35. Wo auch immer
»Tut mir leid«, sagte Malia.
»Ich weiß nicht, ob Keioron mir das durchgehen lässt.« Der Mönch klang unerwartet kleinlaut.
»Ich hab doch gesagt, zieh es durch und fertig. Du hast damit angefangen, es … so
zu tun.«
Es war wirklich unverschämt von ihm, ihr Vorwürfe zu machen!
»Ich muss dich umbringen. Wenigstens etwas sollte glaubwürdig wirken.«
»Wie bitte? Was ...?«
»Es wird wehtun«, sagte er leise in ihr Ohr, »aber nicht sehr. Nur ein kleiner Schnitt in die Haut.« Noch während er sprach, spürte sie einen heftigen Stich oberhalb der Brust. Er hatte ein Messer. Alte Kröte, sie hatte das verfluchte Messer vergessen.
Das Messer, mit dem die Kriegermönche töteten, ohne dass man es merkte. Nun, dann würde es wenigstens nicht wehtun. Obwohl es schade war, jetzt zu sterben und auf solche Küsse zu verzichten. Für immer und in alle Ewigkeit.
Und beinahe wäre sie gestorben, ohne je diese Erfahrung zu machen. Glück gehabt.
»Beweg dich nicht, was auch geschieht. Du bist tot.«
Sie wollte etwas sagen, aber er drückte seine Lippen sanft auf ihre und stand dann auf.
Ach ja, das gehörte zum Plan. Sie hatte schon vergessen, dass es einen Plan gab.
Durch ihre halb geschlossenen Augen sah sie ihn eine Weile dastehen, nachdenklich, das blutige Messer noch in der Hand. Dann wandte er sich ab.
Er hätte sie wenigstens etwas besser zudecken können. Nun musste sie hier liegen, halb nackt, und tot spielen … wie lange? Schon bei der Vorstellung, es könnte eine Weile dauern, begann sie zu frieren. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf den Mönch. Sie konnte ihn nicht sehen, ohne den Kopf zu drehen, und musste sich damit begnügen, auf seine Schritte zu lauschen. Er ging auf und ab, langsam und doch so unruhig wie eine Himmelskatze im Käfig. Das leise Knirschen seiner weichen Schuhe – waren die Eiskrieger nicht normalerweise barfuß? – und seine Stimme. Führte er Selbstgespräche? Dann klang ein Name aus seinem Gemurmel deutlich hervor, und ihr wurde klar, dass er betete.
»Keioron! Du musst mir verzeihen! Ich habe sie getötet, also nimm es als Opfer für dich. Keioron, höre mich! Lass mich jetzt nicht allein!«
Seine Stimme wurde lauter und verzweifelter. »Lass mich nicht im Stich! Tu das nicht! Ich bin dein ergebener Diener!«
Sein Schmerz berührte sie gegen ihren Willen. Er schauspielerte doch nur, oder? Einen Moment lang glaubte sie an eine Inszenierung für den Zauberer, um ihn davon zu überzeugen, dass er leichtes Spiel haben würde, aber es klang so echt, so aus dem Herzen gesprochen, dass sie am liebsten aufgesprungen wäre, um den Kriegermönch zu trösten. Dann fiel ihr ein, dass der Zauberer sie gar nicht hören konnte. Ke-Achan sprach zu seinem Gott, der nicht antwortete. Der nicht da war.
»Ha! Wie rührend!«
Ein kalter Luftzug strich über sie hinweg; die Kuppel war fort. Malia blinzelte durch die Wimpern hindurch. Dunkles Gestein über ihnen. Fackeln. Eine große Höhle. Also waren sie vielleicht doch nicht weit vom Ausgangspunkt ihres Kampfes entfernt.
Wieder ertönte die kalte Stimme des Zauberers. »Fast könntest du mir leidtun – Mönch.«
»Du willst mich töten? Nur zu, versuch es. Stell dich mir, Mann gegen Mann. Du hast dich lange genug feige versteckt.«
Der Zauberer lachte wieder. »Wie ein Mann magst du dich jetzt vielleicht fühlen – aber mit deinen Kampfkünsten ist es leider vorbei.«
Sie hörte ein Zischen, einen Schlag und ein Ächzen, dann prallte etwas gegen ihre Füße. Der junge Mönch stöhnte und rappelte sich mühsam wieder auf. Eigentlich hatte sie gedacht, er würde ihr ein Zeichen geben, aber nun musste sie diesen Sturz wohl als Zeichen dafür nehmen, dass es an der Zeit war, das Totsein einzustellen. Sie sprang auf.
Der Zauberer – ein alter Mann in einem weißen Gewand – riss die Augen auf, als er sie sah, dann stieß er ein verächtliches Lachen aus und ließ seine Macht auf sie los. Es waren keine Eisspeere, es war kein Feuer, es waren keine Windstöße. Es fühlte sich anders an, wie ein wildes, lautes Brausen, heiß und hell. Malia wehrte den Angriff ab und ließ den Strahl, der sich wie ein Sommersturm anfühlte, an ihren ausgestreckten Händen abprallen und zu ihm zurückkehren. Der Alte schrie auf, als ihn seine eigene Kraft mitten in die Brust traf und gegen die Höhlenwand schmetterte. Sie konnte Knochen brechen hören. Er stürzte schwer auf den Felsboden und blieb liegen.
Im nächsten Moment kniete der Mönch neben ihm. »Er ist tot«, stellte er fest. »Nun, das ging schneller, als ich erwartet habe.«
Ihre Beine zitterten so, dass sie kaum stehen konnte. Sie zog ihre zerrissenen Kleider fester zusammen und hüllte sich in ihren Umhang, den sie mit dem Gürtel festband. Dennoch war ihr immer noch kalt.
»War ich das? Habe ich ihn getötet?«
Zögernd trat sie näher. Sie konnte selbst kaum fassen, dass ein einziger Strahl gereicht haben sollte – dann sah sie das Messer in der Brust des Zauberers.
»Du hast … Ich habe gar nichts gesehen!«
»Ich habe es geworfen, als du seine Macht abgewehrt hast«, erklärte er, während er das Messer herauszog und sorgsam an der Kleidung des Toten abwischte. »Beides hat ihn gleichzeitig getroffen. Du hast ihn nicht umgebracht, Malia.«
Es war freundlich von ihm, das zu sagen. Doch es war eine Lüge. Selbst ohne das Messer wäre der Zauberer gestorben. Sie hatte den Aufprall gehört, Knochen gegen Stein. Er hatte sich das Rückgrat gebrochen, und es war ihre Schuld gewesen.
»Dann hast du deine Kraft also nicht verloren«, stellte sie fest. »Dein Plan ist aufgegangen.«
Er schlug sich die Kapuze über den Kopf und wurde wieder ein Fremder, das Gesicht im Schatten verborgen.
Sie folgte ihm nach draußen.
Die schneebedeckten Gipfel reichten bis zum Horizont. Vor ihnen lag eine weite, steinige Ebene, durch die sich ein Fluss als breites gelbgraues Band zog. Ein rotes Glühen verkündete den nahenden Abend. Wolken, dünn wie in Auflösung begriffene Hände, streckten sich nach dem Himmel aus.
ENDE
des ersten Bandes der Trilogie