Kapitel VI
Moloch
Der ekelhafte Geschmack wollte einfach nicht aus ihrem Mund verschwinden. Oder ihrer Nase. Nur mühsam unterdrückte Whiggs ein weiteres Würgen. Bei den letzten Schüben hatte sie nur noch Galle hervorgewürgt. Ihr restlicher Mageninhalt hatte sich längst mit dem verfaulenden Wasser vermischt, in dem sie standen. Dort wo sich nun einige Quappen vorsichtig näherten, um sich der willkommenen Mahlzeit zu widmen. Einfach nur widerlich, dachte sie und war versucht, dem Würgereiz ein weiteres Mal nachzugeben. Kein Wunder, dass die Biester so stanken. Sie fraßen wahrhaftig jeden Dreck. Spontan entschloss sie sich, höchstpersönlich eine Tunnlerexpedition zur Vernichtung der übrigen Brut anzuführen, um hier endgültig aufzuräumen. So nachhaltig, dass sich in der alten Station niemals mehr ein Quexer ansiedeln würde.
Der Anführer der Lederhäute war einer der ersten, die sich wieder fingen. Cummins spuckte angeekelt aus, während er die unzähligen Kadaver im Verbindungstunnel betrachtete. »Was für eine Sauerei! Jemand hat diese Viecher mit System abgemurkst. Was meinst du, Bruggs?«
Bruggs schnäuzte geräuschvoll das linke Nasenloch frei, indem er sich mit dem Zeigefinger das rechte zuhielt. Dann erst kramte er ein schmutziges Taschentuch heraus und hielt es sich vor die Nase, um sie vor dem abartigen Gestank zu schützen. Mit bedächtigen Schritten trat er näher und inspizierte einen Kadaver, der unmittelbar hinter der herausgerissenen Tür lag. »Die ha’m hier ganze Arbeit geleistet, Chef. Die Froschfress’n sin’ ausnahmslos aufgeschlitzt un’ zerfetzt word’n. Jedes einzelne vonnen verdammt’n Viechern. Wer auch immer die waren, es sieht mächtich so aus, als ob’s ihn’n ziemlich Spaß gemacht hätt’.«
»Oder ihm«, sagte Eric düster.
Cummins blickte ihn zweifelnd an. »Einer allein wird wohl kaum in der Lage sein, so eine Quexerarmee zu vernichten, Sir. Selbst wenn es diese Kreatur gewesen ist, von der Sie erzählt haben.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, stimmt Eric ihm zu. Sicher war er sich da jedoch keineswegs. Trotzdem behielt er den Gedanken für sich. Es hatte keinen Sinn, die Lederhäute noch mehr zu beunruhigen, als sie es ohnehin schon waren. Sie waren harte Kerle, aber auch wenn sie es nicht zugeben wollten, wirkte der eine oder andere von ihnen inzwischen sichtlich angespannt. Sie versuchten nur, es auf ihre eigene Art zu übertünchen, indem sie derbe Sprüche von sich gaben und sich betont lässig verhielten.
»Vorwärts«, befahl Cummins, und Samson und Bruggs setzten sich erneut an die Spitze. Vorsichtig bahnten sie sich ihren Weg zwischen den aufgetürmten Quexern hindurch, sorgsam darauf bedacht, die verwesenden Leichen im Vorbeigehen nicht zu streifen.
Vielleicht hundert oder auch zweihundert Meter und mehr marschierte der kleine Trupp schweigend durch das Massengrab. War die Luft anfangs noch so drückend und schwer, dass ihnen beinahe die Sinne schwanden, so schien sie sich doch langsam zu verbessern. Schließlich wurde sie so gut, dass das Atmen wieder möglich wurde, ohne von Husten und Brechreiz unterbrochen zu werden. Tatsächlich wehte irgendwann sogar ein leichter Luftzug durch den Tunnel.
»Belüftungsschächte.« Cummins richtete seine Plasmalampe auf die Decke. Dort waren in größeren Abständen senkrecht nach oben führende Schächte zu erkennen. »Die holen die Luft von der Oberfläche. Es besteht also die Hoffnung, dass wir bald einen Ausgang finden – wo immer der uns hinführt.«
Der Ausgang entpuppte sich als eine Metalltür von der gleichen Bauart wie jene, die sie am Eingang vorgefunden hatten. Der einzige Unterschied war das vergitterte Loch, die sich in circa drei Meter Höhe direkt neben der Plasmaleitung befand. Durch diese Öffnung fiel ein schwacher Lichtschein. Umgehend ordnete Cummins das Dimmen sämtlicher Laternen an. Auf seinen Befehl hin stemmte sich Bruggs gegen die Wand und verschränkte die Hände ineinander. Der Anführer der Lederhäute stieg so über die Räuberleiter auf die Schultern des Hünen.
Der Anblick, der sich Cummins durch das Gitter bot, verschlug ihm schier den Atem. Vor seinen Augen öffnete sich ein gigantischer Verladebahnhof, von dessen Decke einzelne, funktionale Lampen herabhingen, die ihr fahles Licht auf Schienen und Laderampen warfen. Die parallelen Eisenspuren der Zugführung schimmerten blank und an den Wänden standen Unmengen von Kisten und Paletten übereinandergestapelt. Das sah nicht gerade nach einem verlassenen Ort aus und zeigte sich im krassen Gegensatz zu allem, was der Anführer der Lederhäute eigentlich erwartet hatte. Hier tat jemand Dinge, die niemand anderes mitbekommen sollte. Ganz eindeutig. Warum sonst suchte man sich einen derart vergessenen Ort für seine Aktivitäten aus?
Als er genug gesehen hatte, kletterte er leise herunter, winkte die Truppe ein Stück von der Tür weg und berichtete. »Sir, ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was hinter dieser Tür vor sich geht. Mit einem bin ich mir sicher: Das entspricht auf keinem Fall auch nur einer unserer Vorschriften. Mister Agent, wie machen wir Ihrer Meinung nach weiter?«
»Wir gehen rein«, hörte Eric sich sagen, obwohl er eigentlich überzeugt war, dass er etwas völlig anderes hatte von sich geben wollen. Aber die Männer – und Whiggs ebenfalls – sahen ihn nun erwartungsvoll an. »Mister Ferret. Das ist eine Aufgabe für Sie. Wenn Sie so freundlich wären.«
Der Wiedergänger musterte ihn einen Moment. Schließlich zuckte er mit den Schultern und drückte sich seinen Bowler fester auf den Schädel. »Wie Sie meinen, Sir.« Er griff nach dem Türknauf, drehte ihn und stemmte sich gegen die Tür, die unter kaum vernehmlichem Protest nachgab.
Cummins räusperte sich beeindruckt. Seinen Untergebenen entging die ungewohnte Verwunderung jedenfalls nicht. »Na gut. Samson, Bruggs. Hört auf zu grinsen. Ihr macht die Vorhut und sichert.«
Die Schritte der beiden Männer knirschten im Kies der Gleisbetten, als sie sich nacheinander zwischen den Prellböcken am Ende der Halle hindurchschoben. Das und das leise Blubbern des Flechettetanks auf Tawyers Rücken waren für einige Zeit die einzigen Geräusche in der verlassen wirkenden Anlage. Wenig später traten sie aus dem Schatten der rückwärtigen Wand, huschten die Schienen entlang und erreichten schließlich den Verladesteig. Oben angekommen senkten sie ihre Waffen und Bruggs deutete auf etwas, das der Rest der Gruppe nicht sehen konnte. Als dieser zu den beiden Männern aufgeschlossen hatte, verstanden sie. Über Ihnen prangte ein in den Stein gehauener Schriftzug:
›STEAMTOWN POWER TRANSMISSION LTD.‹
»Verladehof Nord«, war mit weißer Farbe daruntergepinselt worden; ein großes Schild klärte den Besucher über zahlreiche Sicherheitsbestimmungen auf. Eric atmete tief durch. »Ich denke, Mister Cummins, Ihre Sorge war unbegründet. Wir befinden uns offensichtlich auf dem Werksgelände der Plasmafabriken. Wir haben also nichts mehr zu befürchten.«
»Wenn das so ist – warum ist dann niemand hier?«, fragte Whiggs argwöhnisch. »Ich glaube …«
Ein vielfaches Klicken ertönte und ein unangenehm vibrierendes Summen drängte sich in ihre Wahrnehmung. Die Tunnlerin verstummte und um sie herum erstarrten die Lederhäute. Dieses Geräusch war zu charakteristisch, um etwas anderes zu sein, als das Aufheizen schwerer Plasmawaffen. Vieler schwerer Plasmawaffen.
»Was immer es ist, das Sie sagen wollten, Miss Taversham, das glaube ich auch«, bestätigte Mister Ferret und legte behutsam seine Waffe auf dem Boden.
…
»Ich sehe nichts, was Ihr unbefugtes Betreten des Firmengeländes erklärt«, sagte der in eine makellos karmesinrote Uniform gekleidete, dünne Wachmann und nickte seinem massigen Kollegen zu. Er überflog das Blatt, das ihm jener gereicht hatte, ein zweites Mal und faltete es dann sorgfältig zusammen.
»Also hören Sie mal!«, fuhr Cummins auf. Sofort richteten drei zusätzliche Wachleute ihre Waffen auf ihn. Der Sergeant der Seuchenkontrollbehörde schluckte eine scharfe Bemerkung hinunter und setzte sich schleunigst wieder hin. »Hören Sie, Mister. Sie haben unsere Dienstmarken und unsere Ausweisdokumente. Sie können gern bei der Dienstaufsicht Beschwerde einlegen, aber sie haben kein Recht, uns hier noch länger festzuhalten.«
Der Wachmann durchstöberte gelangweilt die vor ihm auf dem Tisch verstreuten Dokumente und musterte ihn dann mit kühlem Blick. »Mister James Curtis Cummins – falls das Ihr richtiger Name sein sollte – wir haben im Moment jedes Recht. Sie wurden auf dem Privatbesitz der Steamtown Power Transmission Ltd. aufgegriffen, welchen Sie widerrechtlich, schwer bewaffnet und ohne vorherige Kontaktierung betreten haben. Selbstverständlich werden Sie sofort auf freien Fuß gesetzt, sobald Ihre Identität bestätigt wird. Bis zu diesem Zeitpunkt sind wir berechtigt, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das durch uns betreute Objekt gegen unbefugtes Eindringen abzusichern. Was einschließt, Sie in Gewahrsam zu nehmen und zu geeigneter Zeit den Behörden zu überstellen.«
»Es war keinesfalls ersichtlich, dass es sich um privates Firmengelände handelt«, knurrte Coler.
»Tatsächlich? Sie haben eine verschlossene Tür durchbrochen. Sie hätten also durchaus annehmen können, dass es einen Grund gibt, warum dieser Durchgang nicht öffentlich zugänglich war.«
»Eine Tür, die dort nicht hätte sein dürfen«, antwortete Cummins.
Mit einer nachlässigen Handbewegung wischte der dünne Wachmann den Einwand beiseite und strich seinen bleistiftschmalen Oberlippenbart mit dem Daumen glatt. »Nichtsdestotrotz war sie verschlossen und markierte die Grenze zu Privatgelände.«
»Einige Hundert toter Quexer sind ebenfalls ein interessanter Grund, eine Tür verriegelt zu halten«, sagte Mister Ferret leise vor sich hin. Er saß hinter Cummins und Eric auf einer harten Holzbank und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Rechts und links von ihm hatte man den Rest der Lederhäute sowie Whiggs platziert. Während seine Begleiter handelsübliche Handschellen trugen, hatte man seine Arme mit massiven Stahlschellen fixiert, deren kurze, am Boden befestigte Kette es ihm nicht erlaubte aufzustehen.
Der massige Wachmann warf ihm einen abfälligen Blick zu. »Wenigstens haben die den Anstand und laufen nicht auf unserem Verladehof herum wie gewisse andere Kadaver.«
»Agent Ferret hat durchaus recht.« Cummins betonte dabei ganz besonders den Status des Wiedergängers. »Vor allem sind jedoch einige Hundert Stücke Aas hier unten ein triftiger Grund für uns als Einsatztrupp der Seuchenkontrollbehörde, sofort einzugreifen. Das nennt sich ›Gefahr im Verzug‹ und gibt uns jedes Recht, auch auf Privatbesitz zu agieren – wie Sie sehr wohl wissen, junger Mann, wenn Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben.«
»Und wennse wollen, dass wir fragen, dann beschriften se Ihre Scheißtüren gefälligst«, knurrte Samson durch zusammengebissene Zähne. Sein rechtes Auge war zugeschwollen, da er sich zunächst geweigert hatte, sich Handschellen anlegen zu lassen. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hatte.
Der Wortführer der Wachmannschaft würdigte ihn keines Blicks. Stattdessen strich er abermals nachdenklich über seinen Oberlippenbart und vertiefte sich in Erics Papiere. »Die Seuchenkontrollbehörde wäre zu angemessener Zeit informiert worden, Sir. Im Moment liegt hier nichts vor, was der Werkschutz der Steamtown Power Transmission Ltd. nicht selbst handhaben könnte. Ihr Eindringen kann also nach wie vor als unberechtigt betrachtet werden. Wir werden …«
Eric lehnte sich vor und stützte die gefesselten Hände auf dem Tisch ab. »Wenn ich es recht verstanden habe, Sir«, unterbrach er den Wachmann, »handelt es sich bei diesem Bahnhof um kein genehmigtes Bauwerk. Und bei den toten Quexern um das Ergebnis einer nicht gerechtfertigten Säuberungsaktion. Die von uns verfolgte Leitung ist eine nicht registrierte Installation – und nebenbei ist besagte Tür ein nicht berechtigter Durchgang, der vom Privatgelände Ihres Arbeitgebers auf öffentlichen Boden führt. Dieser Tunnel sollte, wie mich Mister Cummins hier aufgeklärt hat, verschlossen und unzugänglich sein. Sofern Sie die verdammten Quexer von Ihrem Firmengrund hätten fernhalten wollen, dann hätten sie diesen Tunnel besser zugemauert gelassen, Sir.« Sein Tonfall war noch um einige Grad kühler als der des Wachmanns und veranlasste diesen, endlich aufzublicken.
»Mister van Valen«, sagte der trocken, »ich sehe keinen Grund, warum ich die Baugenehmigungslage unserer Firma in diesem oder jedem anderen Punkt mit Ihnen diskutieren müsste. Gerade mit Ihnen nicht. Soweit ich in Kenntnis gesetzt wurde, befinden Sie sich hier als Privatperson und dürfen nicht darauf hoffen, sich auf Ihre Behörde zu berufen. Das macht zumindest Sie, Ihren Begleiter Einheit …«, er konsultierte abermals die Papiere auf dem Tisch, »… 682-423877-32-06 und die junge Dame, die sich außerstande sieht, sich auszuweisen, zu Straftätern im Sinne des Gesetzes. Die unbedingt zur Verantwortung gezogen werden. An Ihrer Stelle wäre ich also ganz ruhig, wenn sich Ihre Lage nicht weiter verschlimmern soll.«
»Ich zeig dem gleich, wie sich seine Lage verschlimmert«, grollte Bruggs, doch Coler legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Haben Sie eigentlich die Dokumente gelesen, Sie arroganter Schwachkopf?«, polterte Cummins. »Mister van Valen ist offizieller Agent des Stadtsekretariats für Innere Angelegenheiten und mit der Aufklärung von einigen heiklen Mordfällen betraut. Deren Spuren uns direkt hierher geführt haben.«
Der Schnurrbärtige hob den Zeigefinger und schenkte Eric ein öliges Lächeln. »WAR betraut. Mister van Valen ist zurzeit mit überhaupt keinem Fall beauftragt, sondern im Gegenteil wegen Insubordination suspendiert, wie man uns soeben mitteilte. Hier, überzeugen Sie sich selbst, Mister Cummins.«
Er entfaltete nochmals den Bogen Papier, den er erhalten hatte, und schob ihn über den Tisch.
Der Sergeant der Lederhäute nahm das Dokument entgegen, das vom schlichten Briefkopf des Staatssekretariats gekrönt wurde. Dann wandte er sich an Eric. »Ist das wahr, Sir?«
Eric starrte einen Moment vor sich hin und seine Kiefer mahlten. Schließlich seufzte er und begegnete Cummins’ Blick. »Rein faktisch ist das korrekt. Offiziell gilt der Fall als geklärt und der Täter als gefunden und unschädlich gemacht. Sie wissen jedoch ebenso gut wie der Chief Inspector, dass wir es unmöglich mit einem Einzeltäter zu tun haben.«
»Das ist Ihre Interpretation, van Valen«, sagte der schnurrbärtige Wachmann. »Wie Sie ja selbst bestätigen, Sie haben kein Recht, hier zu ermitteln und …«
»Mein Gewissen und meine Auffassung vom Dienst sagen mir, dass es sich um einen Irrtum handeln muss und ich deshalb verpflichtet bin, trotzdem weitere Untersuchungen anstellen zu müssen«, unterbrach ihn Eric.
Cummins schüttelte den Kopf. »Das hätten Sie mir ruhig mitteilen können, Sir. Ich fürchte, dann haben Sie jetzt wirklich ein Problem.«
Der Schnurrbart grinste herablassend, als sich hinter ihm die Tür öffnete. Zwei Uniformierte betraten das Büro, gefolgt von einem hochgewachsenen Mann, der sich mit einem leichten Ausdruck von Abscheu in dem spartanischen Raum umsah. Er trug einen dunklen, exquisit geschnittenen Anzug, an dessen akkurat gebundener Krawatte eine silberne Nadel prangte. Das Emblem darauf war dasselbe, wie jenes auf den Uniformen der Wachleute. Das war allerdings auch das einzige Zeichen dafür, dass es sich bei ihm ebenfalls um einen Angestellten der Steamtown Power Transmission Ltd. handelte.
Seine gesamte, sonstige Erscheinung hätte weit besser auf eine formale Abendgesellschaft der oberen Zehntausend gepasst, als in diesen funktionalen Wachraum im Seitentrakt einer Industrieanlage. Seiner Miene nach zu schließen, empfand er dabei ähnlich. Seine Prüfung der Anwesenden endete bei Eric. »Mister van Valen, nehme ich an? Folgen Sie mir.« Er winkte seinen Begleitern, die Eric daraufhin wortlos flankierten.
»Aber, Sir, ich bin gerade dabei, diese …«, setzte der Schnurrbart zu einem Protest an, doch ein Blick des Anzugträgers ließ ihn verstummen.
»Ich kann mich nicht erinnern, Sie um Ihre Meinung gebeten zu haben, Krever. Oder irgendjemanden Ihrer Kollegen. Also halten Sie den Rand und machen Sie Ihren Job. Worin immer der bestehen mag.« Er wandte sich ohne eine weitere Erklärung um und verließ den Raum. Eric, eingeklemmt zwischen den beiden Wachleuten, blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
…
Flankiert von den Wachleuten wurde Eric aus dem Gebäude hinaus auf einen offenen Platz geführt. Der Anblick, der sich ihm dort bot, verschlug ihm schier den Atem. Was er erblickte, ähnelte mehr als alles andere, was er je zuvor in seinem Leben gesehen hatte, dem chaotischen Treiben eines riesigen Ameisenhaufens. Unzählige Menschen wuselten in einem unglaublichen Durcheinander über das Kopfsteinpflaster – manche mit schweren Lasten beladen, andere mit Aktenmappen. Weißkittel transportierten mit wichtiger Miene seltsame Gerätschaften umher. Hier und da schoben sich gewaltige, chromblitzende Maschinen hupend durch das Gedränge. Auf ihren Ladeflächen hoben und senkten sich in gleichmäßigem Rhythmus pumpenschwengelartige Auswüchse, wie die Arme von Riesen, die sich gegenseitig drohend die Fäuste entgegenreckten. Nach diversen ziellos wirkenden Runden über den Platz verschwanden sie hinter einem der zahlreichen Stahltore, auf denen in goldenen Lettern das Zeichen der Steamtown Power Transmission Ltd. aufgeprägt war. Ersetzt wurden sie durch neue, noch befremdlichere Apparaturen, die sich wie Insekten auf grotesk dünnen, stelzenartigen Beinen vorwärts bewegten. Ihre Fahrer erweckten mit ihrer an Taucheranzüge erinnernden Schutzkleidung den Eindruck von Wesen aus einer anderen Welt.
Es dauerte einige Zeit, bis Eric hinter all dem Chaos eine gewisse Ordnung erkennen konnte. Je genauer er hinschaute, umso mehr fielen ihm die eng abgegrenzten Bereiche auf, denen die Maschinen folgten. Die Bürgersteige, auf denen die Reihen der Arbeiter schwer beladen in die Gebäude hineinmarschierten und die Pfade, auf denen sie mit leeren Händen oder neuen Lasten wieder herauskamen. Sein Blick blieb unweigerlich an den uniformierten Wachen hängen, die an Kreuzungen und Halleneingängen postiert waren und mit grimmigem Gesicht die vorbeieilenden Lastenträger musterten. Sie waren mit den modernsten Plasmawaffen ausgerüstet. Der Agent bemerkte, dass einige von ihnen Lederkappen trugen, unter denen sich Kommunikationsgeräte verbargen, die sonst nur bei den Piloten der mächtigen Luftschiffe Verwendung fanden.
Wie ein gewaltiger Ameisenhaufen … Das Bild schien tatsächlich zuzutreffen. Auf der einen Seite die unzähligen, fleißigen Arbeiter, die unablässig Vorräte und Baumaterial heranschafften, auf der anderen Seite die Krieger, die sich darum kümmerten, dass alles seinen geregelten Gang lief. Dass niemand aus der Reihe tanzte oder die Heimstatt des Volkes gefährdete. Fehlte nur noch die Königin, die sich irgendwo tief im Inneren des Nests verborgen hielt und dafür sorgte, dass das Volk wuchs und sich ausbreitete, indem sie unaufhörlich Nachwuchs erzeugte.
Unsanft wurde Eric von seinen Begleitern auf eine wartende, plasmagetriebene Droschke befördert. Als auch der Anzugträger hinter ihm aufgestiegen war, klappte der Fahrer an der Seite des Wagens ein rotes Fähnchen nach oben und ließ ein blechern klingendes Signal ertönen. Augenblicklich öffnete sich in der Menge der Arbeiter eine schmale Gasse, durch die das Gefährt ungehindert den Platz überqueren und auf die Hauptstraße einbiegen konnte. Das Signal schien eine beinahe magische Wirkung auf die Menschen und Fahrzeuge auszuüben, die sich in einem steten Strom die Straße hinauf bewegten. Wer auch immer den blechernen Ton hörte oder das rote Fähnchen erkannte, tat sein Möglichstes, der Droschke auszuweichen.
Nur die mächtigen Maschinen zeigten sich unbeeindruckt von dem im Vergleich winzigen Störenfried. Niemand würde angesichts dieser unaufhaltsamen Masse aus Messing und Stahl auf seinem Recht auf Vorfahrt beharren. Dem Fahrer blieb nichts anderes übrig, als fluchend und schimpfend um die riesigen Hindernisse herumzunavigieren. Trotzdem kamen sie zügig voran und erreichten kurze Zeit später ein gut bewachtes Sicherheitstor. Als sie es passiert hatten, änderte sich die Umgebung schlagartig. Die Werkhallen mit den großen Toren wichen gestreckten, braunen Fabrikgebäuden, aus deren Dächern die Schornsteine ragten, die typisch für das Bild von Steamtown geworden waren. Der beißende, schmutzig graue Rauch, den sie ausspien, verdunkelte den Himmel über ihnen so stark, dass die Straßenlaternen sogar am Tag weiterbrennen mussten. Viele Arbeiter trugen Gesichtsmasken, die ihnen das Atmen erträglicher machten, die meisten schleppten ihre schweren Lasten aber ohne Schutz durch die stinkenden Abgase. Ihrem heruntergekommenen Äußeren nach zu schließen, handelte es sich um arme Lohnarbeiter aus den Docks, die sich für einen kärglichen Lohn ihre Gesundheit ruinierten.
Glücklicherweise mussten sie nur kurz zwischen den Fabrikgebäuden entlangfahren. Die Verwaltungsgebäude – das Ziel ihrer Reise, wie Eric gleich darauf erfuhr – lagen ein Stück weiter oben an der Flanke der Lord Hedley Hills. Dort sorgte der Seewind für eine frische Brise und deutlich bessere Luft als unten im Tal. Die Droschke kletterte den Berg hinauf und passierte ein zweites und drittes Sicherheitstor, ehe sie schließlich vor einem gewaltigen Gebäudekomplex zum Stehen kam. In ihrer funktionalen Schlichtheit erinnerten die Gebäude mit ihren symmetrischen Säulen und klaren Formen an die kontinentale Architektur der Jahrhundertwende, schienen aber bedeutend jünger zu sein. Als Eric an den Fassaden emporschaute, erfüllte ihn ihr respekteinflößender Anblick mit einer gewissen Ehrfurcht – und durchaus auch einer Spur Unbehagen.
Die Wachleute führten ihren Gefangenen in eine kalte Eingangshalle aus grauem Marmor und marschierten ungeachtet der verwunderten Blicke des Empfangspersonals die breiten Treppen in das Obergeschoss hinauf. Oben angekommen lösten sie die Handschellen und übergaben Eric der Obhut des Anzugträgers.
»Folgen Sie mir, Mister van Valen.« Ohne sich umzudrehen, verschwand der hochgewachsene Mann in einem langgestreckten Flur. Eric machte sich keine Illusionen. Falls er diesen Augenblick zur Flucht nutzte, würde er nicht weit kommen. Das Gebäude war höchstwahrscheinlich zu schwer bewacht. Und selbst wenn es ihm gelänge, es irgendwie zu verlassen, wäre er immer noch auf dem weitläufigen Fabrikgelände gefangen. Die zahlreichen Sicherheitstore und Wachmänner gaben deutlich zu erkennen, wer in dieser seltsamen Stadt das Sagen hatte.
Seufzend folgte er dem Anzugträger durch zwei weitere Flure und schließlich in ein geräumiges Büro, dessen noble Einrichtung in krassem Gegensatz zur Nüchternheit des restlichen Gebäudes stand. Die Wände waren mit dunklem Eichenholz getäfelt, der Schreibtisch in der Mitte des Raums aus Teak gefertigt. Über dem marmornen Kamin hing ein kostbares Ölgemälde aus der königlichen Sammlung. Eric zweifelte nicht, dass es sich um eine persönliche Leihgabe oder sogar um ein Geschenk handelte.
Als er die Züge des Mannes erkannte, der ihm aus dem schweren Ledersessel hinter dem Schreibtisch entgegenblickte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Dieses Gesicht … und diese Augen! Sicher, es wirkte ungleich älter als damals, als er es zum letzten Mal gesehen hatte. Aber wie lange war das inzwischen her? Zehn, vielleicht fünfzehn Jahre? In so einer Zeitspanne konnte sich viel verändern. Trotzdem bestand kein Zweifel.
…
Er war wesentlich schlanker, als Eric ihn in Erinnerung hatte. Obwohl er nun weit über sechzig sein musste, strahlte er eine Energie aus, die sein wahres Alter Lügen strafte. Mehr denn je wurde die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden deutlich. Es war beinahe so, als würde der Agent in einen Spiegel schauen, der ihm die Zukunft zeigte. Schweigend starrte er seinen Vater an, hin- und hergerissen zwischen unzähligen, widerstrebenden Gefühlen. Von denen eines das Bedürfnis war, diesen Mann zu packen und aus dem Fenster zu schleudern, für das, was er getan hatte. Aber alle Vorwürfe, alle Fragen und Reaktionen, alles, was er sich in den vergangenen fünfzehn Jahren für diesen einen Augenblick zurechtgelegt hatte, war mit einem Mal wie weggeblasen.
Sir William Hutton brach als Erster das unangenehme Schweigen, indem er den Anzugträger hinausschickte und Eric bedeutete, sich in einem Stuhl dem Schreibtisch gegenüber niederzulassen. Der Agent gehorchte der Aufforderung beinahe wie ein Automaton.
»Ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachten lassen«, begann sein Vater. »Sie haben sich gut entwickelt, Mister van Valen. Ich glaube, aus Ihnen wird langsam ein fähiger Agent.«
Als Eric nichts erwiderte, legte er die Hände übereinander und fuhr fort. »Sie haben sich sicherlich bereits gedacht, dass Sie nicht versehentlich für die Untersuchung des Hartlefield-Falls ausgewählt wurden. Mister Hartlefield und auch das zweite Opfer waren Mitarbeiter unseres Unternehmens. Beide waren in der Plasmaforschung tätig und haben an bedeutenden Forschungsprojekten teilgenommen. Ihr Tod ist nicht einfach nur ein tragischer Verlust, sondern wirft unsere Entwicklung um Jahre zurück. Wenn nicht sogar um Jahrzehnte.« Er beugte sich nach vorn. »Verstehen Sie, Mister van Valen? Das alles ist kein Zufall. Irgendjemand versucht, die Steamtown Power Transmission Ltd. zu sabotieren. Und dieser jemand scheut sich nicht davor, unschuldige Menschen umzubringen.«
Eric atmete tief durch. »Sie sind ein mächtiger Mann, Sir. Als wir Ihr Gelände … Ihre Stadt betraten, wurden wir von einer halben Armee überwältigt. Auf dem Weg zu den Verwaltungsgebäuden fuhren wir an schwer bewachten Toren vorbei und an jeder Ecke stehen Bewaffnete mit der modernsten Ausrüstung, die man für Geld kaufen kann. Das Vermögen dieses Unternehmens ist wahrscheinlich größer als das der königlichen Familie. Wie kann es also sein, dass es Ihnen nicht gelingt, einen Saboteur gefangen zu nehmen, der zwei Ihrer Männer getötet hat? Wieso benötigen Sie dazu die Hilfe eines einzelnen Agenten, der gerade eben von der Akademie gekommen ist und noch keinen einzigen Fall gelöst hat? Was soll dieser Mummenschanz? Womöglich eine Art Wiedergutmachung?«
Hutton setzte zu einer Erwiderung an, schüttelte dann aber nur stumm den Kopf. Er blickte Eric tief in die Augen. »Weil ich Ihnen vertraue«, sagte er schlicht. »Das ist alles. Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Die beiden Toten gehörten zur Abteilung zur Erforschung des hochenergetischen Plasmas. Nur sehr wenige Menschen in der Firma wissen, dass es diese Abteilung überhaupt gibt. Hochenergetisches Plasma ist selten und derart wertvoll, dass Staaten Kriege beginnen würden, um es in ihre Hände zu bekommen. Tatsächlich ist es in einem Fall sogar schon dazu gekommen. Geheimhaltung hatte also oberste Priorität. Aus diesem Grund war auch niemandem von außerhalb bekannt, welcher Aufgabe Hartlefield und der Doktor nachgingen. Darüber hinaus wurden sie rund um die Uhr von den besten Detektiven überwacht. Trotzdem hat man sie kaltblütig und auf äußerst brutale Art ermordet. Einfach so, ohne dass unsere Männer etwas davon mitbekommen haben. Das alles lässt nur einen einzigen Schluss zu: Die Täter sind im Besitz von Informationen, an die man nur gelangen kann, wenn man in unserem Unternehmen arbeitet. Die Täter müssen aus dem engsten Kreis stammen – sie können sich frei überallhin bewegen und sie haben weitreichende Beziehungen. Sogar bis in die Regierung hinein. Aus diesem Grund haben wir Sie für diesen Fall ausgewählt, Mister van Valen. Wir benötigten jemand Unauffälliges, der den nötigen Ehrgeiz hat, diesen Mordfall trotz aller Widerstände aufzuklären und der gleichzeitig absolut vertrauenswürdig ist.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und breitete die Hände aus. »Und tatsächlich haben Sie unsere Erwartungen nicht enttäuscht. Ihnen ist es gelungen, die Saboteure aus der Reserve zu locken.«
»Allerdings«, sagte Eric. »Es hat nicht viel gefehlt und sie hätten uns umgebracht.«
»Genau das ist der entscheidende Punkt.« Hutton hob den Zeigefinger. »Es ist ihnen nur beinahe gelungen. Stattdessen mussten die Saboteure eine schwere Niederlage einstecken und konnten gerade noch einmal entkommen. Das ist mehr, als wir bisher mit all der uns zur Verfügung stehenden Macht erreicht haben.«
…
»Also noch mal von vorn. Wie ist Ihr Name?« Mister Kreven, der schnurrbärtige Wachmann, wirkte kein bisschen angestrengt, als er zum wiederholten Mal und ohne im Geringsten die Miene zu verziehen seine Fragen auf Whiggs abfeuerte.
Die Emanatin dagegen spürte die Erschöpfung in jedem Muskel. Die letzten Stunden hatten ihr einiges abverlangt und mit Sicherheit grauschattige Ringe unter ihren Augen hinterlassen. Dazu gab dieser arrogante Schnösel von der Steamtown Power Transmission Ltd. keine Ruhe und ging sie immer wieder aufs Neue an. Sie dachte an ihre kühle, schattige Wohnung, die tief unten in Lethe auf sie wartete. Sie war müde. Sehr müde. Trotzdem raffte sie sich ein weiteres Mal zu der zurechtgelegten Antwort auf, die sie dem misstrauischen Mann so überzeugend wie möglich auftischte. »Das habe ich doch schon erzählt. Mein Name ist Eleonore Taversham und ich stamme aus St. Morris, wo ich bei meiner Tante und meinem Onkel wohne. Deren Namen lauten Mira und Rupert Malcomwell, wohnhaft in der Angelshore Street 43. Schicken Sie eine Depesche nach St. Morris, dort werden sie meine Angaben bestätigen. Vielleicht können wir uns diese ewige Fragerei dann endlich ersparen.« Sie pokerte, wohl wissend, dass eine Depesche mindestens eine Woche unterwegs sein würde. So lange würde man sie hier nicht festhalten dürfen.
»Das werde ich frühzeitig genug veranlassen«, sagte Mister Kreven. »Bis es so weit ist, werden Sie sich jedoch meinen Fragen stellen müssen. Es sei denn, Sie wollen gleich mit der Wahrheit herausrücken.« Er wartete ein paar Sekunden und Whiggs lieferte sich mit ihm ein kurzes Duell im Anstarren, das keiner von ihnen gewann. Daher folgte die nächste Frage auf dem Fuß. »Wo sind die Papiere, die Ihre Identität bezeugen können?«
»Noch einmal, Mister Kreven«, schnauzte Whiggs ungehalten zurück, »die Droschke hatte auf dem Weg von St. Morris einen Teil des Gepäcks verloren und dem Kutscher ist es erst nach unserer Ankunft in Steamtown aufgefallen. Er wurde von seinen Vorgesetzten bereits zur Verantwortung gezogen. Um genau zu sein, er wurde gefeuert, was mir mein Gepäck und meine Dokumente aber nicht zurückgebracht hat. Im Moment ist der unfähige Kerl auf dem Rückweg. Wie Sie wissen sollten, kann das auf einer Strecke von mehreren hundert Meilen eine ganze Weile dauern. Bei meinem Glück hat sich in der Zwischenzeit irgendeine Diebesbande meinen Koffer unter den Nagel gerissen und läuft nun mit meiner Ausgehgarderobe in der Wildnis herum. Oder was glauben Sie, warum ich immer noch meine Reisekleidung trage?« Sie deutete mit ihren Händen an sich herab.
Kreven hatte es beinahe geschafft, dass sie sich für ihre stinkende, zerschlissene Kleidung schämte. Zumindest jedes Mal, wenn sie die Frauen in ihren geschmackvollen und teuren Kostümen betrachtete, die gelegentlich an den Fenstern zum Flur vorbeiliefen und neugierige Blicke in den Verhörraum warfen. Trotzdem würde sie nicht kleinbeigeben, selbst wenn das Verhör die komplette Nacht andauern würde. Früher oder später würde Kreven genug haben und sie in Ruhe lassen. Hoffte sie jedenfalls.
»Schöne Geschichte. Das Dumme ist nur, dass ich Ihnen kein einziges Wort glaube, Miss Taversham.« Kreven stützte sich auf die Tischplatte, schob den Oberkörper vornüber und kam Whiggs dabei bedrohlich nah. Sein Atem stank nach Bratfisch und Minze. »Ich kann sehr, sehr unangenehm werden. Das versichere ich Ihnen. Also strapazieren Sie nicht länger meine Geduld. Was hatten Sie auf dem Gelände der Steamtown Power Transmission Ltd. verloren? Besonders in Gesellschaft dieser Kanalreiniger.« Angewidert rümpfte er die Nase und nickte in Richtung der restlichen Gruppe.
»Das reicht! Ich mach den Drecksack fertich.« Bruggs sprang auf und machte Anstalten, sich mit geballten Fäusten auf den Mann hinter dem Schreibtisch zu stürzen. Die Waffen der Wachen würdigte er keines Blickes.
Cummins und der schweigsame Tawyer reagierten sofort und fielen ihm in die Arme. Sie konnten jetzt keine Eskalation der Situation gebrauchen, auch wenn man von ihren Mienen deutlich ablas, dass sie alle diesem Arschloch nur zu gern selbst zeigen wollten, was sie von ihm hielten.
Whiggs registrierte, wie sich kleine Schweißperlen auf Cummins’ Stirn bildeten, als sie mit Mühe und Not den in Rage geratenen Bruggs zurückhielten. Die Wachen stellten sich schützend vor Kreven. Einer versetzte Bruggs mit dem Kolben seines Kremsberger, ein großkalibriges Plasmagewehr, einen derben Stoß vor die Brust, der ihn keuchend zurücktrieb und zusammen mit Cummins zu Boden stürzen ließ. Die anderen Wachen legten ihre Waffen an und zielten auf die drei Seuchenschutzbeamten. Mit einem Aufschrei warf sich Whiggs dazwischen. Mit beiden Händen versuchte sie, die Wachen auseinanderzutreiben und die tödlichen Schüsse zu vermeiden.
»Was ist denn hier los?«, donnerte eine gebieterische Stimme. »Hören Sie sofort mit diesem Unsinn auf!« Der hochgewachsene Anzugträger trat in den Raum und stemmte die Fäuste in die Hüften.
Kreven bemühte sich umgehend, mit nervös zuckendem Schnurrbart, seine Männer zurückzurufen. »Sir, ich musste nur …«
»Das interessiert mich nicht im Geringsten, Mister Kreven. Sie werden sich für diesen Zirkus verantworten müssen. Wenn Sie Ihre Zirkusvorstellung beendet haben, werden Sie sich in meinem Büro melden. Unverzüglich. Haben wir uns verstanden?«
»Ja … jawohl, Mister Maloy. Sir.«
»Und nehmen Sie unseren Gästen die Handschellen ab. Sofort!«
Whiggs konnte die plötzliche Kehrtwende nicht fassen. Erst behandelte man sie wie Verbrecher und nun? Sie war sich beinahe sicher, dass es sich nur um einen weiteren Trick handelte, um sie alle in Sicherheit zu wiegen. Oder hatte dieser Eric van Valen tatsächlich etwas bewirken können? Bevor sie sich weiter wunderte, wo der Agent so lange abgeblieben war, trat er höchstpersönlich hinter dem Anzugträger in den Raum. Er wirkte nicht unbedingt zufrieden, aber auch er trug keine Handschellen mehr. Selbst seine Waffe hatten sie ihm zurückgegeben.
Nacheinander blickte er die Lederhäute, schließlich sie und Mister Ferret an. »Meine Herren, Miss Taversham. Wir haben eine neue Spur.«
…
»Es gibt jemanden, der den Mord an Mister Hartlefield beobachtet hat.«
»Einen Augenzeugen?«, fragte Whiggs ungläubig.
Eric nickte. »Und er befindet sich hier auf dem Werksgelände.«
»Eine interessante Wendung, Sir«, sagte Mister Ferret leise. »Und eine überraschende noch dazu – nicht dass wir in letzter Zeit nicht bereits genügend solcher Dinge erlebt hätten.«
»Es handelt sich um einen Lastenträger aus den Produktionshallen«, erklärte Eric und berichtete, was ihm erzählt worden war. »Offenbar eine gute Bekanntschaft des Mordopfers. Sein Name ist Jan Wojcik. Mister Hartlefield wollte sich mit ihm in der fraglichen Nacht in einem Pub in der Nähe der Bakers Guild treffen. Die Gründe sind nicht bekannt, aber es schien sich um etwas Dringliches gehandelt zu haben. Als Mister Wojcik verspätetet am vereinbarten Treffpunkt erschien, musste er etwas gesehen haben, das ihm schier den Verstand raubte. Er versteckte sich fast einen halben Tag lang in einem Haufen Unrat, ehe er es wagte, sich zurück in seine Unterkunft auf dem Gelände der Plasmawerke zu schleichen. Man fand ihn schließlich zusammengekauert unter seinem Bett, unsinniges Zeug vor sich hinbrabbelnd, beinahe ebenso verwirrt wie die arme Haushälterin des zweiten Mordopfers.«
»Sehr seltsam, Sir«, sagte Mister Ferret. »Warum haben wir nicht früher davon erfahren?«
»Diese Frage ging mir ebenfalls als Erstes durch den Kopf. Aber es stellte sich heraus, dass Mister Wojcik ein illegaler Einwanderer ist und keine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Das ist der Grund, weshalb er nicht zur Polizei gegangen ist – neben der Tatsache, dass ihm dort niemand seine haarsträubende Geschichte geglaubt hätte. Jedenfalls beschloss man in der Fabrik, wohl aus den genannten Überlegungen heraus, genauso Stillschweigen zu bewahren. Schließlich hatten sie schon genug Ärger am Hals. Mir wurde erzählt, dass man Mister Wojcik zuerst still und leise im Coleman-Asylum unterbringen wollte. Doch der arme Mann wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen und beschwor Himmel und Hölle, ihn nicht fortzuschaffen. Also brachte man ihn auf die Krankenstation, wo er heute noch liegt. Ich wurde nun vom Vorstand gebeten, ihm einen Besuch abzustatten und zu versuchen, mehr aus ihm herauszubekommen, als es den Ärzten bislang gelungen ist.« Eric schaute sich in der Runde um und wandte sich zum Schluss an den Anführer der Lederhäute. »Ich denke, es ist besser, wenn wir das ohne Sie tun, Sir. Wir haben Sie bereits tief genug mit in diesen Sumpf hineingezogen.«
»Kein Problem, Sir«, sagte Cummins gelassen. »Wir sind ohnehin mehr für die groben Dinge zuständig. Falls Sie jemanden brauchen, der Sie herausholen oder den Laden hier in die Luft sprengen soll, melden Sie sich einfach bei uns. Wir warten so lange und trinken nen Tee mit den netten Angestellten.« Er grinste sarkastisch und fixierte dabei besonders Mister Kreven auf eine wissende, ziemlich unverhohlen feindselige Art. »Ansonsten wissen Sie ja, wo Sie uns finden können.«
»Vielen Dank, Mister Cummins. Ich weiß Ihr Angebot wirklich zu schätzen. Dennoch hoffe ich, dass ich nicht darauf zurückkommen muss. Wenn schon nicht in meinem, dann aber zumindest in Ihrem Interesse. Momentan lässt sich nicht abschätzen, welche Gefahren noch auf uns lauern. Genug davon hatten wir ja bereits, wie Mister Ferret so treffend feststellte.«
Mister Maloy führte Eric, Whiggs und Mister Ferret über unzählige, mit geschäftig vorbeieilenden Angestellten vollgestopfte Flure und verwinkelte Treppen, bis sie schließlich ins Freie traten. Im Gegensatz zu der hektischen Betriebsamkeit des Platzes, über den Eric zuletzt gekommen war, herrschte hier eine ausgestorbene Stille. Offensichtlich waren sie auf einer völlig anderen Seite des Bürokomplexes herausgekommen. Ein an einen Hinterhof erinnernder Park erstreckte sich vor ihnen, dessen sterile Komposition nur selten von einem Baum, einer technisch anmutenden Skulptur oder einer unbesetzten Parkbank unterbrochen wurde. Aseptisch, ging es Eric mit einem Frösteln durch den Kopf. Wie in einem Sterbezimmer. Am gegenüberliegenden Ende erhob sich ein grauer, klobiger Bau, dessen Front ein Spiegelbild des vor ihm liegenden Parks darstellte. Kalt und emotionslos. Aseptisch.
»Hier entlang, bitte.« Mister Maloy wies auf einen gepflasterten Weg, der geradewegs zum Eingang des Gebäudes führte. »Wir halten die Krankenstation abseits von dem übrigen Trubel. Mit einer optimalen Mischung aus modernster Medizin und der nötigen Ruhe gewährleistet die Fabrik, dass die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter schnellstmöglich wiederhergestellt wird. Die Steamtown Power Transmission Ltd. kann auf keinen einzigen Arm verzichten, wenn wir unsere führende Wirtschaftskraft erhalten wollen.«
Eric nickte. »Ich verstehe.« Ihm war die Kälte in den Worten des Anzugträgers nicht entgangen. Auch Whiggs anscheinend nicht, wie er in den beinahe ungläubigen Augen der jungen Frau zu erkennen glaubte. Er konnte sich gut vorstellen, dass in einer lebensfeindlichen Welt wie der, in der Lethe seinen Platz einnahm, andere Werte zählten, als reine Arbeitskraft.
Als sie die Eingangstür erreicht hatten, verabschiedete sich Mister Maloy mit einer höflichen aber übertrieben wirkenden Verbeugung. »Ich muss Sie nun verlassen. Meine Verpflichtungen lassen es leider nicht zu, dass ich Sie bis in das Krankenzimmer führe. An der Rezeption ist man über Ihr Kommen unterrichtet. Dort wird man Ihnen das Zimmer Ihres Patienten zeigen. Sobald Sie fertig sind, werde ich benachrichtigt. Ich sorge im Anschluss dafür, dass Sie wieder zurückgeleitet werden.«
Eric sah ihm hinterher, bis er am anderen Ende des Parks in der Tür zum Bürokomplex verschwunden war. Erst danach griff er nach der Klinke. »Dann wollen wir mal.«
Bevor er jedoch die Tür öffnen konnte, räusperte sich Mister Ferret. »Entschuldigen Sie, Sir. Es ist vielleicht besser, wenn ich draußen bleibe. Der Zeuge dürfte nicht besonders begeistert reagieren, sollte er die hier bemerken.« Er tippte sich mit dem Fingernagel auf einen schwarzen Augapfel. »Ich werde einfach warten, bis Sie zurück sind, Sir.« Damit wandte er sich um, ohne die Antwort des Agenten abzuwarten, steuerte eine der Parkbänke an und setzte sich. Unbeweglich wie eine der Skulpturen verschmolz er nahezu augenblicklich mit der stillen Umgebung des Parks.
…
Am Eingang empfing sie ein jugendlicher Arzt. Er stellte sich als Doktor Brown vor und begleitete sie ohne weitere Worte durch die gefliesten Gänge zu den Patientenzimmern. Trotz der neueren Bauart ähnelten die Flure in ihrem erdrückenden Erscheinungsbild stark denen des Coleman-Asylum. Whiggs und Eric warfen sich Blicke zu, die besagten, dass keiner von ihnen glücklich darüber wäre, sich an diesem Ort jemals von irgendwelchen Krankheiten erholen zu müssen.
Nachdem der Doktor sie durch mehrere Gittertüren geschleust hatte, öffnete er eine überraschenderweise unverschlossene Zimmertür und bat die Besucher, einzutreten.
»Sie haben zehn Minuten, Mister van Valen. Bitte vermeiden sie alles, was den Patienten übermäßig aufregen könnte und wenden Sie keine Gewalt an. Falls Sie Hilfe benötigen, finden Sie an der Wand zu Ihrer Linken ein Sprechrohr. Heben Sie den Hörer ab und drehen Sie die Kurbel einmal im Uhrzeigersinn. Sofern ich nichts von Ihnen höre, hole ich Sie spätestens nach Ablauf der Besuchszeit wieder ab.«
Eric nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und der Doktor schloss hinter ihnen die Tür. Das Zimmer war sauber, aber trostlos. Bis auf zwei schmale, unbenutzt wirkende Betten, einen Tisch mit zwei Stühlen und einen schlichten Schrank besaß es keinerlei Inventar. Auf einem der Stühle saß Jan Wojcik. Erstaunlicherweise machte er auf Eric überhaupt nicht den Eindruck eines Lastenträgers. Er wirkte schmächtig und feingliedrig. Mit seinem schütteren Haar und dem abgehärmten Gesicht hätte man ihn sich eher als verarmten Musiker oder Lehrer vorstellen können. Vielleicht ein Dichter. Möglicherweise täuschte dieser Eindruck noch nicht einmal. In den Docks arbeiteten eine Menge Einwanderer, die in ihrer Heimat eine höhere Schule oder gar Universität besucht hatten, die der Krieg auf dem Kontinent jedoch dazu gezwungen hatte, zu flüchten. Wo man ihre Fähigkeiten nicht benötigte, schlugen sie sich mit körperlicher Arbeit durch und legten dabei manchmal eine Zähigkeit an den Tag, die ihr schwächliches Äußeres Lügen strafte.
Mister Wojcik schien einer von diesen Männern zu sein. Er hatte die Hände vor sich auf dem Tisch übereinandergelegt und blickte seinen Besuchern still und aufmerksam entgegen. Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als überlege er, ob er aufstehen und sie begrüßen sollte. Offensichtlich entschied er sich dann aber anders und machte mit der Hand eine flüchtige Bewegung, die Eric als Einladung interpretierte, sich zu setzen.
Der Agent schaute unentschlossen von dem einzigen noch leeren Stuhl zu Whiggs. Die Emanatin ersparte ihm irgendwelche höflichen Gesten, indem sie sich einfach auf den Rand eines der Betten niederließ. Nach kurzem Zögern zog Eric das Sitzmöbel zu sich heran und setzte sich ebenfalls. »Mein Name ist Eric van Valen«, begann er. »Und meine Begleiterin hier heißt … ist Miss Taversham.«
Wojcik nickte. »Sehr erfreut«, antwortete er mit leichtem Akzent. »Sie wurden mir freundlicherweise bereits angekündigt. Entschuldigen Sie bitte, dass ich sitzen bleibe, aber ich fühle mich zur Zeit etwas schwach auf den Beinen.«
Eric bemerkte, dass die Hände des Mannes zitterten.
»Man erzählte mir, dass Sie ein Agent aus dem Ministerium seien«, sagte Wojcik. »Und dass Sie mir einige Fragen stellen würden. Ich solle Ihnen vertrauen, hieß es.« Seine Miene wies einen bitterernsten Zug auf. »Sie kommen von der Regierung, Mister van Valen.«
Das war eine erneute Feststellung. Von jemandem, der Abscheulichem begegnet sein musste, diente sie wohl der eigenen Bekräftigung. Der Mann schien offenbar nicht mehr zu wissen, was oder wem er noch glauben konnte.
»Ja, Mister Wojcik. Ich hoffe, das macht Ihnen keine Sorgen. Sie haben wirklich nichts zu befürchten. Ich möchte gerne etwas erfahren.«
Erics Gegenüber lachte kurz und trocken auf. »Sorgen? Was wissen Sie schon von Sorgen? Sie haben es nicht gesehen … es … dieses Ding, dieses …« Von einer Sekunde auf die andere kippte sein Gesichtsausdruck weg von der Gesprächskonzentration in einen Zustand der fahrigen Abwesenheit. Beinahe so, als ob er erneut vor diesem Schrecken davonlief. »Wo ist nur meine süße, kleine Lucy? Ist sie wieder weggelaufen, meine Lucy? Meine süße, zuckersüße Kleine. Komm zurück zu Papa. Komm …«
»Mister Wojcik. Mister Wojcik!« Eric fasste den Mann am Arm und sprach eindringlich auf ihn ein. Wojcik zuckte unkontrolliert, aber der Ton von Erics Stimme ließ ihn langsam zurück in die Wirklichkeit gleiten.
»Wer … wo bin ich?«
»Auf der Krankenstation, Mister Wojcik. Sie wollten gerade von Ihrem Erlebnis erzählen.«
»Es war ein Monster.« Wojcik schrie nun. »Ein Monster!«
…
»Ein Monster«, wehte ein Schrei von der anderen Seite des Parks herüber. Beinahe gleichzeitig wurden die Schritte von genagelten Schuhen hörbar. Mister Ferret hob kaum merklich den Kopf und entdeckte zwei Männer, die sich von einer Seitentür des Gebäudekomplexes näherten.
»Ein absolut gigantisches Vieh. So was hast du noch nicht gesehen«, rief der Kleinere enthusiastisch aus und deutete mit den Armen etwas an, das die ungefähren Dimensionen eines Einspänners haben musste. Seine Begeisterung wurde weit durch den stillen Park getragen.
Der Größere, ein schwammiger Mensch in der Livree eines Portiers, Liftboys oder etwas Ähnlichem, sprach deutlich leiser, doch es klang, als ob er den Wahrheitsgehalt der Erzählung anzweifelte.
»Wenn ich’s dir doch sage!«, bekräftigte der Kleinere. »Ich weiß nicht, woher die diese Viecher nehmen, aber ich hoffe, sie importieren sie von weit, weit weg. Beim Gedanken, dass so was unter uns lebt, wird mir angst und bange.« Er trug, wie Mister Ferret jetzt erkannte, die Uniform eines Fahrers der Steamtown Power Transmission Ltd.
»Ach komm, Sevrin«, sagte der Größere und zupfte seine Livree zurecht. »Zufällig kenne ich ein paar Jungs, die dort unten Wachdienst schieben. Von Ratten in dieser Größe hat noch nie einer erzählt. Und vertrau mir – die übertreiben gern mal.«
»Willst du sagen, dass ich lüg …?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich mein nur, ich kann mir nicht vorstellen, wo man so was Gewaltiges hernehmen sollte. Ich weiß, dass wir da im Moment Ärger haben und die Jungs vom Wachdienst meinen, dass die Biester größer und aggressiver sind als je zuvor. Aber das, was du da beschreibst …«
»Wenn du’s nicht glaubst, komm doch einfach heute Abend mit. Oresey, Jan, Mellner vom Balemans und ich geh’n uns das ansehen. Die haben angekündigt, dass sie das Monster gegen ein halbes Dutzend Quexer antreten lassen wollen. Ich mein, das musst du dir mal ausmalen!«
»Mit dem Spinner Mellner? Um mir wieder ein Ohr abkauen zu lassen mit seinen Geschichten von sexbesessenen, irren Ladys, singenden Massenmördern oder wahnsinnigen Kannibalen in Glaskäfigen?« Der Portier winkte ab. »Nee, danke. Davon abgesehen: angenommen, das Vieh ist auch nur halb so groß, wie du sagst – und dann noch sechs Quexer? Das ist sicher nicht der Ort und die Gesellschaft, in der ich meinen heutigen Feierabend verbringen möchte.«
»Ach komm schon! Hast du Schiss? Ein bisschen Nervenkitzel muss doch sein.«
Die beiden Männer waren beinahe auf gleicher Höhe mit Mister Ferret, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Der Wiedergänger hob den Kopf leicht an und setzte ein dünnes Lächeln auf. »Entschuldigen Sie, Sir. Aber ich kam nicht umhin, einen Teil ihres Gesprächs mitzubekommen. Sie sagten, Sir, dass heute jemand Quexer kämpfen lassen will. Das klingt überaus interessant. Könnten Sie mir eventuell verraten, wo?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Kerl«, bellte der Fahrer. »Kannst mich also …«
»Sevrin!« Der Portier blieb wie angewurzelt stehen. Er packte er den Kleineren am Ärmel und machte einen vorsichtigen Schritt zurück. »Das ist einer von denen.«
Sevrin verschluckte den Rest seines Satzes und hob die Hände. »Entschuldigen Sie, Sir! War nicht so gemeint. Grube, Sir!«
Mister Ferret sah ihn einen Moment lang an. Dann blinzelte er. »Bitte?«
»In der Grube, Sir!«, wiederholte Sevrin. Inzwischen war seine Haut blass genug, um dem Wiedergänger Konkurrenz zu machen.
»In der Grube findet heute Abend wieder ein Kampf statt?« Nachdenklich runzelte Mister Ferret die Stirn. »Ich dachte, da gab’s letzte Woche Probleme.«
Sevrin nickte und versuchte, unauffällig hinter den Rücken seines dickeren Begleiters zu gelangen. »Gab’s auch, Sir! Gab’s auch. Deswegen machen die ja eine richtig große Sause. Haben von irgendwoher ein Monster von Ratte aufgetrieben, um sie gegen gleich sechs Quexer antreten zu lassen. Wollen wohl ihren Ruf wiederherstellen.«
»Danke, Sir«, flüsterte Mister Ferret und senkte den Kopf.
Fahrer und Portier interpretierten das als Zeichen, jetzt entlassen zu sein und entfernten sich mit hastigen Schritten. Mister Ferret sah ihnen aus den Augenwinkeln nach. Dem Gang nach zu urteilen hatte der Fahrer für diesen Tag genug Nervenkitzel gehabt. Außerdem benötigte er eine frische Hose. Mister Ferret blinzelte. Das war nicht die Reaktion, die er für gewöhnlich hervorrief.
Er dachte über das Gehörte nach. Die Grube hatte es also geschafft, sich eine neue Attraktion zu organisieren. Quexer. Die Thurgood gegen seine Rattenmutantin antreten lassen wollte. Mit einem solchen Kampf war bestimmt eine Menge Geld zu verdienen, natürlich. Mister Ferret war sich allerdings sicher, dass das nur Thurgoods zweite Wahl für eine gelungene Rehabilitation seines Rufs gewesen sein dürfte. Die Wunschbegegnung wäre wohl ein gewisser Wiedergänger im Kampf gegen Mutantin und Quexer gleichzeitig gewesen.
Der dünne Mann sank noch weiter in sich zusammen und zog den Bowler tief ins Gesicht. Er konnte zwar nicht mehr frösteln – dennoch verspürte er das Bedürfnis danach.
Seltsam war ihm die Reaktion des kleinen Fahrers und des dicken Portiers trotzdem vorgekommen. Einer von denen. Denen – was? Wiedergänger? Die meisten waren doch harmlose, hirnlose Arbeiter, denen niemand einen zweiten Blick schenkte. Wenn man es genau nahm, waren es für die Öffentlichkeit sogar alle von ihnen, Mister Ferret eingeschlossen. Warum also dieses Erschrecken?
War es möglich, dass sie ebenfalls dem anderen Wiedergänger begegnet waren? Dem, nach dem Eric, Whiggs und er suchten? Sofern sie ihn nur gesehen hatten, dann erklärte das nicht die Angst in ihren Augen. Oder den nassen Fleck im Schritt. Falls sie aber Schlimmeres erblickt hatten – warum hatten sie keine Meldung erstattet? Oder hatte man den Agenten der Behörde nichts von einer solchen Meldung mitgeteilt? Mister Ferret runzelte die haarlosen Brauen. Irgendwas stimmte noch immer nicht an diesem Gedankengang.
Einer von denen. Mehrere?
Er blinzelte zum dritten Mal innerhalb von fünf Minuten. Dann fluchte er leise und sah auf. Die beiden Männer waren bereits durch eine der Türen auf der anderen Seite des Parks verschwunden. Dummerweise hatte er nicht darauf geachtet, durch welche. Trotzdem stand er von seiner Bank auf und begann, rastlos zwischen den nächsten Statuen auf und ab zu gehen. Ein fetter Portier und ein einfacher Fahrer wussten mehr über die neuen Wiedergänger als seine Behörde, als die Seuchenschutzbehörde, als O’Donohue und die Polizei. Sie wussten, dass es mehrere Wiedergänger waren, denen Mister Ferret und Eric auf der Spur waren. Wie es schien, hatten deutlich mehr Menschen Kontakt mit den Mistkerlen, als man erwarten sollte.
…
»Ich habe es ihm nicht glauben wollen. Kein Wort.« Jan Wojcik hielt es schon seit einigen Minuten nicht mehr auf dem Stuhl. Hektisch, wie eine gefangene Ratte in einem winzigen Käfig und am ganzen Körper zitternd, lief er in dem kleinen Patientenzimmer umher. Ein ums andere Mal hieb er mit der Faust gegen den rauen Putz. »Kein einziges Wort aus seinem verdammten, verlogenen Maul!«
Whiggs kauerte auf dem Bett und zuckte jedes Mal zusammen, wenn die geballte Faust gegen das Mauerwerk klatschte. Das Gespräch hatte bislang keine besonderen Erkenntnisse gebracht. Nur unverständliches Zeug war aus dem Mund des Mannes gekommen, keine Anhaltspunkte, keine stichhaltigen Beobachtungen. Gebrabbel eines traumatisierten Augenzeugen. Sie kannte diesen Zustand. In Lethe nannte man es »den Tunnelkoller«. Eine Heilung konnte nur durch eine ausreichende Menge an Ruhe und Zeit erreicht werden. Zumindest war es in der Stadt der Tunnler so. Vielleicht wusste man hier in der Krankenstation der Fabrik von einer schnelleren Methode, aber für Whiggs war das nur schwer vorstellbar.
Selbst der Agent machte mittlerweile ein unglückliches Gesicht. Bestimmt hatte auch er sich mehr von der Befragung erhofft. Deutlich mehr sogar. Stattdessen verfolgte er beinahe hilflos Wojciks unablässigen Weg zwischen den Wänden. Whiggs hatte den Eindruck, als wäre Eric kurz davor, die Sache abzubrechen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, stand auf und stellte sich dem Mann in den Weg. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seine Faust und sprach mit beschwörender Stimme auf ihn ein. »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. So bringt das nichts. Kommen Sie, nehmen wir Platz.« Langsam führte sie ihn zum Bett, drückte ihn mit sanfter Gewalt hinunter und setzte sich neben ihn. »Und nun atmen Sie tief durch. Ihnen tut doch niemand etwas. Weder Agent van Valen noch ich möchten Sie in irgendeiner Art und Weise unter Druck setzen. Trotzdem ist das, was Sie uns vielleicht mitteilen können, von größter Wichtigkeit. Dieses Monster, wie Sie es genannt haben, muss unbedingt gefasst und unschädlich gemacht werden. Damit nicht noch mehr Menschen zu Schaden kommen. Begreifen Sie?«
Tatsächlich ließ sich Wojcik von den einfühlsamen Worten besänftigen. Nach kurzer Zeit hörte er auf zu zittern und sein Blick klärte sich. Er atmete ein und wieder aus. Dann senkte er müde den Kopf und schloss die Augen. Leise kamen die Sätze über seine Lippen und seine Besucher hatten anfangs Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu verstehen.
»Hartlefield, dieser Spinner. Alles, was er von sich gibt, ist blödsinniges Gelaber. Hohles Geschwätz und hundertfach übertrieben. Er wollte einmal sogar gesehen haben, wie sich die Bosse vom Ministerium drei Wochen lang jeden Abend mit toten Quexern gepaart haben. Können Sie sich das vorstellen? Ich nicht.« Ein irres Kichern entrang sich seiner Kehle und Whiggs hatte sichtlich Mühe, ihn zum Sitzenbleiben zu bewegen. »Wahrscheinlich hat er den Patienten im Asylum die Tabletten geklaut und das Zeug selbst geschluckt. Keiner glaubt ihm seinen Schwachsinn. Keiner.«
»Asylum?«, unterbrach ihn Eric. »Meinen Sie etwa das Coleman-Asylum?«
»Welches denn sonst? Hartlefield ist doch dauernd dort gewesen. Hat ja beinahe schon da gewohnt, der verrückte Mistkerl. Ich weiß nicht, was er da wollte, aber«, Wojcik hielt inne und sah Eric ernst an, »er ist mein bester Freund, wissen Sie? Feiner Bursche. Erzählt eine Menge Unsinn, wenn er betrunken ist. Er ist ja ständig betrunken gewesen in letzter Zeit.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte Whiggs und lenkte den Mann erneut von Eric ab, obwohl es diesem nicht zu gefallen schien. »Was ist das für ein Unsinn, den Sie ihm nicht glauben wollen? Bitte, Mister Wojcik, es ist unglaublich wichtig, dass Sie es uns sagen!«
»Na, von diesen Kreaturen mit den schwarzen, glänzenden Augen. Die Kerle stammen direkt aus der Hölle, wenn Sie mich fragen. Und sie sind gefährlich. Sehr gefährlich. Nie wieder will ich einen von Ihnen auch nur von hinten sehen.« Ruckartig stand Wojcik vom Bett auf und wies auf die Tür. »Sie müssen jetzt gehen. Ich habe schon viel zu viel gesagt. Von mir werden Sie kein Wort mehr hören. Gehen Sie!«
Eric und Whiggs wollten eben das Krankenzimmer verlassen, als Wojcik den Agenten hastig am Ärmel fasste und zurückhielt. »Wie geht es Hartlefield?« Tiefe Besorgnis lag in seiner Stimme. »Ist er … er wird doch gesund, oder? Sagen Sie mir, dass es ihm gut geht!«
Eric schaute hilflos zu Whiggs, die nach kurzem Zögern an seiner Stelle antwortete. »Es geht ihm gut«, sagte sie schlicht. »Es geht ihm gut.«
Doktor Brown wartete bereits vor der Tür, so dass sie ihn nicht erst über das Sprechrohr herbeirufen mussten. Unwillkürlich beschlich Whiggs das Gefühl, dass die Anlage möglicherweise zusätzlich als Abhöreinrichtung für die Patientenzimmer fungierte – und dass sie genau damit soeben belauscht worden waren.
»Ich hoffe, Sie sind mit dem Ergebnis Ihres Gespräches zufrieden«, sagte Doktor Brown. »Mister Wojcik ist in der Regel recht kooperativ. Wenn er denn nicht gerade einen seiner Aussetzer hat. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Andernfalls würde ich mich dann wieder meinen Aufgaben widmen. Unsere Patienten brauchen schließlich ab und an auch mal ihre Medikamente.«
»Nein, vielen Dank«, antwortete Eric mit der nötigen Höflichkeit. »Ich denke, wir haben alles, was wir benötigen. Machen Sie sich bitte keine Umstände. Wir finden alleine raus. Kommen Sie, Miss Taversham, wir sind hier fertig. Wir sollten zu Mister Ferret zurückkehren und unser weiteres Vorgehen besprechen.«
»Natürlich, Mister van Valen.« Whiggs nickte ihm bestätigend zu. Ihr brannten so einige Bemerkungen auf der Zunge, die jedoch an einem anderen Ort und zu einer besseren Zeit angebrachter waren als an dieser Stelle. »Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung, Doktor Brown. Das Gespräch mit Mister Wojcik war sehr aufschlussreich. In mehr als nur in einer Hinsicht.«
Doktor Brown lächelte selbstgefällig, während er den beiden hinterherschaute, wie sie den Flur in Richtung Ausgang hinuntergingen. »Das hoffe ich, Miss Taversham«, murmelte er. »Das hoffe ich.« Dann drehte er sich um und verschwand in einem naheliegenden Büro. Er musste dringend seinen Vorgesetzten kontaktieren, bevor er sich wieder an die Arbeit machte.
…
»Mister Hartlefield?«, fragte der Archivar erneut.
»Ja, Sir.« Eric hielt dem alten Mann die Notiz des Vorstands entgegen. »Seine Akte soll uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt werden.«
Der Archivar rückte seine Lesebrille zurecht und warf einen kritischen Blick auf das Dokument. Dann runzelte er die Stirn. »Mister Hartlefield ist tot.«
»Ich weiß. Das ist ja der Grund, warum wir seine Akte haben möchten. Es geht um eine diesbezügliche Untersuchung.«
»Er ist tot«, wiederholte der Archivar noch einmal eindringlicher. Er sah den Agenten dabei über den Rand seiner Brille an, als wäre der irgendwie zurückgeblieben.
»Ist das ein Problem, Sir?« Whiggs klang inzwischen reichlich gereizt. »Ist die Akte denn nicht mehr verfügbar?«
Der Archivar musterte sie in einer Art und Weise, die darauf schließen ließ, dass seine beruflichen Kontakte mit dem anderen Geschlecht eher selten waren. Und er das keinesfalls bedauerte. »Das ist nicht mein Bereich«, erklärte er und wandte sich erneut der Arbeit auf seinem Schreibtisch zu.
Eric öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn aber gleich wieder. So ging das in diesem Gebäude nun schon seit einer kleinen Ewigkeit. Die Bürokratie schien hier sogar noch schlimmer zu sein als im Ministerium – und langsam verlor er wirklich die Geduld. Hilflos schaute er zu Mister Ferret, der das Schauspiel mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte. Der dünne Mann beugte sich über die Tischplatte und griff nach einem der ordentlich der Größe nach sortierten Stempel. Sorgfältig presste er ihn auf das Stempelkissen und danach auf die Akte, die der Archivar gerade bearbeitete.
– Abgelehnt –
»Sir!«, rief der Archivar erschrocken aus. »Was machen Sie da?«
Ohne sich um das Geschrei des Mannes zu kümmern, blätterte Mister Ferret die Akte um und setzte einen weiteren Stempeldruck.
»Hören Sie auf!«, befahl der alte Mann und langte nach dem Ärmel des Wiedergängers. Doch der ließ sich nicht beirren und machte seelenruhig weiter. Seite für Seite.
»So sagen Sie ihm endlich, dass er aufhören soll!«, flehte der Archivar Eric an. »Das gehört sich doch nicht. Das ist gegen die Vorschriften.«
Eric lächelte. »Nicht mein Bereich«, erwiderte er ungerührt.
Der Archivar warf schicksalsergeben die Arme in die Höhe. »Also gut! Ich verrate Ihnen ja schon, wo Sie die Akte finden. Aber ich füge eines hinzu: Die Sache wird Konsequenzen haben. Darauf können Sie sich verlassen.« Murrend und schimpfend griff er nach seinem Sprechrohr und rief einen Gehilfen, der sie in die Aufbewahrungsstelle bringen sollte.
Auf dem Weg nach draußen nickte Eric dem Wiedergänger anerkennend zu. »Gute Arbeit, Mister Ferret. An Ihnen ist ein waschechter Beamter verloren gegangen.«
Whiggs grinste Eric an. »Beeindruckend, wie wirkungsvoll es ist, wenn man der Bürokratie ihren eigenen Stempel aufdrückt.«
Mister Ferret neigte dankend den Kopf und schwieg.
Die Aktenaufbewahrungsstelle war in einem gewaltigen Gebäudetrakt untergebracht, dessen Räume sich zum Großteil unter der Erde befanden. Die uralten Gewölbekeller wirkten wie Grabkammern, in denen die Schicksale unzähliger Menschen, fein säuberlich nach dem Alphabet sortiert und von einer dicken Staubschicht bedeckt, für die Ewigkeit aufgebahrt lagen. Der düstere Raum, in den sie der Gehilfe führte, hatte die Größe einer Abstellkammer. Bis auf einen Tisch, zwei Stühlen und eine schwache Plasmalampe war er vollständig leer.
»Helligkeit zerstört das Material«, erklärte der Gehilfe ungefragt. Er deutete auf die Sitzmöglichkeit und wandte sich zur Tür. »Bitte warten Sie hier. Ich lasse Ihnen sämtliche Unterlagen von Mister Hartlefield zusammenstellen. Das kann eine Weile dauern, aber Sie haben Glück. Sie sind nicht die Ersten, die nach seinen Akten fragen. Vor circa drei Wochen wollte sie schon mal jemand einsehen, so dass wir den Großteil wahrscheinlich noch nicht wieder einsortiert haben.«
Eric warf Mister Ferret einen alarmierten Blick zu, der Whiggs nicht entging. »Was ist? Gibt es ein Problem?«
»Ich weiß es nicht, Miss«, antwortete der Agent nachdenklich. »Es kommt mir äußerst seltsam vor.«
»Ich muss Mister van Valen zustimmen«, sagte Mister Ferret. »Vor drei Wochen war Mister Hartlefield noch am Leben.«
»Sie meinen, er starb wegen etwas in seiner Akte?«
Eric zuckte mit den Schultern. »Das bleibt abzuwarten. Ich bin gespannt, was wir darin finden werden.« Dass dies aus mehr als nur einem Grund zutraf, sagte er jedoch nicht laut. Hartlefield. Ein Schatten aus seiner Vergangenheit, der ihn zu seinem Vater geführt hatte. In all den Jahren, die seit ihrem letzten Aufeinandertreffen verstrichen waren, bis hin zu dem Zeitpunkt, als Hartlefields verstümmelter Leichnam vor seinen Füßen gelegen hatte, war dieser Mann stets in der Nähe seines Vaters gewesen. Hatte noch immer für ihn gearbeitet. Was war …
Die Rückkehr des Archivargehilfen unterbrach seinen Gedankengang. »Die Akte Hartlefield, bitte sehr.« Der Gehilfe stellte einen kleinformatigen, braunen Pappkarton auf den Tisch, dessen einzige Beschriftung aus den Initialen des Toten und einer beachtlichen Folge von Zahlen bestand.
Einen Augenblick lang betrachtete Eric nachdenklich den Karton. Dass in so einer winzigen Schachtel das Leben eines Menschen Platz fand … Er schüttelte verständnislos den Kopf und griff nach dem Deckel.
»Moment, Sir. Halt!« Eilig legte der Gehilfe die Hand auf den Karton. »Sie müssen entschuldigen, aber nur das Personal des Archivs darf die Akten entnehmen. Ich werde das für Sie erledigen. Wenn Sie gestatten?«
»Ich gestatte nicht«, sagte Eric entschieden. Ein plötzlicher Widerwille stieg in ihm auf, eine Abneigung dagegen, dass das Leben dieses Toten von nun an einzig in den bleichen Fingern von Archivaren liegen sollte. »Mister Ferret wird Sie hinausbegleiten, Mister … Bastings.« Er hatte einen Blick auf das Messingschild am Revers des Gehilfen geworfen und den Namen gelesen. »Unsere Zeit ist knapp bemessen. Und wir benötigen die Akten zweier weiterer Angestellter der Steamtown Power Transmission Ltd.«
»Aber …«
»Mister Esposito, ein Hilfswachmann, sowie Doktor Dunston, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter Ihrer Firma. Und nun gehen Sie. Mister Ferret wird Ihnen beim Tragen behilflich sein.«
Falls der verwirrte Gehilfe noch etwas hätte einwenden wollen, so wurde das wirkungsvoll von der Tatsache unterbunden, dass ihn der Plasmierte wortlos zur Tür hinausschob.
»Eine gute Idee, Mister van Valen«, sagte Whiggs. »Vielleicht stoßen wir auf diese Weise auf weitere Gemeinsamkeiten.«
Eric zuckte mit den Schultern und gestattete sich ein schmales Lächeln. »Möglicherweise auch das. Aber eigentlich wollte ich den Kerl nur aus dem Weg haben.« Er setzte sich auf einen der beiden Stühle und zog den Karton näher zu sich heran. »Kommen Sie. Lassen Sie uns nachsehen, was wir hier finden.«
…
In Whiggs stritt die Verwirrung mit der Vernunft.
Das änderte sich erst recht nicht, als sie mit den beiden Agenten in einen der modernsten Plasmawagen der Steamtown Power Transmission Ltd. eingestiegen war. Mister Maloy hatte ihnen das Gefährt samt Fahrer zur Verfügung gestellt. Genau genommen brachte sie das nur noch mehr durcheinander. Wo sich bei den Droschken das Pferd oder bei den neueren Modellen der überdimensionierte Plasmaboiler befand, senkte sich der vordere Teil des Wagens zu einer schnittigen Haube ab. Allein die grünlichen Lichter aus den Sichtschlitzen der Rohrleitungen, die das Fahrzeug bis zum hinteren Ende durchzogen, deuteten auf die Energiequelle hin, mit der der Wagen angetrieben wurde. Ohne das leise Summen der Plasmaaggregate hätte man meinen können, die Droschke bewege sich von Geisterhand. Zusätzlich roch das Innere des Gefährts nur wenig nach dem typischen, süßlichen Plasma, sondern eher nach Leder und Holzpolitur.
Mehr denn je fühlte Whiggs, dass sie nicht aus dieser Welt stammte. Sie kam sich wie eine Wilde aus den Kolonien vor, der man die verwirrenden Errungenschaften der modernen Zeiten behutsam nahe brachte. Dazu die vielen, unzusammenhängend erscheinenden Informationen, von denen sie irgendwie nur die Hälfte verstanden hatte. Sie hasste dieses Gefühl.
Mister Ferret hatte vorn neben dem Fahrer Platz genommen. Er beobachtete die Straße mit einer Intensität, die dem Chauffeur schon beinahe wie lautausgesprochene Kritik an seiner Fahrweise vorkommen musste. Fast so, als wolle er dem Mann auf diesem Weg mitteilen, ja keine Unachtsamkeit an den Tag zu legen, während sie sich langsam durch den abendlichen Verkehr bewegten. Die Emanatin und Eric, die dicht nebeneinander die rückwärtige Sitzgelegenheit in Beschlag genommen hatten, schien er in seiner Konzentration vollkommen vergessen zu haben.
»Sir, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, an der Ecke Witthaker und Avory Hall für einen Moment anzuhalten«, wies Eric den Fahrer an. »Ich möchte noch rasch eine Depesche verschicken.«
Der Chauffeur nickte unruhig. Er warf einen schnellen Seitenblick auf Mister Ferret und bog dann folgsam an der nächsten Kreuzung ab.
Eric wandte sich der Emanatin zu. »Sie wirken etwas verloren auf mich, sofern ich das bemerken darf, Miss Taversham. Sollte ich Ihnen irgendwie helfen können, bitte sagen Sie es mir.«
»Verloren? Seit ich meinem Onkel an die Oberfläche gefolgt bin, musste ich aus einem brennenden Haus fliehen, wurde von einem Lynchmob verfolgt, den Wiedergänger in Ihrer Wohnung völlig außen vor gelassen, und durchwühle die Akten wildfremder Menschen, die einen grauenvollen Tod gestorben sind, nach irgendwelchen Hinweisen, die ich nicht einmal annähernd verstehe. Zu guter Letzt fahren Sie mit mir in die Irrenanstalt einer Stadt, die aus meiner Sicht die Bezeichnung ›Heimat‹ in keiner Weise verdient. Würden Sie sich an meiner Stelle etwa anders fühlen?«
»Wahrscheinlich nicht, Miss Taversham. Ihr Onkel …«
»Das hat mit meinem Onkel überhaupt nichts zu tun! Ihr Plan, zu dem Sie mir bisher jedwede erklärende Einzelheit vorenthalten haben, ist das Problem. Sie sind das Problem. Da unten in Lethe sterben meine Leute. Ich müsste jetzt bei ihnen sein und ihnen Hilfe bringen. Jede Sekunde, die ich hier verschwende, könnte den Untergang meiner Heimat bedeuten und Sie fahren mit mir spazieren. Und nennen Sie mich nicht immer Miss Taversham. Meine Name lautet Whiggs.«
»Eins zu null für Miss Taversham, Sir.« Mister Ferret deutete den Hauch eines Lächelns an. Eric dagegen fühlte sich mit einem Mal merklich unwohler in seiner Haut.
»Miss … Whiggs, ich verstehe ja, dass Sie aufgebracht sind. Sehr gut sogar. Aber Sie müssen auch begreifen, dass alles miteinander zusammenhängt. Die Morde, die Quexerüberfälle auf Lethe. Sie haben doch die Akten gesehen.«
»Was, Mister van Valen? Was bedeutet das alles? Sagen Sie es mir. Auf der Stelle, oder ich lasse den Wagen halten und steige hier und jetzt aus. Ihren Plan können Sie dann vergessen.«
»Sofern Sie überhaupt einen Plan haben, Sir«, sagte Mister Ferret leise. »Ich würde ebenfalls gern wissen, was unser nächster Schritt sein soll. Sie dürften kaum hoffen, dass man uns nur aufgrund einer höflichen Bitte nochmals Zutritt zum Asylum gewähren wird, Sir.«
»In Ordnung.« Eric seufzte. »Ich versuche, es Ihnen zu erklären. Jedenfalls soweit ich es selbst bereits verstehe. Hartlefield war das erste Opfer. Zumindest hat diese Untersuchung mit ihm angefangen. Laut seiner Akte arbeitete er bei der Steamtown Power Transmission Ltd. als Ingenieur und war in der Zeit vor seinem Ableben als eine Art Inspektor tätig. Jemand, der Unregelmäßigkeiten beim … sagen wir mal … Bezug von hochenergetischem Plasma untersuchte. Offensichtlich hat er etwas beim Coleman-Asylum aufgedeckt. Was das war, ging leider nicht aus seiner Akte hervor. Es scheint, als habe man noch auf seinen abschließenden Bericht gewartet. Es muss etwas gewesen sein, das es notwendig machte, ihn auszuschalten.«
»Endgültig auszuschalten«, ergänzte Mister Ferret von vorn. »Es war kein schöner Anblick, was der Täter von Hartlefield übrig gelassen hat, Miss Taversham.«
»Das kann man wohl ohne Untertreibung unterschreiben.« Eric ballte die Hand zur Faust und streckte dann Zeige- und Mittelfinger aus. »Nummer Zwei – genau genommen sogar Nummer Eins, da er vor Hartlefield starb – war Doktor Dunston. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Steamtown Power Transmission. Sein Spezialgebiet, seine Passion, war hochenergetisches Plasma. Er hat in der Vergangenheit mehrere Arbeiten über eine äußerst kraftvolle und seltene Plasmaform veröffentlicht, deren Existenz bis heute nur recht wenigen Menschen bekannt ist: Hes …«
»Hesiodplasma.« Whiggs nickte. »Das Zeug, das sich in der Rohrleitung bei Fools Court befand.«
»Exakt. Bleibt noch Nummer Drei.« Eric streckte einen weiteren Finger aus. »Mister Esposito, der angebliche Mörder von Doktor Dunstons Haushälterin, die bekanntlich im Coleman-Asylum getötet wurde. Er war als Hilfswachmann bei der Steamtown Power Transmission Ltd. angestellt. Davor allerdings arbeitete er als Pfleger im Coleman-Asylum. Damit haben wir dreimal das Asylum und dreimal Plasma, wenn man bedenkt, dass Mister Espositos Leichnam für den tatsächlichen, von uns verfolgten, Mörder herhalten musste. Und aus diesem Grund fahren wir genau dorthin, wo alle Fäden zusammenlaufen. Zum Coleman-Asylum.«
Einen Moment herrschte Schweigen innerhalb der Droschke. »Eine unbestreitbare Logik«, sagte Mister Ferret schließlich. Seine Hand verkrampfte sich um den Griff der Fahrzeugtür, als sie rasant einen langsameren Dampfwagen überholten. Das Holz knirschte unter seinen Fingern. »Aber ich verstehe noch nicht, was uns diese Erkenntnis bringen soll, Sir. Ich glaube kaum, dass man uns im Asylum den Täter ausliefern wird, sobald wir dort auftauchen und sie mit unseren Ermittlungsergebnissen konfrontieren, Sir.«
Whiggs sah den Agenten an. »Ich muss Ihrem Begleiter zustimmen, Mister van Valen. Sie haben nichts Substanzielles in der Hand.«
Eric gestattete sich ein schmales Lächeln. »Dazu kommen wir gleich.« Er zog einen Tintenschreiber aus der Innentasche seiner Jacke und entnahm einem Fach der Droschke einen Bogen Papier. Schwungvoll kritzelte er einige Zeilen darauf, setzte seine Unterschrift darunter. Dann faltete er ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn in einen Umschlag. »Halten Sie bitte dort vorn an«, wies er den Fahrer an. »Ich bin sofort wieder da.« Ohne ein weiteres Wort stieg er aus und verschwand in einem kleinen Botenbüro. Kaum eine Minute später trat er zurück auf die Straße. Schon wollte er sich erneut in den Wagen setzen, als er plötzlich innehielt. Er wandte sich an einen barfüßigen Zeitungsburschen, der in der Nähe eine Litanei neuester Schlagzeilen herunterrasselte. Ein paar Münzen wechselten ihren Besitzer, und als Eric sich auf die Rückbank des Fahrzeugs fallen ließ, trug er eine druckfrische Ausgabe des Steamtown Daily in der Hand sowie ein leises Lächeln im Gesicht.
»Sir?«, fragte der Chauffeur über die Schulter.
»Eine Planänderung«, verkündete der Agent. »Sie sollen uns fahren, wohin wir wünschen. Habe ich das richtig gehört?«
»Jawohl, Sir. Aber …«
»Bringen Sie uns bitte in die Vauxham-Avenue am Maltwasherpark. Wir benötigen zuallererst eine Stärkung. Und dann hätte Miss Taversham gern eine neue Garderobe.«
Whiggs verdrehte die Augen und setzte zu einer Entgegnung an, doch Eric unterbrach sie mit einer Handbewegung und entfaltete die Zeitung. »Und danach erkläre ich Ihnen unseren Plan.«
…
»Es ist umwerfend!« Die Schneidergehilfin schlug verzückt die Hände zusammen. Erschrocken über ihren Ausbruch kindlicher Freude warf sie im nächsten Moment einen ängstlichen Blick auf ihre Herrin. Obwohl von dort keine Rüge erfolgte, machte sie sich schnell wieder an die Arbeit am Saum des Kleids, das die junge Kundin vor ihr trug.
Dame Roshnatow sah großzügig über die Ungehörigkeit hinweg. Sie selbst war nicht weniger zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen, aus einem, wie sie es nannte, hässlichen Entlein einen Schwan zu erschaffen. »Sie sehen in der Tat bezaubernd aus, Miss Taversham«, bemerkte sie mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Wie eine echte Dame auszusehen hat.«
Die so Angesprochene verzog das Gesicht zu einer Grimasse und murmelte eine ziemlich undamenhafte Erwiderung. Vorsichtig breitete sie die Arme aus und drehte sich im Kreis. »Das ist vollkommen unpraktisch. Ich kann mich kaum bewegen und in diesem Korsett bekomme ich keine Luft. Ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht.«
»Dann ist es richtig geschnürt, meine Liebe«, sagte Dame Roshnatow ungerührt. »Vertrauen Sie mir, Miss Taversham, Sie werden sich schnell daran gewöhnen. Ohnehin müssen Sie sich in einem solchen Kleid nicht viel bewegen – Sie werden gefahren. Zum Beispiel von wohlhabenden jungen Gentlemen, die sich von Ihrem Anblick gar nicht mehr losreißen können. Nicht wahr Mister van Valen?« Abrupt wandte sie sich zu dem Vorhang um, der den Präsentationsraum vom Rest ihres Salons trennte. »Es gehört sich nicht, eine Dame beim Einkleiden zu beobachten. Hat man ihnen denn keine Manieren beigebracht?«
Natürlich war es kein Zufall, dass die Stoffbahnen einen winzigen Spaltbreit offenstanden, der jeden Besucher geradezu zwang, einen Blick hindurchzuwerfen. Dame Roshnatow verstand sich nicht nur darauf, ihren Kundinnen zu schmeicheln. Auch deren männliche Begleiter wurden geschickt manipuliert, um ihnen für die Fertigung der Kleider später umso mehr Geld aus den Taschen ziehen zu können. Und dieser Herr hier schien, trotz seines grauenhaft provinziellen Kleidungsstils und des merkwürdigen Sozius, über eine Menge finanzieller Mittel zu verfügen. Das jedenfalls schloss sie aus dem Anblick des teuren Plasmawagens, der draußen am Straßenrand auf ihn wartete. Wahrscheinlich handelte es sich um einen erst kürzlich aus dem Krieg heimgekehrten Offizier. Es hieß, dass die barbarischen Kämpfe auf dem Kontinent die Sitten verrohen ließen und den Charakter eines Mannes veränderten. Offensichtlich traf das auch auf seinen Geschmack für Mode zu.
Eric wandte den Blick ab und schaute mit hochrotem Kopf zu Boden. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wusste nicht, dass Sie … ich wollte nur schauen, wie weit …«
»Aus meinen Augen!« Mit einer scharfen Handbewegung schnitt Dame Roshnatow ihm das Wort ab, milderte die harsche Entgegnung aber sogleich durch ein leichtes Lächeln wieder ab. »Es dauert so lang, wie es dauern muss. Doch ich verspreche ihnen, das Warten wird sich auf jeden Fall lohnen.«
…
»Und Sie sind sich sicher, dass die Steamtown Power Transmission Ltd. diese Ausgabe auf der Spesenabrechnung akzeptieren wird, Sir? Nicht, dass ich mir Aussagen zu dem Stand Ihres Bankkontos erlauben möchte. Das Kleid ist sündhaft teuer. So sagt man doch.« Mister Ferret versuchte Eric in seiner trockenen Art von dem vorangegangenen Fauxpas abzulenken und seine Gedanken zurück zu den wichtigen Dingen zu führen. »Was genau haben Sie eigentlich im Asylum vor, Sir?«
»Ähem … ja, das Asylum.« Eric kratzte sich verlegen am Kopf. »Nun, wir werden die Antwort auf meine Depesche abwarten müssen. Erst wenn mir die fehlenden Informationen vorliegen, werde ich etwas Endgültiges zum weiteren Vorgehen äußern können. Zu diesem Zeitpunkt würde ich mich nur in unnötigen Spekulationen ergehen, was keine wirkliche Hilfe wäre. Ich bitte Sie daher noch um Geduld, Mister Ferret. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Zudem ist es nur möglich zu starten, wenn Miss Taversham bereit ist.«
Tatsächlich machte es Mister Ferret nichts aus zu warten. Zeit hatte für einen Wiedergänger äußerst wenig Bedeutung. Eine betriebsame Stunde später war es vollbracht. Whiggs trat hinter dem Vorhang hervor und ihr Anblick verschlug Eric förmlich den Atem. Die junge Emanatin sah vollkommen verändert aus, wirkte wie aus einem alten Märchen entsprungen. Scheinbar nichts war von der vermeintlich burschikosen und rabiaten Frau aus Lethe übriggeblieben. Statt der Gestalt in abgenutzter Kleidung und dem dünnen Schmutzfilm auf der Haut, der ihr nach dem Spaziergang in der Kanalisation angehaftet hatte, präsentierte sich eine grazile und anmutige Erscheinung, die in jedem Ballsaal der adeligen Oberschicht alle Blicke auf sich gezogen hätte. Dame Roshnatow hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Natürlich war es nicht so, dass Eric so etwas hätte beurteilen können. Dazu war sein Modesinn eindeutig zu praktisch veranlagt. Aber er erkannte ein wahres Meisterwerk, wenn es vor ihm stand.
»Ist das wirklich notwendig? Ich kann mich kaum bewegen.« Unglücklich kreiste Whiggs mit den Schultern. Die ungewohnte Kleidung, die unpraktische Verschnürung des Korsetts, die Atemnot und der steife, fliederfarbene Rock, all das engte sie ungemein ein. Sie nestelte unsicher an dem fließenden Stoff oberhalb ihrer Hüfte herum. Dann fiel ihr Blick in den mannshohen Spiegel, der ihr gegenüber an der Wand angebracht war. Als sie ihre Erscheinung betrachtete, konnte sie nur ungläubig den Kopf schütteln. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, einmal so auszusehen. Keine Frage: Sie liebte dieses Kostüm. Von der ersten Sekunde an. Trotzdem wusste sie, dass sie so nicht herumlaufen würde. Es war viel zu teuer. Und letztendlich gehörte es ihr auch nicht, denn es bezahlte jemand anders dafür. Nein, sie würde es wieder ausziehen. Auf der Stelle!
»Was tun Sie denn da, Miss Taversham?« Als Whiggs anfing, sich aus dem Kleid zu schälen, eilte Dame Roshnatow herbei und hielt ihre Hände fest. »Meine Güte, was geht nur in Ihrem Kopf vor, Kleines?«
Auch Eric sprang auf und lief auf Whiggs zu. Für einen Moment hatte es beinahe den Anschein, als wolle er vor ihr auf die Knie sinken. »Bitte. Tun Sie das nicht, Miss Taversham … Whiggs. Es steht Ihnen ausgezeichnet. Sie sollten es ruhig annehmen. Wenn nicht wegen unseres Vorhabens, dann wenigstens meinetwegen.« Er verstummte. Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Whiggs hielt tatsächlich inne und ließ Dame Roshnatows flinke Instandsetzungen ohne Gegenwehr über sich ergehen.
»Sie sollten auf Ihren Begleiter hören, Miss Taversham«, bestand Dame Roshnatow. »Also wirklich. Sie wollen Ihre Gastgeber nicht mit den alten Lumpen beleidigen, mit denen Sie hergekommen sind. Nicht wahr? Wo, sagten Sie noch gleich, soll es hingehen?«
Eric antwortete anstelle von Whiggs, jedoch nicht ohne zuvor das Kratzen in seinem Hals durch ein Räuspern zu vertreiben. »Wir machen einen Krankenbesuch. Einen ganz besonderen Krankenbesuch.«