu bleiben, kam auch nicht in Frage. Mit einem unguten Gefühl folgte er den anderen in die riesige Eingangshalle.
Noch nie war er in einem so großen Gebäude gewesen. Es war, als würde er den Berg selbst betreten. Wer hatte es errichtet? Das mussten wahre Meister gewesen sein. Und doch wünschte er sich, er wäre nicht hier, er hätte es niemals gesehen. Leere Räume und gerade Flächen waren für gewöhnlich nicht kral
, aber hier fühlte sich jeder Schritt an, als würde er durch unaussprechliche Widerlichkeiten waten. Dieser Ort stank geradezu nach kral.
Unbehaglich blickte er sich um. Die Zauberer strebten auf eine Tür zu, die winzig wirkte im Vergleich zu der Mauer, in die sie hineingebaut war. Ob einer von ihnen über Magie verfügte, die den richtigen Weg wies? Oder ob er das Gold wittern konnte? Es gab alle möglichen Talente, und nicht jeder Zauberer verriet seinen Kameraden jedes einzelne davon.
Die Königin blieb hinter ihnen zurück. Wie konnten sie das tun und Le-Iva ohne Schutz ... nein, halt. Er war derjenige, der ihr den besten Schutz gewähren konnte. Sie verließen sich auf ihn.
Das Lächeln auf ihrem Gesicht gefiel ihm jedoch nicht. Es war nicht freundlich. Es war hart und entschlossen und beinahe grausam zu nennen.
Die Zauberer hatten die Schatzkammer gefunden, ihren aufgeregten Rufen nach zu urteilen. Galahar musste nicht über die Schwelle treten, um einen Blick hineinzuwerfen.
Das war ... oh Götter. Zum Glück neigte er nicht dazu, in Ohnmacht zu fallen. Die kahlen Wände, die hallenden Säle, und dann das hier – Säcke voller Münzen, silberner Pokale, edelsteingeschmückter Dolche. Tierfiguren aus Gold, Statuen aus Elfenbein und Marmor, Waffen über Waffen, Bilder, Schmuck, vergoldete Throne, Kisten, randvoll mit Juwelen ...
Aufgeregt wie kleine Kinder wühlten sich die Zauberer durch die Kammer, stopften sich die Taschen voll, streiften sich Armbänder über die Handgelenke, schlangen sich Ketten um die Hälse, steckten sich Ringe an. Le-Iva sah mit dem wilden Lächeln zu, das Galahar mehr Angst machte als der Kampf zuvor.
»Wir werden hier nicht lebend rauskommen, oder?«, fragte er.
Sie sah ihn an, als würde sie ihn nicht kennen. Unter diesem Blick war er nichts. Ein Sklave, der nichts galt. Eine Waffe, die man später achtlos wegwarf.
Doch auf einmal wurde ihr Blick weich und ihr Lächeln traurig, und ihm war, als würde sein Herz stehen bleiben. Die Zauberer stürmten zurück in die große Halle. »Willst du nichts mitnehmen, Adept?«, fragte Le-Iva.
Nein, das wollte er nicht, denn alles, was dem Eisgott gehörte, war verflucht. Aber als er an das Archiv dachte, an seine Schulden, wusste Galahar, dass er keine Wahl hatte. Also tauchte er die Hand in einen Sack voller Münzen, ließ ein paar davon in seine Tasche gleiten und folgte der Königin in den Saal, dessen Decke sich weit, weit über ihnen wölbte.
Und dort, auf dem gigantisch großen Thron, saß jemand.
Es war ein Mann, und doch war es keiner. Er hatte ein Gesicht, aber es war so gut wie unmöglich, es zu sehen. Er schien zu leuchten, und doch war es, als würde er alles Licht verschlucken. Es war so kalt in der Halle, dass Galahar sich nicht bewegen konnte.
Die Zauberer standen wie erstarrt da, ihre Augen und Münder aufgerissen. Sie glotzten wie Schafe, die sich plötzlich einem Wolf gegenübersahen. Doch Schafe wären geflohen. Die Zauberer standen nur da wie gelähmt.
Der Gott lächelte. Er öffnete den Mund und sprach. Galahar verstand kein Wort, nur die Stimme, diese Stimme! Wie berstendes, knirschendes Eis.
Er schrie. Er hörte sich selbst nicht schreien, spürte nur den Schrei in seiner Kehle. Er rannte, zugleich mit den anderen Zauberern, nur fort, nur hinaus! Weg von diesem entsetzlichen Anblick. Galahar stolperte über einen der Meister, jemand trat auf seine Hand. Er rappelte sich auf, rutschte auf Perlen und Diamanten aus, die einer von ihnen verloren hatte. Hals über Kopf stiegen und fielen sie die Treppe hinunter, schlugen sich die Knie und die Hände blutig, dann waren sie endlich in der Eingangshalle. Sie schlitterten über die vereiste Fläche vor dem weit offenen Portal, stürzten wieder und wieder, ohne etwas anderes zu spüren als die Angst. Nach einer schier endlos währenden Flucht wölbte sich wieder der Himmel über ihnen, kalt und blau, und vor ihnen im Schnee warteten zwei Mönche auf sie, einer von ihnen noch fast ein Junge. Ein riesiger weißer Löwe und ein nicht weniger furchterregender Wolf aus Schnee standen ihnen zur Seite. Etwas zu lange starrte Galahar auf die Tiere, und deshalb bemerkte er zu spät, dass die Eiskrieger die Hände hoben. Etwas raste auf Galahar zu.
Er dachte zu spät an den Schild.
Etwas bohrte sich in seine Brust. Ein Speer? Es war kalt wie Eis. So kalt.
Die Stimme der Magie in ihm flüsterte. Da war etwas, das warm in ihm blieb, wunderbar wie eine Sonne. Galahar sank auf die Knie. Aus den Augenwinkeln sah er die anderen Zauberer fallen. Sah, wie Eridan die Hände hob, einen Schutzwall um sich her errichtete, wie Blitze um seine Hände zuckten. Es ergab keinen Sinn, nichts davon.
Die warmen, glühenden Fäden lösten sich aus Galahars Brust. Er sah zu, wie sie davonflogen. Nein, es waren keine Fäden. Er hatte sie sich immer so vorgestellt, aber die Wahrheit sah ganz anders aus. Es waren leuchtende Schlieren, geformt wie Blüten und Schneeflocken und Tränen. Sie stiegen auf und brannten heller als Sterne. So schön, schöner als alles, was er jemals gesehen hatte. Singende Sterne. Flüssiges Licht. Göttlicher Gesang.
Sie stiegen von allen Zauberern auf, die leblos auf den Stufen lagen, und schwebten höher und höher ... und Eridan streckte die Hand aus und fing die Lichter ein. Er lächelte fast so grausam, wie die Königin gelächelt hatte. »Hako«, sagte er.
Ich muss es verstehen, dachte Galahar. Ich muss den Namen finden, ich muss ... Wie konnte es Hakos Magie sein? Sie war eine der Acht, sie war nicht tot. Wie konnte die Göttin des Sommers tot sein? Und dann waren die Gedanken fort, und das Einzige, was übrig blieb, war das Licht.
***
Le-Iva hörte die Zauberer schreien. Die Versuchung war groß, sich umzudrehen und nachzusehen, was dort vor sich ging. Würden sie es schaffen zu fliehen, oder nicht? Es änderte nichts. Eridan wusste, was zu tun war. Er würde nicht zögern, die frei gewordene Kraft an sich zu nehmen, und dadurch noch stärker werden.
»Ein dreister Versuch«, sagte der Gott. Seine Stimme war Donner und Sturm, war Eis und Frost.
»Letztes Mal warst du kleiner«, sagte sie. »Sehr viel kleiner.«
Er hätte sie mit einem Fingerschnippen zerschmettern können, aber er war vorsichtig. Er würde es nicht wagen, sie offen anzugreifen.
»Was willst du?«, fragte er.
Die Zauberer kämpften und schrien und starben auf der Schwelle des Klosters. Le-Iva dachte an die Soldaten, die in den Tälern kämpften und schrien und starben. Sie dachte an die Toten, die dieser Tag kostete, und an die vielen Toten, die noch folgen würden.
»Ich bringe dir meine Tränen«, sagte sie und holte die Phiole aus ihrem Gewand. Sie legte sie ihm zu Füßen, ohne den Blick von seinem Gesicht zu wenden.
Er war groß wie ein Berg. Dieses winzige, zerbrechliche Gefäß war nichts im Vergleich zu seiner Größe. Und doch gab es im Moment nichts, was so wichtig und bedeutungsvoll war.
»Du hast es mir versprochen. Du hast gesagt, wenn ich genug geweint habe, wirst du mir geben, was mir gehört.«
»Ist das so?«, grollte er. Sie konnte die Wut in seiner Stimme hören. Er war verärgert und gelangweilt, aber da war auch ein Funken Interesse.
»Hier sind meine Tränen. Gib mir mein Kind zurück.«
Er war zu groß, als das ein Gebäude ihn hätte fassen können. Seine Schultern waren breit wie der Berg, seine Füße hätten ihr Schloss zertreten können. Doch als er sich bückte und nach der Phiole griff, war er auf einmal nicht viel größer als sie. Er sah bestürzend menschlich aus. Ein Mann mit schwarzen Haaren, in die sich weiße Strähnen mischten. Seine Augen waren blau wie der Winterhimmel und kälter als eine Nacht im Schnee.
»Wer entscheidet, ob du genug geweint hast? Vielleicht genügt es nicht. Vielleicht genügt es nie.«
»Gib es mir zurück.«
»Sonst was?«
Im Nachhinein war es ihr unerklärlich, wie sie damals so ahnungslos hatte sein können. Jung und naiv und gutgläubig. So schnell bereit, an das Glück zu glauben, das er ihr verhieß. Avi und sie hatten ihn gemeinsam ausgewählt, den jungen Mann, der ihr zu einem Kind verhelfen sollte. Er war freundlich gewesen und charmant und schien genau der Richtige zu sein, bis er ihr sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Und dieses Gesicht war nicht menschlich.
»Ich werde dir alles nehmen, was du hast«, sagte sie. »Ich werde dein Kloster niederreißen. Ich werde deine Mönche nicht nur vertreiben, ich werde sie vernichten.«
»Wirst du das? Mit wessen Hilfe? Etwa mit diesen lächerlichen kleinen Zauberern? Zwei meiner Krieger genügen, um sie niederzustrecken, und das sind nicht einmal meine besten.«
»Selbst deine tödlichsten Krieger kommen nicht gegen meine Zauberer an«, sagte sie.
»Du kannst mir nicht drohen. Ich bin ein Gott, und du bist nichts.«
Er war schön.
Nicht, dass die Schönheit eines Mannes ihr viel bedeutete, aber es war nicht zu leugnen. Würde ihr Sohn oder ihre Tochter ihm ähneln? Solch glänzendes schwarzes Haar haben und solche Augen und so viel kühle Gleichgültigkeit in der Stimme, wie einer, der Herzen sammelte, ohne je begriffen zu haben, was ein Herz war.
»Du kannst diesen Krieg noch abwenden«, sagte sie. »Deine Niederlage wird endgültig sein. Gib mir mein Kind zurück.«
»Nein, meine Liebe.« Er bückte sich und hob die Phiole auf.
Mehr als zwanzig Jahre lang hatte sie ihre Tränen gesammelt. Sie hatte gewartet, gebetet, gehofft, getrauert, gehasst, gezweifelt. Sie hatte diesen Moment herbeigesehnt und ihn gefürchtet. Was sie nicht akzeptieren würde, war sein Nein.
»Das ist ein Fehler.«
Er zuckte mit den Schultern. »Was kümmert es mich, was du darüber denkst? Alle meine Kinder gehören mir.«
»Dann nehme ich dir deinen Sohn. Prinz Tagoron.«
Keioron legte den Kopf in den Nacken und lachte. »So?«
»Ich habe es schon getan«, sagte sie. »Dein Prinz ist fort, und du wirst ihn nicht wiederbekommen, bevor du mir nicht mein Kind gibst.«
Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. »Das würdest du nicht wagen.«
»Sagte ich nicht gerade, dass ich es schon getan habe? Er ist fort. Außerhalb deiner Reichweite.«
»Ich bin ein Gott. Niemand ist außerhalb meiner Reichweite.« Ein drohendes Knurren hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Und wer sagt dir, dass er nicht dein Sohn ist?«
»Ist er es denn?«
Sie ließ nicht zu, dass der Zweifel und die Angst sichtbar wurden. Es war unwahrscheinlich, dass er ihren eigenen Sohn in ihrer Nähe gelassen hatte, aber Keioron war verrückt. Es gab keine Garantie, dass er nicht das Unvorstellbare getan hatte.
Er zerdrückte die Phiole zwischen seinen Fingern. Die Scherben schnitten ihm in die Haut, die Tränen tropften auf den Boden. »Wo ist mein Sohn?«
»Gib mir mein Kind zurück, dann sage ich es dir.«
Einen Moment lang glaubte sie, dass sie zu weit gegangen war. Dass er sie zerschmettern würde wie die Phiole, dass es ihr Blut sein würde, dass die kalten, steinernen Fliesen befleckte. Seine mit Glassplittern gespickten Finger legten sich um ihre Kehle, Kälte rieselte durch ihre Adern, aber er drückte nicht zu.
Sie weinte nicht. Sie flehte nicht. Sie starrte zurück, blickte ihm furchtlos in die Augen.
Er starrte sie an. Er tötete sie nicht. Stattdessen ließ er sie los, drehte sich abrupt um und schritt davon, und im nächsten Moment war er verschwunden.
Le-Iva stand allein in der gewaltigen Halle. Es war sehr still; selbst das Geschrei draußen war verstummt. Sie starrte auf die Stelle, wo eben noch ein Gott vor ihr gestanden hatte. Nur ein paar Glassplitter auf dem Steinboden bewiesen, dass sie die Begegnung nicht geträumt hatte; der Salzgeruch ihrer Tränen lag noch in der Luft. Sie hatten ihre eigene Magie, doch davon wusste Keioron nichts.
Tränen hatten Macht. Versprechen hatten Macht. Und ein gebrochenes Versprechen konnte zu einem Fluch werden.
Er hatte sein Ende besiegelt.
Und doch spürte sie die heißen Tränen auf ihren Wangen, als sie zum Ausgang schritt. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass es anders ausgehen würde. Dass sie heute einen Fremden in die Arme schließen könnte – ihren Sohn. Oder eine junge Frau, ihre Tochter. Diesen Teil ihrer Seele, der fehlte, der immer fehlen würde.
Draußen unter der Sonne herrschte Stille. Niemand schrie mehr. Die toten Zauberer lagen im Hof, still wie nie zuvor, umgeben von funkelnden Perlen und Juwelen. Eridan wandte sich zu ihr um. »Königin?«
»Wurdet Ihr angegriffen? Wo sind die Mönche?«
»Ich konnte sie vertreiben«, sagte er, als wäre daran nichts Besonderes. »Und bei Euch?«
»Es ist alles exakt so abgelaufen, wie es sollte«, sagte sie. »Ich habe ihn dazu aufgefordert, dieses Gebirge zu verlassen, und er hat sich geweigert. Und ich habe ihn verflucht.«
Eridan musterte sie nachdenklich. Er fragte nicht, wie sie einen Gott verflucht hatte und ob das überhaupt möglich war. Stattdessen sagte er leise: »Ihr spielt ein gefährliches Spiel, Königin Le-Iva. Ihr habt uns Zauberer benutzt, um Prinz Tagoron zu fangen, angeblich, um die Gefahr zu vermindern, die uns hier oben im Berg erwartet. Doch in Wahrheit wolltet Ihr eine Geisel haben, um Euer Kind von Keioron zurückzufordern.«
Er hatte es gehört. Alles. Jedenfalls, was ihre Seite betraf. Selbst ein Zauberer, der so überaus mächtig war wie er, war nicht dazu in der Lage, die Götter zu verstehen.
»Und Ihr?«, fragte sie zurück. »Ihr habt nur um Euer eigenes Leben gekämpft, statt das Leben der anderen Zauberer zu retten. Und mir ist sehr wohl bewusst, warum Ihr das getan habt. Ihr habt Euch an jedem Magier bereichert, der heute gestorben ist, und sagt mir nicht, dass Ihr nicht genau darauf hingearbeitet habt.«
Sie sahen einander an.
Gegner.
Und gleichzeitig Verbündete.
Die Toten erzählten eine andere Geschichte. Eine Geschichte von einer verlorenen Schlacht. Zauberer. Soldaten. Dörfler. Morgen würden sie die Toten zählen und ihr Andenken ehren. Morgen würden sie die Lieder singen von Heldenmut und Opfer.
Nichts davon würde die Wahrheit erzählen. Von Herzen, die einem Gott dargeboten worden waren.
Von Tränen, die sie gesammelt hatte, um sie in eine Waffe zu verwandeln.
Von Verrat und dunklen Geheimnissen und dem Plan, einen Gott zu töten.
Doch heute war es noch nicht so weit. Heute hatte sie nur den ersten Schritt getan.
Und Eridan, dieser finstere Zauberer, der niemals Gefühle zeigte, lächelte. »Gehen wir zurück.«
»Gehen? Könnt Ihr jetzt nicht vielleicht fliegen?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Oh ja«, sagte er. »Ich denke, das kann ich jetzt.«