Kapitel III
Besessen
Lang sah Edward Ayrton an dem düsteren Gebäude empor.
»Coleman-Asylum« stand über der doppelflügeligen Eingangstür, wie auch schon über dem eisernen Tor zum Hof, das sich nach dem Eintreten wieder quietschend hinter ihm geschlossen hatte. Hierher hatte man seine Julietta nach dem Vorfall an der Grube gebracht.
Edward schauderte, als er daran zurückdachte, wie sie mit gebleckten Zähnen wild um sich geschlagen hatte. Unwillkürlich tastete er nach den Kratzern in seinem Gesicht. Sie brannten noch immer, wenn er sie berührte. Endlich gab er sich einen Ruck und stieg die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. Mühsam drückte er einen der Türflügel auf, hinter der ihn eine große Halle empfing. Ganz am anderen Ende saß an einem Empfangstisch eine Gestalt, fast vollständig hinter einer Zeitung verborgen. Als Edward näher kam, konnte er einen Blick auf die Schlagzeile werfen:
›GRAUSAMER MORD VOR DER BAKERS HALL‹
Dann ließ der Pförtner die Zeitung sinken und sah Edward gelangweilt entgegen. Der räusperte sich. »Ich würde gerne Julietta Halvston besuchen.«
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Ich bin ihr Verlobter. Edward Ayrton.«
Der Pförtner nickte und setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, als hinter Edward eine Stimme erklang.
»Mister Ayrton? Dann sind Sie der junge Mann, der bei dem unglücklichen Vorfall zugegen war?«
Edward wandte sich um. Nicht weit entfernt hatte sich eine Tür geöffnet und darin stand ein hagerer Mann mit stahlgrauem Haar. Auf einer Adlernase saß eine Brille mit goldenem Rand. Und auch wenn dieser Mann nicht den weißen Kittel trug, den der junge Adlige erwartet hatte, erweckte er doch sofort den Eindruck, einer der Ärzte der Anstalt zu sein.
Nach einer kurzen Verzögerung nickte Edward. »Ja, der bin ich.«
»Mein Name ist Sartorius.« Der Arzt winkte ihn näher, musterte Edward dabei, wie manch anderer ein faszinierendes Insekt gemustert hätte. Letztendlich blieb sein Blick an den Kratzern hängen.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo wir Ihre Verlobte untergebracht haben. Und Sie müssen mir unbedingt genau erzählen, was geschehen ist. Etwas Ähnliches habe ich noch nicht erlebt. Miss Halvston hat unglaubliche Kräfte entwickelt! Wirklich faszinierend.«
Edwards Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Die Art, wie Doktor Sartorius über Julietta sprach, als wäre sie nicht mehr als ein interessantes Studienobjekt, stieß ihm bitter auf. Doch er trat ohne ein Wort der Erwiderung durch die Tür, aus der der Doktor gerade erst gekommen war, hinein in einen düsteren Gang. In der Ferne glaubte er, einen Schrei zu hören. Er schauderte.
»Im Moment scheint einiges los zu sein, in dieser wunderbaren Stadt«, plauderte der Doktor drauf los. »Ihre Verlobte ist bereits die Zweite, die hier innerhalb kürzester Zeit eingeliefert worden ist. Allerdings ist der Fall von Miss Halvston eindeutig der interessantere der beiden. Die andere Dame hat lediglich einen schweren Schock erlitten. Wobei ich es erstaunlich finde, dass der Anblick einer Leiche auf manche Menschen eine derart verstörende Wirkung hat.«
»Wie geht es Julietta jetzt?« Edward nutzte eine kurze Sprechpause eilig, um das Thema zu wechseln. Das Letzte, was er im Moment hören wollte, waren die grausigen Geschichten der anderen Anstaltsinsassen.
»Miss Halvston schläft. Wir haben ihr so viele Beruhigungsmittel verabreicht, wie wir konnten, ohne einen dauerhaften Schaden zu hinterlassen.«
»Was denken Sie, dürfte der Grund für ihr Verhalten gewesen sein?«
Sartorius hob in einer ratlosen Geste die Schultern. »Miss Halvston hat noch nie zuvor Verhaltensauffälligkeiten gezeigt. Die naheliegendste Erklärung ist, dass sie mit irgendeiner Substanz in Berührung gekommen ist, die dieses Verhalten bewirkt hat. Verbotene Experimente mit Plasmarückständen brachten einige solcher Substanzen hervor. Das habe ich auch dem Vater der jungen Dame bereits gesagt. Er hat daraufhin äußerst zornig reagiert.«
Der Blick des Doktors schweifte in die Ferne und er schien über irgendetwas nachzudenken, das ihn amüsierte, denn ein Schmunzeln ließ seine Mundwinkel zucken. Edward vergrößerte unauffällig den Abstand zwischen sich und Sartorius. Dieser Mann war ihm unheimlich.
Mit einem Ruck kehrte der Doktor kurz darauf in die Gegenwart zurück. »Hat Miss Halvston irgendetwas Besonderes gegessen oder getrunken?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Unauffällig glitt Edwards Hand zu seiner Westentasche. Er fühlte den kleinen, harten Gegenstand darin, den er vorsichtshalber in ein Taschentuch eingewickelt hatte. Für einen Moment überlegte er, Doktor Sartorius davon zu erzählen, dann entschied er sich dagegen. Man würde es ihm nur wegnehmen und das wollte er nicht.
Der Doktor blieb vor einer eisernen Tür stehen und schob eine Klappe beiseite, die darin eingelassen war.
»Hier ist es. Sie können nicht hinein, das wäre zu riskant.«
Edward zögerte, sah von dem Arzt zu der Klappe und wieder zurück. »Könnte ich einen Moment mit ihr allein haben?«
Doktor Sartorius zuckte mit den Schultern. »Sicher, wenn Sie denken, dass es ihnen etwas bringt. Mein Büro befindet sich gleich den Gang runter. Wenn Sie danach dort hinkommen, können wir uns in Ruhe über den Vorfall unterhalten.«
Mit diesen Worten ging er davon und Edward blieb allein vor der Zellentür zurück. Mit klopfendem Herzen schob er sich näher an das Guckloch heran und spähte hindurch.
Juliettas Gestalt lag im Halbdunkel auf einem schmalen Bett. Edward konnte dicke Lederriemen erkennen, die ihre Hände hielten, und unzählige Kratzer und Blutergüsse verunzierten ihren Kopf. Es waren letztendlich fünf starke Männer nötig gewesen, um sie zu halten.
Für einen Moment pochte wieder der Schmerz durch die Verletzungen in Edwards Gesicht und er glaubte sich an die Grube zurückversetzt. Wieder hörte er die Schreie der Menschen, als seine Geliebte erst ihre Begleiter und dann wildfremde Personen attackierte. Kratzte, schlug, trat und biss.
Ihn hatte ihr Angriff zu Boden geworfen und im Liegen hatte er es gesehen: ein kleines Ding, das im Staub blitzte.
Edward zog das Taschentuch aus seiner Westentasche und wickelt vorsichtig den Gegenstand aus, der sich darin befand. Er drehte das winzige Projektil aus Kupfer und Glas zwischen den Fingern, betrachtete es im spärlichen Licht. Dann sah er wieder durch die Klappe zu Juliettas regloser Gestalt.
»Ich schwöre«, flüsterte er, »dass ich denjenigen finden werde, der dir das angetan hat. Wer auch immer es war, er wird dafür büßen.«
…
Das Erste, was Eric sah, als er die Augen öffnete, war das Gesicht des toten Mannes namens Mister Ferret. Das war mit Sicherheit nicht der angenehmste Anblick, den ein Mann beim Erwachen haben konnte, aber wie kein anderer war er dazu geeignet, Eric in die Gegenwart zurückzuzerren. Ihn mit einem himmlischen Wesen zu verwechseln war nahezu lächerlich – genauso wie die geblümte Badekappe, die der dünne Mann trug. Immerhin bedeutete es, dass er, Eric, aller Wahrscheinlichkeit nach noch am Leben war. Und dass Jamie und Hartlefield nur ein Traum … »Hartlefield!«
»Nein, Sir. Mister Ferret«, entgegnete Mister Ferret. »Mister Hartlefield ist um einiges toter als ich. Und wohl auch als Sie, Sir, wenn ich das so sagen darf. Willkommen zurück.« Er lächelte. Was seinen Anblick weder attraktiver, noch beruhigender machte.
»Nein, ich meine, ich weiß jetzt, wer Hart … Autsch!« Eric hatte versucht, sich auf der Pritsche aufzusetzen. Eine Bewegung, die mit stechendem Kopfschmerz belohnt wurde. Matt und vorsichtig ließ er sich zurücksinken.
»Lassen Sie es langsam angehen, Sir.« Mister Ferret legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. »Mister Coler, das ist der Mediziner dieser Abteilung, hat das schon erwartet. Er meinte, Sie sollen das hier trinken, sobald Sie wieder bei Bewusstsein sind.« Er hielt Eric ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit vor die Nase. »Das dürfte gegen die Auswirkungen des Giftes und der Drogen helfen, die Ihnen in den letzten Tagen verabreicht worden sind.«
Gehorsam nahm Eric einen Schluck und verzog das Gesicht. Nur zäh drangen die zahlreichen Informationen zu ihm vor. »Gift?«, fragte er. »Drogen? … Abteilung?«
»Oh. Entschuldigen Sie. Woran können Sie sich erinnern?«
Eric starrte an die schmutzige, von alten, schwarzen Spinnweben verklebte Decke und versuchte, dem Schmerz hinter seinen Augen Herr zu werden. »Ich erinnere mich«, sagte er stockend, »an die Straße vor der Bakers Hall. Hartlefield. An Tunnel. Und Angreifer. An Dunkelheit … und eine Höhle voller Wasser. An ein Wesen mit Fangarmen! Und daran, dass Sie tot waren, Mister Ferret …«
»Das bin ich immer noch, Sir«, erwiderte Mister Ferret unbekümmert. »Seit über vierzig Jahren. Keine Sorge, Sir, mir geht es hervorragend. Mister Bruggs ist ein begabter Mechaniker und seine Werkstatt hier ist wirklich erstklassig ausgestattet. Mister Coler hat ebenfalls gute Arbeit geleistet und mich ordentlich vernäht. Ich bin also ganz der Alte, Sir.«
Eric musterte das fahle, eingefallene Gesicht und die tote Haut. Ihn schauderte. Lieber nahm er einen weiteren Schluck aus dem Glas. Die Kopfschmerzen schienen tatsächlich davon zu schwinden. »Freut mich zu hören, Mister Ferret. Aber würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir zu erklären, wo wir sind und was passiert ist?«
»Ah. Entschuldigen Sie bitte!« Mister Ferret lächelte abermals und Eric wünschte sich, er würde es nicht tun. »Wir sind noch immer im Quartier der Seuchenschutzbehörde, Abteilung Tanners Flat. Mister Coler war der Ansicht, dass man Sie auf keinen Fall bewegen dürfe. Also haben wir Sie hier untergebracht.«
Während Eric langsam das Glas mit der bitteren Flüssigkeit leerte, setzte ihn Mister Ferret über die Ereignisse der letzten beiden Tage in Kenntnis. Tatsächlich waren es gute zwei Tage gewesen, in denen der junge Mann unter schwerstem Fieber mit dem Gift der Meduse gerungen hatte. Die Lederhaut namens Coler hatte sich als der Mediziner der Abteilung erwiesen und Eric nach Konsultation eines Kollegen für keinesfalls transportfähig erklärt. Sicherheitshalber hatte man ihn in einen der Wohnräume verfrachtet, und Mister Ferret war bei ihm geblieben.
Zum einen, um seinen Vorgesetzten im Blick zu behalten – zum anderen, weil er selbst dringend Hilfe benötigte. Trotz anfänglicher Zurückhaltung hatte sich Bruggs als äußerst geschickter Mechaniker gezeigt. Die Aufgabe, Mister Ferrets zahlreiche beschädigte Einbauten wieder in Gang zu setzen, hatte ihn schnell mit professionellem Ehrgeiz erfüllt und schließlich seine Abneigung gegen den wandelnden Toten verdrängt.
Mit fasziniertem Unglauben ließ sich Eric über die wahre Natur seines Untergebenen aufklären. Er hatte bislang wenig über die besonderen Mitarbeiter des Ministeriums gehört und das meiste als völlig überzogenen Klatsch abgetan. Dies brachte ihn allerdings zu der Frage, wo der Dritte des Teams abgeblieben war.
»Der Pater hatte es recht eilig, uns zu verlassen, Mister van Valen.« Mister Ferret zuckte mit den Schultern. »Murmelte davon, unsere Vorgesetzten in Kenntnis zu setzen und danach etwas überprüfen zu müssen. Ich hab ihn seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
Eric nickte und unternahm einen erneuten Versuch, sich aufzurichten. Kurz darauf saß er schwankend und aufgrund der Anstrengung schwer atmend auf der Kante der Pritsche und sah sich um. Die Kammer war klein und fensterlos, was angesichts der Tatsache, dass die Quartiere der Lederhäute noch zwei Stockwerke unter Straßenniveau lagen, allerdings verständlich war. Eine vergitterte Plasmalampe tauchte die unverputzten Backsteinwände in das typisch grünliche Licht der ärmeren Stadtviertel Steamtowns. In einer Ecke des Raumes ließ ein rumpelnder, quietschender und stöhnender Heizkörper einen altersschwachen Dampfboiler tief in den labyrinthischen Eingeweiden der Pumpstation erahnen. Und dem Geruch nach gediehen in den Wänden Schimmel und Stock äußerst prächtig. Mehr Einrichtung als einen metallenen Spind, einen kleinen Tisch und einen Stuhl wies die Kammer nicht auf, die sonst einem der Männer der Seuchenschutzbehörde als Unterkunft diente.
»Mister Ferret«, stellte er fest, »ich weiß jetzt, wo ich den Toten – diesen Hartlefield – schon einmal gesehen habe. Es ist von unbedingter Wichtigkeit, dass wir die Ermittlungen so zügig wie möglich wieder aufnehmen.«
Ferret zuckte abermals mit den Schultern. »Wenn Sie’s sagen, Sir. Die Lederhäute sind sich allerdings sicher, dass wir den Mörder nicht hier unten finden werden. Sie haben versprochen, sich für uns umzuhören. Aber bisher sieht es so aus, als hätten wir die Spur verloren.«
Eric seufzte. »Gut. Dann bleibt uns vorerst nur, die Zeugin des zweiten Mordes zu befragen. Falls sie noch am Leben ist.«
»Sie meinen die Frau im Coleman-Asylum, Sir? Wollen Sie sich das in Ihrem Zustand wirklich zumuten?«
»Ich muss, Mister Ferret. Ich denke, das bin ich Mister Hartlefield schuldig. Wenn Sie mir also meine Kleider reichen mögen?« Er nickte in Richtung des sorgfältig gefalteten Stapels, den er auf dem Stuhl am Tisch entdeckt hatte. »Und … Mister Ferret? Was soll eigentlich das da sein?« Mit einer unbestimmten Geste wies er auf die Badehaube, die den Kopf des dünnen Mannes zierte.
»Das hat persönliche Gründe«, sagte Ferret in einem Tonfall, der andeutete, dass er es vorziehen würde, dieses Thema nicht zu diskutieren. Er reichte Eric die frisch gewaschene Kleidung. »Mein Bowler war leider nicht mehr aufzufinden. Ich werde mir Ersatz besorgen, sobald wir zurück an der Oberfläche sind. Sind Sie sicher, dass Sie jetzt schon aufstehen sollten?«
»Wir haben keine Wahl, Ferret. Höchste Eile ist geboten. Wo zwei Morde passiert sind, steht zu befürchten, dass bald auch ein Dritter folgt. Falls wir nicht bereits zu spät sind!«
Kurz darauf saßen Eric und Mister Ferret in einer Mietdroschke, die sie zum Coleman-Asylum bringen sollte. Das Innere des Fahrzeugs roch muffig und durchdringend nach nassem Pferd sowie erbrochenem Bier. Und obwohl Eric sich ausgiebig gewaschen hatte und die Kleidung gründlich gereinigt und gebügelt worden war, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er noch immer einen leichten Hauch von Kanalisation mit sich führte. Mister Ferret, der sich wieder in seinen alten Mantel vergraben hatte, saß schweigend neben ihm. Glücklicherweise hatte sich der dünne Mann vor Abfahrt der Badekappe entledigt und einen Bowler aus dem Fundus der Lederhäute geliehen. Allerdings sah dieser ebenso abgeschabt aus wie der verloren gegangene.
Eric starrte durch die beschlagenen Scheiben nach draußen in die nebligen Straßen. Es war ein ausgesprochen trüber Tag. Der Nebel drückte von der See herein und schob den Gestank von Salz, Fisch und Fäulnis aus den Hafenvierteln stadteinwärts. Dort mischte er sich mit dem Qualm tausender Kohlefeuer, dem beißenden Aroma nasser Wollkleidung und schwitzender Pferde. Die allgegenwärtige, besondere Geruchsnote Steamtowns legte sich unvermeidlich darüber: der säuerliche Geruch des Plasmas.
Die zischenden Dampfwagen, die sich stetig ihren Weg zwischen den Droschken und Pferdefuhrwerken bahnten, zogen stinkende Wolken des verbrannten energetischen Stoffes hinter sich her. Das war wohl, wie Eric beiläufig dachte, der Preis des Fortschritts, den Steamtown zu zahlen hatte. Und es war der Grund, warum jene, die es sich leisten konnten, die Stadt verließen und ins Umland umsiedelten, wodurch sie die stickige Innenstadt immer mehr den Ärmeren überließen. In Wahrheit hatte der junge Agent jedoch kaum einen Blick für seine Umgebung. Vielmehr betrachtete er verstohlen in der Spiegelung des Fensters die Kreatur neben sich.
Natürlich hatte er davon gehört, dass vielleicht ein halbes Dutzend dieser Kreaturen ihren Dienst in verschiedenen Behörden versah. Selbst wenn er nie einen von ihnen persönlich zu Gesicht bekommen hatte. Aber wie jeder Bürger Steamtowns kannte auch er die düsteren Geschichten um die wandelnden Toten. In sein Gedächtnis waren die Schrecken jener entsetzlichen Stunden von Arminton eingebrannt. Obwohl er damals keine Verwandten verloren hatte. Als Kind war er weitab von dem Viertel zu Hause gewesen, in dem die Straßen gebrannt hatten. Doch selbst er hatte die Verzweiflung gespürt, die alle Erwachsenen erfasste. Viele hatten an diesem Tag das Ende der Welt kommen sehen, als durch die Hände der wandelnden Toten Hunderte von Menschen ihr Leben gelassen hatten. Seitdem wurden die Wiedergänger gefürchtet und verfolgt, wo immer sie sich erhoben.
Sicherlich, die dünne, unscheinbare Kreatur neben ihm wirkte harmlos genug. Zudem – wenn Ferret einer jener wenigen seiner Art war, die für die Ministerien arbeiteten, dann musste seine Unbedenklichkeit wohl zweifelsfrei feststehen. Dennoch … Wer konnte schon sagen, was hinter den starren, schwarzen Augen vor sich ging? Wer konnte wissen, welch unnatürliche Kraft in diesen dürren Händen schlummern mochte? Eric schüttelte es unwillkürlich. Notgedrungen riss er sich zusammen und wandte sich seinem Begleiter zu. Ein weiterer seltsamer Gedanke ging ihm durch den Kopf.
»Mister Ferret«, fragte er nachdenklich, »an wie vielen Mordermittlungen waren Sie bisher beteiligt?«
Der dünne Mann schien einen Augenblick zu überlegen. »Etwa an einem Dutzend, Sir. Weshalb?«
»Tatsächlich? Ich war davon ausgegangen, ihresgl … ich dachte, Plasmierte würden keine Sicherheitseinstufung erhalten, wie sie für eine Ermittlung dieser Art notwendig ist.«
»Nein, Sir. Die bekommt unseresgleichen auch nicht.« Mister Ferrets Wortwahl ließ keinen Zweifel daran, dass ihm Erics Ausrutscher nicht entgangen war. »In der Regel werde ich hinzugezogen, um die technischen Aspekte von Verwundungen und Waffeneinwirkungen zu beurteilen. Zum einen bin ich ausgebildeter Techniker und zum anderen hat sich herausgestellt, dass ich mit den verfallsbedingten Unannehmlichkeiten einer solchen Untersuchung besser umgehen kann, als die meisten Lebenden, Sir.«
»Das heißt doch aber, dass Sie noch nie an einer direkten Ermittlung beteiligt waren. Warum also jetzt?«
»Keine Ahnung, Sir.« Mister Ferret zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise dachte man, dass ich an diesem Tatort nichts mehr kaputtmachen könnte.« Er lächelte schmal. Eric erschien es plötzlich merkwürdig, dass ein wandelnder Toter überhaupt über so etwas Ähnliches wie Humor verfügte. »Und Sie, Sir?«
»Keine. Es ist meine erste Ermittlung dieser Art. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?«
Mister Ferret starrte Eric einen Moment lang an. »Nein, Sir«, sagte er dann. »Mir kommt nur selten etwas seltsam vor. Ich bekomme meine Aufträge und ich erfülle sie. Darüber nachzudenken, gehört nicht zu meinen Aufgaben. Ich hatte es so verstanden, dass das in Ihr Aufgabengebiet fällt.«
Eric seufzte und sah aus dem Fenster. In der Ferne war bereits ihr Zielort zu sehen. »Na gut. Damit haben Sie vermutlich recht, Mister Ferret. Sprechen wir von anderen Dingen: Waren sie schon mal im Coleman-Asylum?«
Wieder starrte ihn Mister Ferret einen Moment lang an und diesmal war es Eric so, als könnte er so etwas wie Unwohlsein in den Zügen des Wiedergängers entdecken. »Ich hatte bereits das Vergnügen, Sir. Alle Plasmierten wurden in dieser Einrichtung evaluiert und müssen sich jährlich zu einer Beurteilung dort einfinden.«
»Das wusste ich nicht«, staunte Eric. »Können Sie mir sagen, was uns erwarten wird?«
»Das Coleman-Asylum ist die führende Nervenheilanstalt von Steamtown und als solche genießt sie weltweit den Ruf höchster Kompetenz und Modernität«, sagte Mister Ferret in betont neutralem Tonfall. Dann, nach einem Moment des Schweigens ergänzte er: »Das ist meine offizielle Meinung, Sir. Wenn Sie mir eine persönliche Bemerkung gestatten: Sollten Sie einen Freund oder Verwandten haben, auf dessen geistige Gesundheit Sie wahrhaft Wert legen, so sorgen Sie dafür, dass man ihn auf keinen Fall dorthin bringt. Egal, was man Ihnen erzählen mag.«
Eric warf seinem Begleiter einen scharfen Blick zu. »Tatsächlich?«
»Tatsächlich.« Mister Ferret starrte unbewegt geradeaus. »Sie werden es gleich sehen, Sir. Wir sind da.«
Während Mister Ferret den Droschkenkutscher bezahlte, blickte Eric etwas unsicher an dem düsteren Gebäude empor. »Coleman-Asylum« stand über dem doppelflügeligen Tor zum Vorhof des Sanatoriums. Es war ein durchaus beeindruckendes Tor. Eiserne Stangen von der Stärke eines Kinderarmes waren zu eleganten Ranken geformt und mit ebenfalls geschmiedeten Blättern und metallenen Rosenblüten verziert. Diese konnten dennoch nicht die Dornen verbergen, die den oberen Teil des Tores krönten – sowie den gesamten Eisenzaun, der den kleinen Vorplatz umgab.
Eric hielt den Wächtern seine Identifikationskarte entgegen und nannte die Dienstnummer. Ohne weitere Fragen wurden sie durchgewunken. Das schwere Tor schloss sich quietschend hinter ihnen, kaum dass sie es passiert hatten. Langsam gingen die beiden Männer über den gepflasterten Hof.
Das Coleman-Asylum erhob sich als schmutzig grauer Kasten aus Sandstein gegen den ebenso grauen Himmel. Mehr als 150 Meter lang wie breit und vier Stockwerke hoch. Auch der Rand des mit schwarzem Schiefer gedeckten Daches war mit eisernen Dornen besetzt. Reihe um Reihe der hohen, schmalen Fenster zog sich an der Fassade entlang. Gitter sicherten jede Öffnung. Der kleine Hof direkt vor dem Eingang des Komplexes war die einzige Unterbrechung in der monotonen Front, die ein verschrobener Architekt mit geschmacklosen Ornamenten und düsteren Statuen zu verzieren versucht hatte. Ziemlich erfolglos, wie Eric im Stillen befand. Der Gesamteindruck war ausgesprochen deprimierend und das gedämpfte Stöhnen und Jammern, das durch die verschlossenen Fenster drang, trug nicht zu seiner Verbesserung bei.
Eric fröstelte, als er die wenigen Stufen zum Eingang hinaufstieg und die große Halle betrat. Er näherte sich mit betont forschen Schritten dem Empfangstisch. Mister Ferret folgte direkt hinter ihm. Der Pförtner las ungehemmt in der aktuellen Ausgabe der Tageszeitung und ließ sich dabei auch nicht von den Neuankömmlingen stören. Eine reißerische Schlagzeile prangte auf der Titelseite.
GEISTERSCHRECKE TERRORISIERT WEITERHIN SHAMPTON! POLIZEI MACHTLOS!
Eric räusperte sich vernehmlich. Die Zeitung sank herab und ein Paar gelangweilter Augen blickte ihm entgegen. »Sie wünschen?«
»Leutnant Eric van Valen. Dienststelle XXIV-02-003-B16. Ich würde gern mit dem zuständigen Arzt sprechen. Vor einigen Tagen wurde von Kollegen eine Patientin eingeliefert, die Zeugin eines Mordes geworden ist. Wissen Sie, wen ich meine?«
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Ich … was? Nein, natürlich nicht.«
»Dann tut es mir leid, ich …« Die Worte des Pförtners erstarben, als neben Erics Schulter das Gesicht Mister Ferrets auftauchte. Der dünne Mann lächelte.
»Hallo Reggory«, sagte Mister Ferret mit seiner raspelnden Stimme. »Ich hoffe, deinen Fingern geht es wieder gut.«
Der Pförtner zog seine Hände samt Zeitung vom Tisch, als hätte er sich verbrannt. Er glotzte Mister Ferret an. Schweigend und mit offenem Mund. Seine Gesichtsfarbe wechselte von gesundem Rosa in ein wächsernes Weiß.
Eric schüttelte verwundert den Kopf. Bevor er Mister Ferret dazu befragen konnte, wurde er durch eine neue Person unterbrochen.
»Mister Ferret? Ich hätte nicht erwartet, Sie außerhalb Ihrer Termine hier anzutreffen. Was verschafft Reggory und mir das Vergnügen?«
Eric wandte sich um. Von der anderen Seite der Halle näherten sich zwei Männer. Der ältere der beiden war ein hagerer Herr mit stahlgrauem Haar, auf dessen Adlernase eine in Gold gefasste Brille thronte. Einer der Ärzte, wie Eric vermutete. Obwohl dieser hier keinen Arztkittel trug. Sein Begleiter war ein junger, elegant gekleideter Mann, ungefähr in Erics Alter. Die angenehme Gesamterscheinung wurde durch einige hässliche Kratzer im Gesicht beeinträchtigt. Die Verwundungen wirkten nur wenige Tage alt und waren von einem dicken, braunen Schorf bedeckt. Es schien fast so, als hätte ihm eine Frau ihre Nägel mehrfach über die Wangen gezogen. Nun, höchstwahrscheinlich war der Kerl aufdringlich geworden.
Jetzt drehte sich auch Mister Ferret um. »Doktor Sartorius«, sagte er leise. »Meine Pflichten zwingen mich dazu. Das ist Leutnant van Valen, Agent des Ministeriums. Ich vermute, Sie sind genau der Mann, den wir suchen, Sir.«
Der Grauhaarige musterte den Agenten. »Verstehe. Wenn Sie sich noch einen Augenblick gedulden würden, Leutnant. Ich verabschiede nur schnell meinen Gast.« Damit wandte er sich seinem Begleiter zu. «Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Ayrton. Ihre Verlobte wird sich bald wieder auf dem Weg der Besserung befinden. Sie ist hier in den besten Händen, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf. Ich bin zuversichtlich, dass diese unerquickliche Begebenheit in Kürze vollständig der Vergangenheit angehört.« Er nickte dem Mann zu, was wohl bedeutete, dass er entlassen war. Der warf einen unschlüssigen Blick auf den Arzt, verneigte sich, deutete Eric und Mister Ferret gegenüber eine knappe Verbeugung an und marschierte in Richtung Ausgang. »So«, wandte sich Doktor Sartorius seinen wartenden Besuchern zu. »Und was kann ich heute für das Ministerium tun?«
»Millicent McManus«, sagte Eric. »Wir wurden informiert, dass eine Dame dieses Namens vor einigen Tagen hier eingeliefert wurde. Sie ist Zeugin eines Mordfalls und wir möchten sie befragen.«
»Misses McManus?« Der Doktor runzelte die Stirn. »Sie ist bereits von der Polizei verhört worden.«
»Fürwahr?«
»Nicht direkt verhört«, wiegelte Sartorius ab. »Denn aus der armen Kreatur ist kein einziges, vernünftiges Wort zu bringen. Das musste die Polizei bereits feststellen.«
»Uns ist aber gesagt worden, sie hätte den Mörder gesehen und beschrieben.«
»Sie hat etwas beschrieben, ja«, korrigierte der Doktor. »Ich und meine Kollegen sind zu der Ansicht gelangt, dass es sich im Fall der bedauernswerten Misses McManus um eine Halluzination handelt. Eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch einen kranken Geist. Ich möchte Sie ungern mit den medizinischen Details langweilen. Wie auch immer, die Polizei hat eine Niederschrift ihres Gestammels erhalten. Wenden Sie sich bitte dorthin. Ich fürchte, es ist nicht möglich, dass Sie die Dame selbst besuchen. Ihr Zustand verschlechtert sich leider stetig.«
»Umso mehr muss ich darauf bestehen, Doktor«, erwiderte Eric. »Es ist von äußerster Wichtigkeit. Weitere Menschenleben könnten in unmittelbarer Gefahr sein und Misses McManus ist unsere einzige Zeugin. Sie verstehen …«
»Und Sie verstehen sicherlich«, unterbrach ihn Sartorius bestimmt, »dass das Wohl der uns anvertrauten Patienten für diese Anstalt oberste Priorität hat, Mister … van Valen?«
»Doktor, Ihnen dürfte bekannt sein, dass ich in kaum einer Stunde mit einer Verfügung des Ministeriums hier vor Ihnen stehen kann, die Sie offiziell zur Kooperation auffordert. Also warum die Umstände, die uns allen das Leben nur unnötig schwer machen?«
Sartorius musterte ihn geringschätzig. »In diesem Fall wäre ich gezwungen, ihrem Wunsch wider besseren Wissens Folge zu leisten. Dann aber lägen Leben und Gesundheit der Patientin auf Ihren Schultern, junger Mann. Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Bringen Sie mir diese Verfügung.«
»Ich frage mich«, sagte Mister Ferret leise und schaute nachdenklich den düsteren Gang entlang, aus dem der Doktor zuvor gekommen war, »ob wir bei der Gelegenheit nicht auch gleich nachsehen sollten, ob die Untersuchungsräume im zweiten Untergeschoss noch vorhanden sind. Ich glaube, mich zu erinnern, dass die dort verwendeten Gerätschaften seit einiger Zeit nicht mehr eingesetzt werden dürfen. Nicht einmal an uns Plasmierten.«
Doktor Sartorius starrte den Wiedergänger an. »Und ich frage mich, ob Ihre letzte Evaluierung nicht zu vorschnell positiv ausgefallen ist, Ferret«, stellte er eben so leise fest.
Mister Ferret erwiderte den Blick aus seinen unergründlichen, schwarzen Augen. »Vielleicht finden wir es bei der Nächsten heraus, Doc. Falls Sie dann noch hier sind.«
»Das … war keine kluge Entscheidung.« Sartorius wandte sich abrupt Eric zu. »Nun gut, Agent van Valen. Auf Ihre Verantwortung und entgegen meiner ausdrücklichen Empfehlung dürfen Sie die Patientin sehen. Folgen Sie mir. Und gehen Sie mir nicht verloren.« Er drehte sich brüsk um und marschierte mit langen Schritten voran.
Eric sah Mister Ferret fragend an. »Was hatte das jetzt zu bedeuten?«
Der dünne Mann zuckte mit den Schultern. »Ich hatte gehofft, er würde sich zu dem Satz ›Sie sind ein toter Mann, Ferret‹ hinreißen lassen.«
…
Pater Grand hatte nichts davon gehalten, sich offiziell abzumelden. Erstens war van Valen nicht bei Bewusstsein gewesen – und würde es so schnell auch nicht sein – und zweitens sah er einfach keine Veranlassung, sich gegenüber Ferret erklären zu müssen. Geschweige denn sich zu rechtfertigen. Außerdem musste er dringend aus der Kanalisation heraus.
Nach einer kurzen Unterredung mit Mister Cummins, dem Leiter der Abteilung 2-E-1, ließ er sich von einem der Lederhäute zurück an die Oberfläche bringen. Er stank unerträglich nach fauligem Abwasser und verwesendem Tentakelschleim. Was er jetzt brauchte, waren ein heißes Bad und ein frischer Anzug. Sogar in seinem Rachen hatte sich ein übler Geschmack festgesetzt, der fortgespült gehörte. Am besten so schnell wie möglich.
Nachdem sie am Überlaufbecken gerettet worden waren, hatte Grand zu seinem Entsetzen festgestellt, das ihm mehr abhandengekommen war, als nur der Zylinder mit dem Okular. Fieberhaft hatte er seine Taschen abgesucht, aber das flache, silberne Fläschchen nicht finden können. Es musste beim Kampf mit dem riesigen Polypen im Überlaufbecken 23 verloren gegangen sein. Grands Hände zitterten. Kalter Schweiß sammelte sich in seinem Nacken und lief den Rücken hinab. Er konnte fühlen, wie sich die Schwäche langsam und unerbittlich an ihn heranschlich. Auf kurz oder lang würde sie ihn zu packen bekommen. Es sei denn, er würde dagegen etwas unternehmen. Grand beschloss, das Bad einstweilen zu verschieben. Das musste warten. Viel wichtiger war, dass er das besorgte, wonach sein Körper und sein Geist verlangten.
Rücksichtslos stoppte er eine der Pferdedroschken auf der Straße und stieg ein. Der Kutscher protestierte, als er den verdreckten und stinkenden Fahrgast näher in Augenschein nahm, und weigerte sich zunächst, Grand zu transportieren. Für den Pater war das nur zu verständlich, denn der Geruch der Kanalisation haftete penetrant an allem, mit dem Grand in Berührung kam. Er ignorierte es trotzdem. Der Pater zückte die heilige Kokarde seiner Kirche und hielt sie dem Mann wortlos unter die Nase. Dieser erbleichte, schlug schnell mit den Händen das Zeichen der Erlösung und schluckte jeden weiteren Protest hinunter. Mit einem Vertreter der Kirche zur heiligen Erweckung wollte er es sich offensichtlich nicht verscherzen.
Grand stieg in der Nähe desselben Etablissements aus, das er erst am Vortag aufgesucht hatte. Die »Bucklige Ratte«. Dabei hatte er eigentlich vorgehabt, diesem Ort einige Zeit fernzubleiben. Insbesondere nach dem Vorfall mit dem Betrunkenen. Aber so wie die Dinge standen, blieb ihm keine andere Wahl. Er musste mit Gus sprechen, wegen mehr als nur einer Sache. Der Pater steuerte jedoch nicht den Vordereingang an. Er wollte nicht mehr als unbedingt nötig gesehen – oder in seinem speziellen Fall – gerochen werden, daher schlüpfte er in eine versteckte Seitengasse. Hier war das Licht deutlich gedämpfter, was an den eng zusammenstehenden Häusern liegen mochte. Auch der Lärm der Straße, der sonst die Luft mit dem Geräusch der Droschken und Dampfkutschen erfüllte, verschwand beinahe vollständig. Friedliche Stille lag über der Gasse. Glucksend schlug das dunkle Wasser des Potoma-Kanals gegen die Kaimauer mit dem steinernen Anleger, die den hinteren Abschluss der Spelunke bildete. Dort befand sich eine unscheinbare Holztür. Der Lieferanteneingang, wie Gus ihn immer nannte. Grand öffnete sie, ohne anzuklopfen.
Der Wirt verstaute gerade die speziellen Waren in einer kleinen Kammer. Waren, die man höchstens unter der Theke erhielt. Wenn überhaupt.
»Solltest du deinen Hintereingang nicht besser absichern, werde ich dich wohl irgendwann mit eingeschlagenem Schädel vorfinden, Gus.«
Der Wirt stoppte mitten in der Bewegung. Dann legte er das Päckchen, das er soeben in einem der Regalböden unterbringen wollte, zurück auf den Stapel, von dem er es genommen hatte. »Mach dir darüber mal keine Sorgen, Sib. Selbst wenn mir dein Zutritt tatsächlich entgangen wäre, überriechen kann man dich nicht einmal auf hundert Meilen gegen den Wind.« Er grinste über das ganze Gesicht. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich nicht näher an dich herantrete. Du siehst fürchterlich aus. Und stinkst zum Himmel. Hast du in einer Kloake gebadet?«
»Wie kommst du nur darauf? Gus, ich brauche Nachschub. Ist etwas da?«
Der Wirt legte nachdenklich die Stirn in Falten. Einen Moment tat er so, als ob er nicht so recht wüsste, was der Pater meinte. »Ich glaube, du musst mir ein wenig auf die Sprünge helfen. Ich habe so viele Dinge in meinem reichhaltigen Angebot, da fällt es mir ab und zu schwer, die Wünsche jedes einzelnen meiner Kunden im Kopf zu behalten.«
»Hör mit dem Theater auf«, platzte Grand ungehalten heraus. »Du weißt genau, was ich haben will.« Er hatte jetzt definitiv keine Zeit für Gus’ dämliche Spielchen. Das Zittern hatte sich in den letzten Minuten verstärkt und es wurde allmählich dringend.
»Ich schaue nach, was ich für dich tun kann. Allerdings ist die Nachfrage nach dem Zeug deutlich gestiegen. Auch wenn du mir natürlich am Herzen liegst, kann ich es mir nicht leisten, alles zu verschenken. Die Zeiten sind schlecht und ich habe eine Frau und sieben Kinder durchzubringen. Es wird diesmal nicht billig.«
»Du hast keine Frau. Und keine sieben Kinder. Also erzähl mir nicht so einen Scheiß. Hast du es jetzt oder nicht?«
»Nur keine Hektik, mein Bester. Außerdem wäre es durchaus möglich, dass ich sieben Kinder hätte. Sogar noch mehr. Zu meinem Glück werden sie mir aber nie auf der Tasche liegen«, feixte Gus. »In Ordnung, Sib. Für dich halte ich doch immer etwas in der Hinterhand. Hier, fang.« Mit einer flüssigen Bewegung warf er Grand ein kleines silbernes Fläschchen zu. Es ähnelte dem, das nun auf dem Grund des Überlaufbeckens 23 lag.
Hastig drehte Grand den Verschluss auf und nahm einen kräftigen Schluck. Noch während die smaragdgrüne Droge seine Kehle hinunterrann, setzte schon die scharfe und überaus beruhigende Wirkung des SMAP ein. Die Sicht des Paters veränderte sich schlagartig, als es sich in den Zellen seines Körpers breitzumachen begann. Er atmete tief ein. Überall sah er einzelne und wunderschön leuchtende Plasmonen umherschwirren, die einen seltsam anmutenden und doch so einnehmenden Tanz um ihn herum aufführten. Ganz so, als ob sie es nur für ihn täten. Nicht einmal das beste Okular Steamtowns konnte ihm diesen Anblick verschaffen. Die Plasmonen bewegten sich mit einer Grazie, einer überirdischen Schönheit, die ihn beinahe hinter das Gefüge der Dinge, den Sinn des Universums, schauen ließ. Aber nur beinahe. Pater Grand erschauerte.
Es war ein unbeschreiblich schönes und erhebendes Gefühl, das er nicht missen wollte und ihn immer wieder dazu brachte, diese verteufelte Flüssigkeit zu trinken. Genauso, wie er es genoss, verabscheute er die Droge. Hasste sie. Denn die Abhängigkeit und die Schwäche, die damit einhergingen, beschämten ihn. In manchen Momenten ekelte er sich regelrecht vor sich selbst. Aber er hatte es gebraucht, damals nach dem Massaker und dem Tod seiner Frau. Es hatte ihm das Leben gerettet. Für verspäteten Hader mit dem eigenen Schicksal war es ohnehin viel zu spät. Außerdem verstärkte SMAP seine natürlichen Fähigkeiten, das Plasma zu formen. Es verbesserte auch die körperliche Konstitution, zumindest eine Zeitlang. Für den Preis der Abhängigkeit. Und einer nicht minderen Gefahr. Er hatte in den letzten Jahren viele Smapper gesehen, wie sich die Abhängigen untereinander nannten, die sich mit einer zu großen Dosis vollends das Hirn vernebelt hatten. Sie irrten nun für immer sabbernd und brabbelnd in den Gefilden der Plasmonen umher. Kein schöner Anblick. Glücklich sah jedenfalls keiner dieser Verlorenen aus.
Langsam verging das überirdische Leuchten in seiner Umgebung. Pater Grand streckte seine Muskeln wie nach einem langen erholsamen Schlaf. Trocken knackten die Schultergelenke.
»Wieder da? Ich habe schon gedacht, du hättest es dir anders überlegt und mir deine Habseligkeiten vor der gegebenen Zeit vermacht. Als Ersatz für den Kaufpreis versteht sich.«
Offensichtlich waren seit der Einnahme der Droge mehrere Minuten vergangen, in denen der Pater regungslos herumgestanden hatte. Verwirrt schüttelte er den Kopf.
Der Wirt hatte seinen umfangreichen Warenstapel bereits vollständig verstaut und sah ihn auffordernd an. »Also?«, fragte er, während er gleichzeitig Daumen und Zeigefinger aneinander rieb.
Der Pater grunzte ungehalten. Er zog drei zerknitterte Geldscheine aus seiner nach Abwasser stinkenden Börse und legte sie dem Wirt in die offene Hand.
Der verzog angewidert die Miene. »Soll mal einer behaupten, Geld stinke nicht. Sei es drum. Im Übrigen hat Cutter Pew unseren Freund von gestern Abend abgeholt. Er wird ihm ordentlich was erzählt haben. Ich schätze, wir werden ihn nicht unbedingt wieder zu Gesicht bekommen.« Gus lachte schäbig. »Gibt es noch etwas, was ich für meinen alten Kumpel tun kann?«
»Ich muss Eleonore sprechen. Kannst du ein Treffen organisieren?«
Gus schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass Whiggs dich nicht sehen will.«
»Es ist dringend. Sonst würde ich dich nicht fragen.«
»Sie hat dir nicht verziehen und wird es wohl auch nie. Irgendwie verstehe ich sie sogar. Immerhin sind damals ihre Eltern umgekommen.«
»Habe ich den Eindruck erweckt, als ob ich deine Meinung hören wollte?«, blaffte Grand. »Dann behalte sie für dich. In ungefähr vier Stunden findet sie mich an der Squire Street, in der Nähe des Hovener Garden. Sie weiß wo. Schaffst du das?«
»Ich sage es ihr. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass sie auftauchen wird. Trotzdem werde ich meinen ganzen Charme spielen lassen, um sie dazu zu überreden. Allerdings schuldest du mir dafür einen weiteren Gefallen.«
»Ja, schon gut. Ich werde es nicht vergessen.« Damit drehte sich Grand um und verließ die »Buckelige Ratte«. Wütend knallte er die Hintertür hinter sich zu und bog erneut in die schmale Gasse ein. Die Strecke bis zu seinem Domizil würde er zu Fuß zurücklegen, in der Hoffnung, sich bis dahin einigermaßen abgeregt zu haben. Dann warteten ein heißes Bad, ein frischer Anzug und vor allem geeignete Ausrüstung auf ihn. Erst danach würde er sich zum Treffen mit Eleonore begeben.
…
Doktor Sartorius marschierte mit einer nur mühsam im Zaum gehaltenen Wut vor ihnen her – mit derart ausladenden Schritten, dass Eric ihm mit seinem noch immer geschwollenen Bein kaum folgen konnte. Es schien den Arzt mit grimmiger Genugtuung zu erfüllen, dem jungen Agenten Unbehagen zu verursachen. Eric schwieg verbissen und hinkte hinterher, so schnell er es eben vermochte. An einem vergitterten Treppenaufgang blieb Sartorius stehen und nahm Mund- und Ohrstück einer Sprechanlage von der Wand. »Sartorius hier. Wilkins? Wir haben hohen Besuch vom Ministerium, der unbedingt Misses McManus sehen möchte. — Was? — Ja, das habe ich versucht, den Herren zu erklären. Allerdings ohne Erfolg.« Er warf einen bedeutsamen Seitenblick auf Eric. »Ich bin mir dessen bewusst. — Lassen Sie öffnen, wir kommen rauf.« Er lauschte einem Moment der blechernen, unverständlichen Stimme aus dem Hörrohr. »Ja, das haben Sie richtig verstanden. Jetzt machen Sie schon!« Ohne eine Antwort abzuwarten, knallte er das Mundstück zurück auf seinen Platz und funkelte Eric und Mister Ferret düster an. Einen Augenblick später zischte die Tür und mehrere stählerne Bolzen glitten in die Wand. Mit einem dumpfen Klacken öffnete sich die Tür und Sartorius stieg vor ihnen die steile Treppe hinauf. Auf dem ersten Absatz warf er einen Blick auf Eric, dem die Stufen sichtlich Mühe bereiteten. »Schließen Sie auf, Agent van Valen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Tatsächlich war es ein ordentlicher Fußmarsch gewesen, den sie zurückzulegen hatten. Wirkte das Asylum von außen lediglich bedrohlich, so war es im Inneren auch noch ausgesprochen verwirrend. Doktor Sartorius führte sie durch eine Vielzahl von Gängen, gesäumt von Reihen metallener Türen, hinter denen Wimmern, Stöhnen, Murmeln und das gelegentliche Schreien oder Singen von unsichtbaren Menschen erklang. In einem Abschnitt war fröhliches Kinderlachen zu hören, das so gar nicht zu der bedrückenden Atmosphäre der weiß und grün gekachelten Gänge passen mochte. In einem anderen ertönte das nervenaufreibende Geräusch eines Blechtellers, der über rau verputzte Wände kratzte. Über allem lag der stechende Geruch von Salmiak und anderen Reinigungsmitteln.
Mehrmals stiegen sie Treppen hinauf und gelegentlich hinab und immer wieder wurden sie von eisernen Gittertüren aufgehalten, die von Sartorius mit einem runden Schlüsselbund geöffnet werden mussten. Nur selten passierten sie einen Pfleger oder Wachmann, der an größeren Kreuzungen in Kammern aus Stahlstreben saß und das Gatter zur nächsten Passage öffnete.
»Wie lange …?«, setzte Eric schließlich atemlos an.
Doktor Sartorius nickte, ohne sich umzusehen, einer an die Wand gemalte Kennzeichnung entgegen. »BT27-III/560-859« war dort zu lesen. »Wir sind da«, erklärte der Arzt barsch. »Misses McManus ist in Zimmer 568 untergebracht«. Er holte den Schlüsselbund zum wiederholten Mal hervor. »Hätten Sie sich etwas gedulden können, bis es der Patientin besser geht, hätten Sie uns allen den Fußmarsch erspart. Dann hätte ich sie nämlich in einen der Besuchsräume bringen lassen. Nun, Sie wollten es ja so.« Er begann, nach dem passenden Schlüssel für die Gittertür zu suchen, die den Gang versperrte.
»568? Das müsste die Tür sein, die offen steht«, bemerkte Mister Ferret.
Doktor Sartorius hielt inne und sah auf. »Was?«
Mister Ferret deutete durch die Gitterstäbe. Nun, da er darauf hinwies, sah auch Eric, dass eine der Türen dahinter halb offen stand.
»Vermutlich ist einer der Pfleger gerade bei ihr«, sagte Sartorius und suchte weiter nach dem richtigen Schlüssel.
»Jetzt?«, erkundigte sich Eric in zweifelndem Tonfall.
Doktor Sartorius zuckte mit den Schultern. »Ich habe Wilkins vorhin davon in Kenntnis gesetzt, dass wir Misses McManus besuchen werden. Also wird er jemanden geschickt haben, der nachsieht, in welchem Zustand die Patientin ist. Wie Sie sich vorstellen können, geht den geistig Verwirrten gelegentlich das Gefühl für Reinlichkeit oder Anstand verloren.« Er probierte einen der Schlüssel im Schloss und rüttelte probehalber an der Tür. Dann fluchte er leise und prüfte den Nächsten. »Es ist üblich, dass einer unserer Mitarbeiter vor einem Besuch eventuelle … Probleme beseitigt. Und schließlich ist nie auszuschließen, dass ein Patient in plötzliche Raserei verfällt, wenn man unangemeldet in seinem Zimmer erscheint.«
Er rüttelte abermals an der Gittertür und versuchte, den Schlüssel zu drehen. »Sehen Sie, das ist ja genau der Grund, warum wir hier überall diese Gitter haben. Sie schützen die Patienten davor, sich in einem Anfall der geistigen Umnachtung selbst oder andere zu verletzen. Sogar eine zarte Person wie Misses McManus könnte Sie, Mister van Valen, in einem akuten Ausbruch vermutlich mitten entzweibrechen.«
»So in etwa?«, erkundigte sich Mister Ferret und drückte die Tür auf. Unter protestierendem Kreischen verbogen sich die Bolzen des Schlosses und zersprangen mit einem scharfen Knall. Mister Ferret schob sich an dem Arzt vorbei. »Ich glaube nicht, Mister van Valen, Sir«, sagte er, »dass es erlaubt ist, bei einer Visite die Tür offen zu lassen.«
»Da hat er recht«, stellte Eric fest und warf Sartorius einen bedeutungsvollen Blick zu, um dann eilig dem dünnen Mann zu folgen.
Doktor Sartorius blieb aufgebracht zurück. »Hey, Moment! Sie können doch nicht …«
Aber Eric hörte schon nicht mehr hin. Dicht auf den Fersen von Mister Ferret erreichte er die offene Tür. Gerade in diesem Augenblick trat ein breitschultriger, großer Kerl in der weißen Kleidung eines Pflegers heraus. Er schob eine Spritze in die Tasche seines Kittels und schloss die Tür, als er Mister Ferret und den jungen Agenten wahrnahm.
»Sie da, was tun Sie hier?«, verlangte Eric zu wissen.
Der Pfleger senkte den Kopf und nickte einen knappen Gruß, bevor er sich umwandte und wortlos in die entgegengesetzte Richtung davonging.
»Hey! Ich habe Sie etwas gefragt, Sir!«, rief Eric dem Rücken des Mannes hinterher.
Mister Ferret riss die Tür des Zimmers auf, ohne den Riegel an der Außenseite zu beachten. »Mister van Valen, Sir«, sagte er leise. Eric sah sich um und wusste, was der Wiedergänger meinte. Eine kleine, grauhaarige und zerbrechlich wirkende Frau lag auf einem Metallbett, nur von einem dünnen Überwurf bedeckt, jedoch an Händen und Füßen an den Rahmen der Lagerstatt gefesselt. Ihre Augen starrten ausdruckslos an die weiße Decke. Ihr gesamter Körper bebte vor extremster Anspannung. Es war klar, dass sich die Frau im Zustand eines heftigen Schocks befand.
Eric wirbelte herum und riss seine Hoegle hervor. »Sie da! Bleiben Sie sofort stehen. Das ist ein Befehl!« Der Pfleger entfernte sich, weiterhin ruhigen Schrittes. Gerade so, als hätte er Eric nicht gehört. »Verdammt! Bleiben Sie auf der Stelle stehen und heben Sie die Hände. Sonst sehe ich mich gezwungen, auf Sie zu schießen!«
Der Mann schien von dieser Drohung vollkommen unbeeindruckt. Stattdessen griff er in eine Tasche und förderte einen Schlüsselbund zutage, um das Gitter am anderen Ende des Ganges aufzuschließen.
Eric feuerte. Die Kugel schwirrte dicht am Kopf des Pflegers vorbei und zerplatzte an den eisernen Gitterstäben. Als der Kerl noch immer keine Reaktion zeigte, biss Eric die Zähne zusammen und schoss abermals. Diesmal traf er den Mann in den Rücken. Doch statt zuckend zu Boden zu fallen, wandte er nur mit einem Knurren den Kopf. Plötzlich wurde sich Eric der Tatsache bewusst, dass dieser Pfleger dieselbe Schwärze in den Augen aufwies wie Mister Ferret. »Ach, zum …!«, sagte er mit gepresster Stimme und feuerte nochmals, zweimal, dreimal. Die gläsernen Geschosse zerbarsten an Arm, Oberkörper und Gesicht des Pflegers und verspritzen ihr glühendes Plasma. Die einzige Antwort des Mannes war ein erneutes Knurren. Er zog den Kopf ein und stürmte auf Eric los. Zwei weitere Kugeln, die an ihm zerschlugen, ignorierte er vollkommen. Ein leises Zischen wies darauf hin, dass das Magazin des Agenten leer war.
»Nein!«, hörte er den entsetzten Ruf des Doktors hinter seinem Rücken, dann war der bullige Mann über ihm. Oder beinahe. Im buchstäblich letzten Augenblick traf Mister Ferrets Faust mit markerschütternder Wucht den Brustkasten des Pflegers. Der massige Mann blieb stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Zu Erics höchstem Entsetzen jedoch wurde er nicht zurückgeschleudert, um mit einem faustgroßen Loch in der Brust liegen zu bleiben. Stattdessen knurrte er und fixierte seinen Widersacher. Für eine reglose Sekunde starrten jettschwarze Augen in jettschwarze Augen. Dann hob der Pfleger die eigene, tellergroße Pranke, griff nach Mister Ferrets Gesicht und rammte dessen Kopf knirschend ins Mauerwerk.
…
Es wunderte Grand, dass er es bis zu seinem Haus geschafft hatte, ohne nennenswertes Aufsehen zu erregen. Immerhin roch er wie eine pünktlich zum heißesten Tag des Jahres übergelaufene Jauchegrube. Seit mehreren passierten Gassen war er niemandem mehr begegnet. Droschken oder Besucher verirrten sich nur selten nach Sticky Square, dem Viertel, das den Verlorenen und den Ausgestoßenen gehörte. Hier kümmerte man sich nur um sich selbst und seine eigenen Belange. Jetzt, da er an seinem Refugium angekommen war, spürte er die Anstrengungen der vergangenen Stunden. Erschöpfung machte sich in seinen Knochen breit.
Mit einem müden Ächzen schabte er die Sohlen der Schuhe über das Stiefeleisen am Eingang, um den Dreck des Weges abzustreifen. Dann griff er, als er sich einen Moment unbeobachtet wähnte, hinter einen losen Backstein in der Mauer, holte den Eingangsschlüssel hervor und schloss auf.
Grands Haus war nicht gerade bemerkenswert. Klein und rotgrau schmiegte es sich links und rechts beinahe windschief an weitere, gesichtslose Gebäude seiner Art. Den dünnen Streifen Erde vor seinem Heim konnte man selbst beim besten Willen nicht einmal als spärlich bezeichnen. Von grünen Pflanzen, die dem Anblick etwas Geruhsames oder gar Gemütliches verliehen hätten, war weit und breit nichts zu sehen. Man hätte fast den Eindruck gewinnen können, dass der marode Holzzaun, der das Grundstück nach vorne zur Straße hin abtrennte, sogar das Unkraut davon abhielt, seine Wurzeln an diesem trostlosen Ort einzugraben. Das flache, graue Dach war mit zerbrochenen Schindeln übersät. In der Wand klebten milchige Fensterscheiben, durch die man nur mit Mühe hindurchblicken konnte. Es war wahrlich nicht viel, aber es war seins. Auch wenn er es hasste. Immerhin ging ihm hier niemand auf die Nerven.
Selbst das Inventar mutete schlicht und teilweise überraschend schäbig an. Ein verschlissenes Sofa, dessen Federn unentwegt versuchten, ihre Freiheit durch den fadenscheinigen Stoff zu erlangen, ein Holztisch mit einem einsamen Stuhl und ein muffiger Kleiderschrank mit einem schon lange abgebrochenen Türknauf. Nicht gerade einladend. Grand zog sich die stinkenden Klamotten aus, warf sie auf einen Haufen in der Ecke und betrat das Badezimmer. Dort ließ er heißes Wasser in die Wanne laufen – einem Relikt aus besseren Zeiten – legte sich hinein und schloss für eine Weile die Augen.
Ein weit entfernter Schrei – einem Nachhall eines dunklen Traumes aus der Vergangenheit gleich – schreckte ihn aus seinem Schlummer. Er war tatsächlich eingeschlafen und viel zu spät dran. Eleonore würde nicht warten. Nicht eine Minute und besonders nicht wegen ihm. Hastig wusch und trocknete er sich ab, nahm frische Kleidung aus dem Schrank und zog sie über. Dann griff er nach dem braunen Karton, der auf dem obersten Schubfach lag, und stellte ihn auf den Holztisch. Vorsichtig hob er den Deckel.
Zum Vorschein kam das Werkzeug eines Ætheromanten der höheren Weihen, eines Priors der Kirche zur heiligen Erweckung. Ein Okular aus blitzenden Edelmetall und funkelndem Kristallglas. Filigrane Intarsien aus seltenen Halbedelsteinen verzierten die Einfassung und verstärkten den Eindruck einer überaus wertvollen Arbeit. Grand hatte das Okular lange nicht mehr in den Händen gehalten. Genau genommen seit dem Vorfall von Arminton. Doch da die einfachere Ausführung des Gerätes nun in den Tiefen des Überlaufbeckens lag, blieb ihm keine andere Wahl. Dort, wo er hinzugehen trachtete, würde er dringend eines brauchen. Und einen Ersatz konnte man nun mal nicht in jedem beliebigen Warengeschäft bekommen.
Eine Träne schlich sich in seine Augen und Grand wischte sie mit einem unwirschen Knurren weg. Er steckte das kostbare Okular in die Tasche. Er hatte keine Zeit für Sentimentalitäten. Es gab da diese wichtige Verabredung, die er auf keinen Fall verpassen durfte. Aus einer Schublade am Fuß des Schranks förderte er Papier und Tinte zum Vorschein. Schnell kritzelte er einige Zeilen auf den Bogen und faltete es notdürftig zusammen. Das Ministerium würde wissen wollen, was aus der kleinen Abteilung geworden war, die sich vor einer halben Ewigkeit in die Kanalisation hinabbegeben hatte, um einen Mörder zu verfolgen.
Der Pater ging allerdings nicht davon aus, dass irgendwer wirklich aufmerksam war und sie vermissen würde. Verstärkung war bestimmt nicht auf dem Weg zu ihnen. Aber es schien vernünftig, keine schlafenden Hunde zu wecken. Mit der Nachricht erklärte er ihren Verbleib, ohne auf seinen Alleingang einzugehen. Weder das Ministerium noch Eric van Valen würden sein Vorgehen gutheißen. Daher war es besser, darüber kein Wort zu verlieren. Wenn es nach ihm ginge, würde er es selbst zu einem späteren Zeitpunkt erklären.
Grand zog die Tür hinter sich ins Schloss und wanderte die Straße hinab zur nächsten Droschkenstation. Dort drückte er einem Jungen eine Münze und das Schreiben an das Ministerium in die Hand, mit dem Auftrag, es sofort an geeigneter Stelle abzugeben. Er stieg in eine der wartenden Kutschen und ließ sich zum Hovener Garden fahren, in dessen Nähe er Eleonore zu treffen gedachte. Er konnte nicht verhehlen, dass seine Finger klamm und zittrig waren. Er fühlte sich nervös – ein Zustand, der eher nicht zu seinem normalen Repertoire gehörte.
Hovener Garden. Kaum jemand erinnerte sich noch daran, dass die wunderschöne Parkanlage mit ihrer umfangreichen, exotischen Pflanzensammlung vor wenig mehr als einem Jahrzehnt auf den Überresten einer ministerialen Kaserne aufgebaut worden war. Grand tat es. Schließlich war er einst selbst dort untergebracht gewesen. Der Einstieg zu den unterirdischen Kammern und Gängen der Kanalisation war ein Geheimnis, das ihm damals nur durch einen Zufall offenbart worden war. Nur die wenigsten hatten Kenntnis davon und die meisten von ihnen waren bereits nicht mehr am Leben. Nur Eleonore, seiner Nichte, hatte er es einmal erzählt, als sie noch ganz klein gewesen war. Er wusste, dass sie es nicht vergessen hatte.
Er betrat den Park, während die Sonne langsam zum Horizont hinabsank und dem Himmel einen rötlichen Schimmer verlieh. Niemand hielt sich in der Nähe auf. Eine alte Voliere mit rostigen, verschnörkelten Gitterstäben stand, teilweise zugewachsen, in einer der ruhigen Ecken des Parks. Der Pater wandte sich nach einem erneuten prüfenden Rundblick genau dorthin. Ein Griff an einen verborgenen Hebel und eine schmale Tür an der Rückwand schwang quietschend auf. Eine Treppe führte den Schatten hinunter.
Grand trat hindurch und verschloss den Eingang sorgfältig hinter sich. Sofort umfing ihn absolute Dunkelheit. Mit einer erst zögerlichen, dann routinierten Bewegung befestigte er das Okular an seinem Zylinder. Er hasste es, das Gerät anzulegen. Fast genauso, wie er sich selbst dafür hasste. Aber hier würde es ihm gute Dienste leisten und er mochte auf diesen Vorteil nicht verzichten. Kaum angebracht verschob sich seine Sicht in den plasmotischen Bereich und gab ihm den Blick auf die Umgebung frei.
Die Treppe führte nur ein kurzes Stück in die Tiefe. Vielleicht vier, fünf Yards, mehr nicht. Unten schloss sich ein stur geradeaus führender Gang an, der irgendwann in einem runden Endstück mündete. Acht Türen warteten dort. Manche öffneten sich zu weiteren Gängen, andere zu kleinen Räumen: Wachstuben, Vorratskammern, leere Zimmer. Der Pater wählte eine davon aus und huschte hinein.
»Du kommst spät, Onkel.«
Die beißende Ablehnung in der Stimme Eleonores kratzte schmerzhaft am emotionalen Schutzpanzer, den er sich auf den letzten Schritten mühsam angelegt hatte. Ihre nächsten Worte fegten seine Verteidigung in einem Schlag hinfort. »Musstest du wieder Leute umbringen lassen, Onkel?«
»Eleonore«, er klang erstickt, da plötzlich ein Kloß in seinem Hals zu stecken schien. »Ich habe nie gewollt …«
»Spar dir deine Entschuldigungen. Ich will sie nicht hören. Und nenn mich nicht Eleonore. Eleonore ist tot. Ich heiße Whiggs.« Einen Moment herrschte eisige Stille. »Also, warum bist du gekommen?«
Grand brauchte noch einen Moment, um sich zu fangen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es einfach werden würde. Das war es nie. Aber irgendwie schaffte sie es jedes Mal wieder aufs Neue, ihn völlig aus der Bahn zu werfen. Nervös knetete er seine Finger, während er ihre grünlich funkelnden Augen betrachtete. Sie stand ihm gegenüber, lässig an die Wand gelehnt, die Arme abweisend verschränkt. Sie war ein ganzes Stück gewachsen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Hübsch war sie geworden. Eine junge Dame mit tiefer Entschlossenheit und ebenso starkem Willen. Ihre tiefschwarzen Locken, die bis zu den Schultern reichten, waren mit kleinen silbernen Perlen und winzigen bunten Federn verziert. Wenn sie sich bewegte, blitzte es in Grands Sicht ab und zu energievoll auf.
In ihrer ablehnenden Haltung stellte sie eine exakte Kopie ihrer Mutter – seiner Schwester – dar. Wie damals, als er Josephine mitgeteilt hatte, was er mit Arminton zu tun gedachte. Oder besser gesagt, was ihm als einziger Ausweg übriggeblieben war. Josephine hatte ihm einen ebenso abscheuerfüllten Blick zugeworfen, nachdem er sie herausgeholt und sie ihm anschließend erklärte, dass sie zurück in das abgesperrte Viertel gehen würde. Um den Hilflosen und Unschuldigen ihren Beistand zu bieten. Dann war sie gegangen und er hatte sie nie wiedergesehen.
Unmittelbar an diesen Gedanken brandeten klagende Stimmen gegen seinen Verstand. Getrieben von Angst und Schmerz. Schreie, die er lange Zeit in seinen Träumen hatte ertragen müssen. Arminton war ein blühendes Viertel gewesen, voll pulsierenden Lebens, voller Geschäftigkeit. So temperamentvoll. Bis die Wiedergänger den Straßen ihren tödlichen Stempel aufgedrückt hatten. Die Kirche war ratlos gewesen, ebenso wie das Ministerium. Fassungslos hatten sie mit ansehen müssen, wie die Menschen von Arminton dem Grauen zum Opfer fielen. Mit jedem neuen Toten gab es auch einen neuen Wiedergänger, der seinerseits die Lebenden attackierte, als geböte ihm der reine, pure Hass, jeden warmen Körper zu zerfetzen, zu zerreißen, mit Klauen und Zähnen zu zerstückeln.
Die Seuche einzudämmen schien unmöglich und beinahe hätte sie die ganze Stadt ergriffen, wenn Arminton nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abgeriegelt worden wäre. Ein Käfig, der Wiedergänger und Opfer zusammen einsperrte. Dann hatte Pater Grand, damals noch Prior und verantwortlicher Geistlicher für Arminton, vom Bischof den Befehl bekommen, die Brut des Teufels auszumerzen. Mit der reinigenden Flamme des heiligen Feuers. Diese besondere plasmotische Substanz, die, wenn sie einmal entzündet war, heißer und länger brannte, als alle anderen bekannten Mittel. Selbst Stein schmolz in der tosenden Glut.
Dreimal hatte Grand um eine Alternative gebeten, um eine bessere Lösung ersucht, sogar versucht, den Bischof persönlich zu sprechen. Doch der hatte sich nicht von seinem Weg abbringen lassen. Der Herr wird die Seinen erkennen und erlösen, hatte er ihm lapidar in einer knappen Depesche mitgeteilt. Handle im Sinne der Kirche, in deren Schoß du dich befohlen hast. Grand hatte gehandelt. Das Feuer loderte über zwei Wochen ununterbrochen und vernichtete das gesamte Viertel. Brannte es zu Asche, zu Schlacke, zu beißenden Qualm. Genau wie seine Schwester und ihren Mann. Einzig Eleonore überlebte, weil Josefine sie rechtzeitig fortgeschickt hatte. Es war also kein Wunder, dass ihn seine Nichte bis ins Mark hasste. Er hasste sich ja selbst dafür.
»Ich wollte dich warnen, Eleo … Whiggs. Es treibt sich ein gefährlicher Irrer in der Kanalisation herum. Ein Irrer, der Menschen tötet. Ich will dich einfach in Sicherheit wissen.«
»Ein Irrer, so wie du einer bist?« Der Spott in ihrer Stimme war schneidend wie Glas. »Glaube mir, Onkel, hier unten gibt es viele gefährliche Dinge und von den meisten weißt du nicht einmal. Ich kann sehr gut allein auf mich aufpassen. Dich brauche ich bestimmt nicht.«
»Whiggs, bitte …«
»Du hättest nicht herkommen sollen.« Sie machte eine bedeutungsschwere Pause. Dabei sah sie an ihm vorbei und sprach jemanden direkt hinter seinem Rücken an: »Nehmt ihn mit.«
Bevor er sich umdrehen konnte, traf ihn ein Schlag am Hinterkopf. Grand stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden. Eine Ohnmacht löschte seine Sicht aus. Mit dem letzten Funken Bewusstsein hörte er, wie jemand zu Whiggs sagte: »Wir haben ihn, ehrenwerte Emanatin.« Dann wusste er nichts mehr.
…
Abermals krachte Mister Ferrets Schädel mit mörderischer Wucht in die Wand. Putz, Mörtel und Fliesenscherben prasselten auf den Boden des Gangs. Ein gedämpftes Grunzen drang durch die Finger des Pflegers in seinem Gesicht. Als er für ein weiteres Rendezvous mit den Fliesen aus dem Loch gezogen wurde, rammte er dem größeren Gegner beide Fäuste in den Solar Plexus. Die Wirkung des Angriffs blieb nicht nur unspektakulär, sie verpuffte nahezu. Sah man darüber hinweg, dass seine Gegenwehr den Pfleger dazu brachte, ihm seinerseits die Faust in die Brust zu rammen. Dieses Mal klang es metallisch, als die Knöchel des Gegners von der gepanzerten Verschalung abrutschten.
Für einen winzigen Moment hielt der Pfleger inne. Er legte den Kopf schief und musterte die freigelegten Messingplatten unter dem zerrissenen Hemd mit so etwas wie Verblüffung. Mister Ferret nutzte die Pause. Mit übermenschlicher Gewalt schmetterte seine Hand gegen das Jochbein des Pflegers. Etwas knirschte und in einer schnellen Bewegung drückte Ferret mit dem Daumen zu. Begleitet von einem saugenden Geräusch löste sich das schwarze Auge aus der Höhle und fiel mit dumpfem Pochen auf den Boden.
»Ahh«, nuschelte Mister Ferret zufrieden hinter den breiten Fingern hervor. »Dn Fhlr gbts mmer nch.«
Der Pfleger knurrte gereizt und schlug Ferrets Arm beiseite. Dann krachte der Schädel des dünnen Mannes wieder in die zersprungenen Fliesen der Gangwand und die Faust traf abermals dröhnend auf seinen Brustkorb.
Eric konnte dem ungleichen Kampf nur hilflos zuschauen. Verzweifelt schaute er sich nach einer geeigneten Waffe um. Aber in diesem verdammten Gebäude war alles weggeräumt, was eine Gefahr für Insassen oder Pfleger darstellte – genau das, was er in diesem Moment eigentlich gebraucht hätte. Schließlich blieben seine Augen an einem metallenen Rollwagen hängen, der mit Putz-Utensilien beladen war. Wahllos griff er nach einer Scheuerbürste und warf sie dem Mann an den Schädel. Doch der reagierte nicht einmal. Mit unverminderter Härte und beinahe uhrwerkhafter Gleichmäßigkeit schlug seine Faust weiter auf Ferret ein. Erst als eine Kehrschaufel und kurz darauf ein halbgefüllter Wassereimer gegen seinen Hinterkopf prallten, hielt er inne und wandte sich dem lästigen Ärgernis zu.
Als er den hasserfüllten Blick aus dem verbliebenen, tiefschwarzen Auge sah, ließ Eric die halb erhobene Hand mit der Packung Scheuerpulver sinken und brachte sich hinter dem Rollwagen in Sicherheit. Der Pfleger fegte das Gefährt mit einer einzigen Armbewegung zur Seite. Die Besen, Bürsten und Behälter flogen in wildem Durcheinander über den Boden. Eric wäre zweifelsohne gestürzt, wenn der Gegner ihn nicht mit einer blitzschnellen Bewegung seiner freien Hand am Revers gepackt hätte. Mit müheloser Leichtigkeit hob er den hilflosen Agenten in die Höhe und fixierte ihn mit ausgestrecktem Arm an der nächsten Wand. Instinktiv und ohne nachzudenken, kippte ihm Eric die Packung mit dem Scheuerpulver entgegen.
Die Wirkung war mehr als überraschend. Mit einem unirdischen Jaulen ließ der Mann ihn und Ferret fallen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Er brüllte, taumelte rückwärts, stolperte und wandte sich zur Flucht.
»Interessante Wahl der Waffen, Sir«, bemerkte Mister Ferret mit Bewunderung. Er wischte sich Putz und Fliesensplitter vom Schädel. Darunter blinkte es metallisch. »Massives Messing«, bestätigte er trocken. »Wurde offensichtlich nicht in meine Nachfolgemodelle eingebaut. Sonst hätte er nicht versucht, die Wand mit meinem Kopf zu zerstören.« Er griff nach dem herabgefallenen Bowler, rammte ihn zurück an seinen angestammten Platz und stand auf. Das gequälte Kreischen von verbogenem Eisen deutete darauf hin, dass der flüchtende Wiedergänger mit dem Gitter am anderen Ende des Ganges kurzen Prozess gemacht hatte. »Wir sollten ihn besser verfolgen, Sir«, sagte Mister Ferret und stellte Eric mit einem Ruck auf die Füße.
»Moment mal!«, widersprach ihnen Doktor Sartorius. »Sie wollen dieser Kreatur doch wohl nicht nachlaufen und mich hier allein zurücklassen!«
Mister Ferret musterte ungerührt das runde, schwarze Auge auf dem Boden. Er hob es auf und ließ es in der Tasche seines Mantels verschwinden. »Sie dürfen sich uns natürlich anschließen. Oder, Mister van Valen?«
»Sie wollen ihm tatsächlich hinterher?«, rief Sartorius aufgebracht. »Sie sind ja wahnsinnig, Ferret! Sie haben doch gesehen, was der mit ihnen macht. Wir müssen das Wachpersonal alarmieren. Das ist Sache für Profis!«
Eric sah zwischen Sartorius und Mister Ferret hin und her. In einiger Entfernung kreischte ein weiteres Gitter.
»Das ist eine vernünftige Idee, Sir«, stellte er fest. »Alarmieren Sie alles verfügbare Wachpersonal und riegeln Sie das Gebäude ab. Mein Kollege und ich«, er straffte sichtbar die Schultern, »folgen inzwischen diesem Mann.« Mit einem abenteuerlustigen Glitzern in den Augen, das Ferret vorher noch nie bei ihm bemerkt hatte, hob er zwei Packungen des Scheuerpulvers auf und nickte dem Wiedergänger zu. »Mister Ferret, kommen Sie? Wir haben einen Mörder zu fangen.«
Sie verfolgten ihren Gegner über langgezogene, düstere Gänge, mit verriegelten Türen aus Stahl zu beiden Seiten. Durch deren vergitterte Fenster sahen ihnen seltsame Gestalten hinterher; manche still und mit traurigen Augen, andere laut und flehend, oder – von der allgemeinen Aufregung angesteckt – unkontrolliert schreiend, gestikulierend und schimpfend. Eric erinnerte sich unwillkürlich an Ferrets Worte, als sie am Asylum vorgefahren waren. Ihn schauderte, als er daran dachte, welch lange Zeit der dünne Mann an diesem elenden Ort zugebracht haben musste.
Mister Ferret hingegen sinnierte keinen Augenblick über diesen Ort nach. Das hier oben war lediglich der Lärm und die übliche Verwirrung der Lebenden. Solange er nicht in den Keller musste, war alles in Ordnung. Was Ferret mehr beschäftigte, war die Kreatur, die ihn kurz zuvor beinahe zerstört hatte. Es gab nicht viele Wiedergänger, die als Modifizierte in der Stadt lebten. Er war der Ansicht gewesen, dass er jeden von ihnen kannte – oder doch zumindest schon gesehen hatte. Dieser aber gehörte nicht dazu. Abgesehen von den Augen war er für einen anderen Wiedergänger kaum zu erkennen.
Mister Ferret war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass er einer der besser Erhaltenen seiner Art war – und selbst er bestand im Grunde aus einem ausgetrockneten Körper, zusammengehalten und verstärkt von einem Geflecht aus Ausbesserungen und Nähten. Der Unbekannte jedoch sah aus wie das blühende Leben. Zudem – das hatte Mister Ferret in ihrem ungleichen Kampf gemerkt – war er massiv gepanzert. Irgendjemand schien die Experimente der Vergangenheit wieder aufgegriffen zu haben. Und er hatte sie seit jener Zeit deutlich vorangetrieben.
Sie verfolgten den Pfleger über schmale Treppen immer weiter nach oben, begleitet von den schaurigen Lauten aus den vielen Zellen. Erst unter den Dachschrägen ließen sie das Getöse der Verdammten hinter sich. Ein letzter Aufstieg bekundete das Ende des Weges. »Bleiben Sie stehen«, rief Doktor Sartorius ihnen atemlos hinterher. »Das ist der einzige Zugang zum Dachstuhl. Von hier kann niemand mehr entkommen. Lassen Sie uns auf das Wachpersonal warten.«
Eric schaute unschlüssig in das Zwielicht und dann auf Ferret. »Was meinen Sie?«, fragte er den dünnen Mann.
Mister Ferret starrte den Aufstieg an. »Sir, ich fürchte, er wird einen Weg finden, aus diesem Dachstuhl zu entfliehen, wenn wir ihm die Zeit geben. Zur Not schafft er sich einen.«
»Da dürften Sie recht haben.«
»Unmöglich!«, keuchte Sartorius. »Die Decken sind von unten verstärkt, damit unsere Insassen gar nicht erst auf dumme Ideen kommen. Und wo sollte er sonst hin? Es gibt vom Dachboden aus keine Verbindung zu irgendeinem der anderen Gebäudeteile. Der Kerl sitzt in der Falle.«
Im gleichen Augenblick ertönten weiter hinten ein Klirren und das Geräusch von fallendem Glas. Mister Ferret warf dem Arzt einen Blick zu. »Tatsächlich«, stellte er trocken fest.
Eric fluchte und spurtete los. Sie brauchten nicht lange, um zu entdecken, welchen Weg der Wiedergänger genommen hatte. Zwei staubige Räumlichkeiten später lagen glitzernde Scherben auf dem Boden und Staubflocken tanzten in einem schmalen Schaft schräg einfallenden Lichts. Ihr Gegner hatte die Scheiben eines Dachfensters eingeschlagen und das Gitter davor herausgerissen. Von ihm selbst war nichts zu sehen. Mit aller gebotenen Vorsicht steckte Eric seinen Kopf durch die Öffnung. An einer rostigen Regenrinne direkt darunter hangelte sich der Pfleger hinab, bis er mit einem gewagten Sprung das Dach des Nachbarflügels erreichte. Daraufhin rannte er über das nasse Kupfer auf das gegenüberliegende Ende zu.
Eric zögerte nicht und nahm die Verfolgung auf. In der einen Hand das Scheuerpulver zog er sich mit der anderen vorsichtig durch das zerstörte Fenster und begann ebenfalls, die Regenrinne hinunterzuklettern. Nach gut fünf Metern stieß er sich ab und landete trotz seines schmerzenden Beines sicher auf dem Nachbargebäude. »Kommen Sie, Mister Ferret!«, rief er über die Schulter zurück und hastete sogleich dem Mörder hinterher.
Mister Ferret starrte aus dem Fenster auf das abschüssige Dach und die nahe Regenrinne. Dann zwinkerte er nervös. Zweimal. Dreimal. »Ich … ja, Sir«, sagte er leise, jedoch mit einer fehlenden Überzeugungskraft. Er trat an die Öffnung und umklammerte den geborstenen Rahmen. Nur einem halben Meter weiter lag die Dachtraufe – und dahinter bot sich eine beeindruckende Aussicht auf die Dächer der Stadt, die sich von den Hügeln bis zum Hafen hinabzogen. Vor allem aber zeigte sich reichlich leerer Raum, bis zu den Dächern der nächststehenden Gebäude, die gut acht bis zehn Meter tiefer lagen und feucht vom Nebel und leichtem Nieselregen glänzten. Dass es zwischen diesen und dem Asylum eine gepflasterte Straße gab, war von hier aus nicht zu erkennen. Nichtsdestotrotz war sich Mister Ferret ihrer Anwesenheit aufs Eindringlichste bewusst.
»Das ist doch Wahnsinn!«, rief Doktor Sartorius aus dem Dachboden. Der Wiedergänger war nur zu geneigt, ihm in diesem Punkt zuzustimmen.
»Jetzt kommen Sie schon, Mister Ferret!«, wiederholte Eric, eilte rutschend über das nasse Kupferdach dorthin, wo der Flüchtige zwischen drei hoch aufragenden Schornsteinen verschwunden war. »Er entkommt uns sonst!«
Mister Ferret zwinkerte noch ein viertes Mal. Dann fluchte er leise und zog sich vorsichtig hinaus. Das Dach enttäuschte, zu Mister Ferrets nicht unbeträchtlichem Unbehagen, keine seiner Erwartungen. Es war abschüssig, glatt, ohne nennenswerte Haltemöglichkeiten und dank des zuverlässigen Steamtowner Nebels unangenehm schlüpfrig. Die Regenrinne ächzte unter dem Griff des dünnen Mannes und entwickelte bedenkliche Falten. Mister Ferret war durchaus bewusst, dass sich der viel zu feste Druck seiner Hände nachteilig auf die Integrität des Rohres auswirken würde. Und doch war es ihm nicht möglich, seinen Instinkten zu befehlen, den Griff etwas zu lockern.
Nur mit äußerster Mühe und Konzentration gelang es ihm, sich über den Rand des Daches abzulassen und sich der zweifelhaften Stabilität der Dachrinne anzuvertrauen. Die Konstruktion zeigte sich nicht erkenntlich. Mit einem letzten Ächzen und einem darauf folgenden metallischen Kreischen lösten sich die eisernen Halteklauen aus der Wand. Mister Ferret fiel samt der losen Rinne hinaus über den Abgrund.
…
Der Wiedergänger war inzwischen am anderen Ende des Daches angelangt und verschwunden. Als Eric die Stelle erreichte, sah er, was das Ziel des Mannes gewesen war: eine schmale Feuerleiter, die zu einem weiteren Nebengebäude hinabführte. Einem Gebäudetrakt mit einem neumodischen, flachen Dach – und einem kleinen Aufbau mit Zugang zu einem der Treppenhäuser. Zur Überraschung des Wiedergängers war die schwere Stahltür verschlossen. Mit mechanischen Bewegungen probierte er nacheinander verschiedene Schlüssel aus einem großen Bund, den er aus der Jacke gezogen hatte. Als er damit keinen Erfolg zu haben schien, ließ er den Bund fallen und schlug mit geballten Fäusten gegen Schloss und Rahmen. Doch obwohl sich der Stahl unter seinem heftigen Angriff verformte und wie ein verletztes Tier ächzte und stöhnte, hielt die Tür stand.
Eric kletterte die Feuerleiter hinunter und ging langsam auf den Wiedergänger zu, die Hand mit dem Scheuerpulver hoch erhoben. Er war bereit zu werfen, falls der Mann irgendeine falsche Bewegung machen sollte. Als der die Schritte hinter sich vernahm, ruckte der Kopf herum. Er fixierte den feindlichen Agenten mit seinem übrig gebliebenen, schwarzen Auge. Erics provisorische Waffe hielt ihn offenbar davon ab, sich sofort auf ihn zu stürzen. Knurrend trat er von der Tür zurück und bewegte sich zur Seite, um den Dachaufbau zwischen sich und den Agenten zu bringen.
»Ich warne Sie.« Eric bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Nur zu deutlich hatte er die beeindruckenden Dellen in der stählernen Tür vor Augen. Und obwohl es eine erstaunliche Wirkung auf den Wiedergänger zu haben schien, so war ein geöffnetes Paket Scheuerpulver selbst für mutigere Männer als Eric eine Waffe, die seinen Träger nicht unbedingt in Sicherheit wiegte. »Ergeben Sie sich oder ich bin gezwungen, Gewalt anzuwenden. Darüber hinaus sind wir zu zweit und Ihnen steht kein Fluchtweg mehr offen. Mister Ferret, wenn Sie so freundlich wären … Mister Ferret?« In diesem Augenblick ging Eric auf, dass er von dem dünnen Mann bislang nichts gehört hatte. Unsicher blickte er sich um. Doch weder auf der Fläche hinter ihm noch auf der Feuerleiter oder dem höher gelegenen Dach konnte er seinen Begleiter sehen. »Mister Ferret?«
Der Pfleger nutzte den Moment der Ablenkung und entschwand hinter dem Aufbau des Treppenganges. Fluchend setzte Eric an, ihm zu folgen, hielt dann jedoch inne. Dem Gegner allein hinterherzujagen, erschien ihm plötzlich als schlechte Idee. Er brauchte die besonderen Fähigkeiten des dünnen Mannes. Verfehlte das Scheuerpulver seine Wirkung, wäre er dem Wiedergänger auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Was angesichts der demolierten Tür nichts Gutes bedeutete. Andererseits wollte er den Mann auch nicht entkommen lassen. Wo blieb nur Mister Ferret?
Hastige, laut knirschende Schritte hinter dem Dachaufbau beendeten seine Überlegungen. Eric spannte alle Muskeln an und hob die improvisierte Waffe, bereit, sie dem Angreifer entgegen zu schleudern. Doch als der Pfleger schließlich auftauchte, war zu seinem größten Erstaunen nicht er das Ziel der Kreatur. Vielmehr rannte der Wiedergänger mit mächtigen Schritten auf das entfernte Ende des Daches zu. Dort aber wartete kein weiteres Gebäude. Nur fünfzehn Meter freier Fall und regennasses Kopfsteinpflaster.
»Halt! Warten Sie!« Mit den Armen rudernd versuchte Eric, den Mann von seinem Weg abzubringen, doch da hatte der Pfleger die niedrige Umrandung der Dachfläche erreicht. Mit einem kraftvollen Tritt stieß er sich ab und sprang weit hinaus ins Leere, so, als wolle er die Dächer auf der gegenüberliegenden Seite der Straße erreichen. Eric war sich nur zu gut der Tatsache bewusst, dass das unmöglich zu schaffen war. Ohne einen Laut verschwand der Mann im Abgrund. Sofort hinkte Eric zum Rand des Flachdaches und sah hinab in die Tiefe – so sehr er auch den Anblick der Tiefe scheute. Auf der Mitte der Straße entdeckte er die reglose Gestalt des Pflegers. Jedoch nicht wie er erwartet zerschmettert und mit verdrehten Gliedern.
Stattdessen stand die Kreatur dort unten auf dem Kopfsteinpflaster, als sei sie soeben aus einem Hauseingang getreten. Ein schwarzes Auge blickte zu Eric hinauf. Eine Hand hob sich zu einem spöttischen Gruß. Oder einem Versprechen, das ein Wiedersehen androhte. Dann wandte sie sich um und ging zügigen Schrittes die Straße hinab auf die Gassen des Stadtviertels zu. Voller Wut schleuderte ihm Eric das Scheuerpulver hinterher, doch das war nur die nutzlose Geste der Resignation. Das Geschoss fiel viel zu kurz, zerplatzte mit dumpfem Knall auf der feuchten Straße und hinterließ einen weißlichen Stern aus Pulver, der harmlos zu zerrinnen begann. Der Wiedergänger drehte sich nicht einmal um.
»Oh verdammt!«, rief Eric verzweifelt aus.
»Da sagen Sie was, Sir«, stimmte Mister Ferret zu.
Eric wirbelte herum. »Mister Ferret! Wo zum Teufel haben Sie …? Was tun sie da, Mann?«
»Tut mir leid, Sir, aber in diesem Umfeld fühle ich mich wirklich nicht wohl«, antwortete Mister Ferret zur Entschuldigung. Er lag bäuchlings auf dem Dach und tastete sich umständlich an die Feuerleiter heran. Der kupferne Dachrand bog sich bereits unter der Gewalt seines Griffes. »Das kann eine Weile dauern, Sir. Erinnern Sie mich bitte das nächste Mal daran, dass ich mit Höhen nicht besonders gut klarkomme. Möglichst, bevor ich mich auf ein nasses Dach fallen lasse. Rücklinks. Ich bin tatsächlich froh, dass ich keine Verdauung mehr habe. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
…
Die kleine Gruppe – vier Männer und eine Frau – hastete durch die scheinbar zahllosen Gänge des unterirdischen Labyrinths in Richtung Norden. Schon bald hatten sie das Kasernengelände hinter sich gelassen und waren in die unteren Bereiche der Kanalisation eingetaucht. Durchläufe und verschieden große Stau- und Sammelbecken flogen förmlich vorbei, die selbst von den Männern der Seuchenkontrollbehörde seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gewartet worden waren. Muffige Luft in unterschiedlichen Duftnuancen von abgestanden bis faulig begleitete ihren Weg.
Zwei der Männer schleiften eine Gestalt hinter sich her. Die Hände des Bewusstlosen waren mit einem groben Strick auf dem Rücken zusammengeschnürt worden. Auf seinem Hinterkopf, vom Zylinder befreit, prangte eine dicke Beule. Whiggs lief mit geschmeidigen Bewegungen voran und spähte die günstigste Richtung aus, während ihr die Männer zügig folgten. Ihr oblag das Kommando über die kleine Schar. Sie bewegten sich rasch und geräuschlos, mit einer beinahe paranoiden Wachsamkeit, bereit, bei jedem störenden Geräusch umgehend die Waffen zu zücken. Die Gänge hier unten waren nicht sicher. Schon eine ganze Weile nicht mehr. Es war besser, kein unnötiges Risiko einzugehen.
»Wir haben es gleich geschafft. Was macht unser Gefangener, Flyers?«, fragte Whiggs einen der Männer, die den Pater festhielten. Es war derselbe Mann, der den Pater niedergeschlagen hatte.
»Schläft wie ein Baby, Emanatin. So ein gutes Nickerchen hätte ich zur Abwechslung auch gerne mal wieder.«
»Wenn uns das Plasma gewogen ist, wird es bald bessere Zeiten geben. Bis dahin müssen wir wachsam bleiben. Kommt! Der Duke erwartet uns.«
Wie angekündigt, veränderte sich das Erscheinungsbild des unterirdischen Weges. Wo bisher schlechte Luft und schmutzige Ziegel vorgeherrscht hatten, gab es nun sorgfältig behauenen Fels, an dem in regelmäßigen Abständen kleine Plasmalaternen angebracht waren.
Schließlich passierten sie einen bewachten Posten. Whiggs nickte den Wachhabenden zu und schritt, ohne anzuhalten, an ihm vorbei. Sie hatten das Territorium der Tunnler erreicht.
Wäre Pater Grand bei Bewusstsein gewesen, hätte er sich bei dem Anblick, der sich ihm geboten hätte, sicherlich gewundert. So verschlief er die kühl und mit Logik erbauten Unterkünfte, die gesicherte Brunnenanlage und die dazu im Gegensatz stehenden kunstfertigen Reliefs an der Felsendecke. Der Rückzugsort der Tunnler war keine primitive Notunterkunft, geboren aus der Not und einer verzweifelten Existenz. Lethe ähnelte einer durchdachten Festung, in der taktisches Kalkül und unerwartete Schönheit gleichberechtigt nebeneinander existierten.
Die Emanatin leitete ihre Gruppe zu einer Halle, die, einem antiken Tempel gleich aus dem Felsen gemeißelt, von weißgetünchten Säulen gestützt erschien. Dort ließen sie den Gefangenen vor einem hölzernen Thron fallen.
Auf diesem Thron saß ein drahtiger Mann, ein Bein über das andere geschlagen und lässig zurückgelehnt. Sein kantiges Gesicht und das braune, zur Seite gescheitelte Haar verliehen ihm einen aristokratischen Zug, der greifbar zu seiner offensichtlichen Position zu passen schien. Der Duke lächelte, als er die Ankömmlinge bemerkte. »Du hast ihn also wirklich mitgebracht, Whiggs. Meinen Glückwunsch.« Interessiert musterte er die bewusstlose Gestalt vor seinen Füßen. Schließlich schnaubte er. »Weckt ihn auf.«
Einer der Tunnler holte einen Eimer mit eiskaltem Wasser und schüttete ihn über dem Kopf des Paters aus.
Grand schrak hoch, prustete und spuckte. Er entdeckte als erstes Whiggs, die mit verschränkten Armen neben dem Thron stand. »Was … Scheiße, das tut weh!« Er versuchte, sich den Schädel zu reiben, entdeckte die Fesseln an seinen Händen, gab den Versuch auf und verzog stattdessen das Gesicht. »Was soll der Mist, Eleonore? Wohin hast du mich verschleppt? Das sieht ja hier aus wie das verdammte Walhalla. Und wer ist der Vogel da?« Er nickte in Richtung des Duke, der jetzt nicht mehr lächelte.
»Du darfst dich als meinen Gefangenen betrachten, Schlächter von Arminton«, erklärte dieser an Stelle von Whiggs. »Zumindest bis zu deiner Exekution.«
»Ach verflucht noch eins, wollt ihr mich verarschen? Eleonore, das ist doch nicht sein Ernst!«
»Du wirst für deine Verbrechen bezahlen, Onkel. So steht es im Gesetz von Lethe und so wird es geschehen. Ich sagte ja, du hättest nicht herkommen sollen.«
»Dir verbleibt Zeit bis morgen früh. Dann wirst du in aller Öffentlichkeit hingerichtet«, schaltete sich der Duke wieder ein. »Ich habe genug. Schafft ihn in die Zelle.«
»Ich werde WAS? Ihr macht einen riesigen Fehler«, fluchte der Pater, während er von zwei Männern des Duke weggeschleift wurde. Den vereinten Kräften der beiden Tunnler hatte er trotz heftigster Gegenwehr nichts entgegenzusetzen. »Nehmt eure verfluchten Flossen weg, ihr Kanalratten! Wenn ich hier rauskomme, dann gnade euch Gott. Denn ich werde es nicht tun!«
Whiggs verharrte bewegungslos neben dem Thron und schaute in eine andere Richtung. Auch wenn sie ihren Onkel aus tiefster Seele hasste, konnte sie ihm aus irgendeinem seltsamen Grund nicht in die Augen sehen. Dieser Mann war schuld am Tod ihrer Eltern. Sie durfte kein Mitgefühl für sein verdientes Schicksal empfinden. Der Duke begriff anscheinend besser als sie, was in ihr vorging. Mitfühlend legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
Im nächsten Moment gellte irgendwo ein Alarmruf. In aller Eile griffen die Männer des Duke nach ihren Waffen, die alle eher primitiv und vom Stand der Technik alles andere als fortschrittlich wirkten. Überall wurden lange, Macheten ähnliche Messer oder kurze Speere mit gezahnten Klingen gezückt. Nur vereinzelt zog einer der Tunnler eine angelaufene, zerschrammte Schusswaffe und überprüfte eilends Magazin oder Tank. Der Duke holte aus einem Seitenfach seines Throns ein antik anmutendes Gewehr hervor. Die doppelläufige Darbinger mit ihrem klobigen Plasmamagazin glänzte im Licht der Laternen frisch geölt und poliert, sah aber dennoch wie ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert aus. Was sie genau genommen auch war.
Wieder erscholl ein Schrei, diesmal näher und mit dem markerschütternden Unterton eines Sterbenden. Keine drei Sekunden später stolperte aus einem der angrenzenden Tunnel ein blutüberströmter Mann mit einer klaffenden Kopfwunde heran. »Die Quexer! Sie haben die Wachposten umgangen und sind durch die Tunneldecke eingebrochen!«
Der Duke zögerte nicht. »Alle Mann auf ihre Position! Wir müssen dieses verfluchte Geschmeiß zurückschlagen. Sie dürfen auf keinen Fall bis zur Stadtmitte durchdringen, sonst sind wir verloren. Flyers, du bleibst bei Whiggs und passt auf sie auf. Ihr darf nichts geschehen.«
»Geht klar, Duke.«
»In Ordnung. Slugger, Dog, Verbal – ihr kommt mit mir! Der Rest – auf eure Posten! Los, los, los!« Die Tunnler fuhren auseinander und hasteten mit gezogenen Waffen in die Richtung des Alarms. Von den Randbezirken der unterirdischen Stadt konnte man nun immer deutlicher die spitzen Jagdrufe der Quexer hören, vermischt mit weiteren Schmerzens- und Todesschreien. Sie kamen näher. Und es schienen wesentlich mehr Angreifer zu sein, als es für Quexer üblich war. Sehr viel mehr.