Kapitel VII
Heer der Toten
»Ein Krankenbesuch?« Dame Roshnatow zeigte sich professionell besorgt. »Ich hoffe doch, nichts Ernstes!«
»Es war ein Unfall«, murmelte Mister Ferret. Auf seinem Schoß lag zusammengefaltet die Zeitung, die Eric zuvor erworben hatte. Seine spinnengliedrige Hand ruhte auf dem Artikel mit der Nachricht, dass die Verlobte des Glasimperiumserben Ayrton einem heimtückischen Giftanschlag zum Opfer gefallen und infolgedessen nun Patientin im berühmten Coleman-Asylum sei.
»Ein Unfall!«, echote die Dame und sie und ihre Schneiderinnen schlugen sich pflichtschuldig die Hände vor die Münder. »Wie schrecklich!«
»Ein bedauerliches Versehen, mit dem nicht zu rechnen war«, sagte Mister Ferret leise.
Eric winkte ab. »Sie müssen sich nicht unnötig sorgen, meine Damen. Es ist alles halb so schlimm. Wie ich hörte, befindet sich die arme Miss Halvston bereits auf dem Weg der Besserung und es ist gut möglich, dass der Vorfall keinerlei bleibende Schäden hinterlassen wird. Dennoch ist Miss Tavershams Besuch bei ihrer Cousine längst überfällig.«
»Meiner Cou …?«
»Das ist auch der Grund, weshalb Miss Taversham gelegentlich ein wenig verwirrt reagiert«, fügte Eric hinzu, als er die Betreiberin des Salons mit vertraulicher Miene zur Seite nahm. »Das Ganze hat sie doch arg mitgenommen, müssen Sie verstehen. Wie dem auch sei – uns läuft, fürchte ich, die Zeit davon. So sehr ich Ihre Gesellschaft und Aufmerksamkeit schätze, wir müssen uns jetzt verabschieden.«
Die Dame nickte mitfühlend. Kurz darauf kehrte ihr professionelles Lächeln zurück. »Nun gut, dann bliebe lediglich noch eine Kleinigkeit zu tun.« Sie trat zu einer Ihrer Mitarbeiterinnen, die hinter einem wuchtigen Schreibpult aus Mahagoni eifrig mehrere Bögen mit winziger, gestochen scharfer Schrift und großen Zahlen ausfüllte.
Eric warf einen Blick auf den Bogen und nickte. »Das erscheint mir angemessen.« Ungerührt nahm er den Tintenschreiber entgegen und setzte schwungvoll seine Signatur unter die unverschämt lange Zahl am Ende der Auflistung. Er zog eine Karte aus dem Inneren des Jacketts und reichte sie der Couturistin. »Alle anfallenden Kosten gehen auf diesen Namen. Wenn Sie so freundlich sein würden, die Rechnung bitte an die angegebene Adresse senden zu lassen?«
Dame Roshnatow musterte die Karte, wendete Sie und las auch die Rückseite. Dann sah sie auf und ihr Blick flackerte für einen Moment.
Eric schenkte ihr sein liebenswürdigstes Lächeln und reichte ihr eine weitere, kleinere Karte. »Falls Fragen aufkommen sollten, so finden Sie hier meine Dienstnummer und Dienststelle, wo man Ihnen meine Identität sicherlich gern bestätigen wird. Sie dürfen versichert sein, dass mein Name für den Empfänger der Rechnung genügt, um umgehend die Begleichung der Ausstände zu erwirken.«
Dame Roshnatow warf einen Blick aus dem Fenster, wo der Wagen der Plasmawerke noch immer geduldig auf seine Passagiere wartete. Schließlich kehrte ihr Lächeln zurück. Sie legte die beiden Karten auf das Schreibpult und streckte Eric graziös die Hand entgegen. »Es war mir eine Freude, sie als Kunden gewinnen zu dürfen, Mister van Valen.«
Eric dachte an die Zahl über seiner Unterschrift und nickte amüsiert. »Das bezweifle ich nicht, Verehrteste. Wir werden Sie selbstverständlich weiterempfehlen. Dennoch müssen wir sie jetzt verlassen, die Pflicht ruft.« Galant neigte er sich über die dargebotene Hand und deutete einen Kuss an. Dann wandte er sich um und wies mit weit ausholender Geste auf die Tür. »Miss Taversham, Mister Ferret, wenn Sie so freundlich wären …?«
Whiggs seufzte, nachdem sie in den Gesichtern der Schneiderinnen keine Antwort auf eben stattgefundene Szene fand, und rauschte, ohne Eric eines weiteren Blickes zu würdigen, an ihm vorbei nach draußen. Mister Ferret seufzte ebenfalls und folgte ihr, die Zeitung fest im Griff seiner fahlen Hand.
»Und was soll das nun alles bedeuten?«, fragte Whiggs gereizt. Zum wiederholten Mal versuchte sie sich einigermaßen bequem zurückzulehnen, was jedoch durch das steife, fischbeinerne Korsett wirkungsvoll verhindert wurde. Ihre Laune verbesserte sich dadurch nicht im Geringsten. Dass der Agent seinen Plan noch immer nicht mit ihnen geteilt hatte, war diesem Zustand genauso wenig zuträglich. Missmutig zupfte sie am Ärmel ihres neuen Kleids. Zugegeben, sie hatte sich verliebt. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich allerdings eingestehen, dass das Objekt ihrer neu entflammten Liebe vielleicht nicht ganz ihrem Gefühl für Schicklichkeit entsprach. Selbstverständlich würde sie das jetzt um keinen Preis laut zugeben – und doch: Diese Ärmel ließen entschieden viel zu viel Haut frei.
Sie ächzte lautlos. »Wären Sie nun so freundlich, uns in Ihre Pläne einzuweihen, Mister van Valen? Oder diente dieser Ausflug lediglich dem Versuch, mich mit Freigiebigkeit und vorgetäuschtem Modeverstand zu beeindrucken? Warum sollte ich Ihrer bescheidenen Meinung nach überhaupt bei Ihrem geheimnisvollen Plan mitmachen? Welche Art von Scharade haben Sie sich in den Kopf gesetzt, die es notwendig machte, mich derart auszustaffieren? Und vor allem – was hat es mit dem Krankenbesuch auf sich? Mit ist keine Cousine in der Stadt bekannt. Sofern nicht mein Onkel eine Tochter gehabt hat, die mir bis jetzt von jedermann verschwiegen worden ist.«
»Ich weiß es nicht, möchte diese Möglichkeit aber nicht ausschließen«, gab Eric ehrlich zu. »Eine Tochter des Paters spielt für unseren Plan jedoch keine Rolle. Mister Ferret?« Er streckte die Hand nach vorn und nahm die Zeitung entgegen, um sie auf dem Schoß der jungen Frau zu deponieren. »Zweite Kolumne, rechts unten. Lesen Sie. Sie …« Eric unterbrach sich und sah Whiggs plötzlich unsicher an. »Sie können doch …?«
»Ich kann lesen, ja.« Mit gerunzelter Stirn überflog Whiggs die drei Dutzend Zeilen, die die Steamtown Daily der neuesten Tragödie aus den Reihen der Begünstigten und Wohlhabenden gewidmet hatte. »Julietta Halvston? Muss ich diese Dame kennen?«
Eric zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, dass man sie kennen sollte, wenn man zu den oberen Zehntausend unserer schönen Stadt gehört. Ich selbst weiß auch nur das, was ich in dem Artikel über sie gelesen habe – und natürlich, dass sie die Verlobte eines gewissen Edward Ayrton ist. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass sie sich zurzeit zur Behandlung im Coleman-Asylum befindet.«
»Und? Tut mir leid, Mister van Valen, aber ich verstehe noch immer nicht …«
»Ganz einfach. Sie, meine Liebe, werden Ihre geliebte Cousine Julietta besuchen, um sich von Ihrer fortschreitenden Genesung zu überzeugen. Und keine Sorge – so umwerfend, wie Sie jetzt aussehen, wird niemand auf die Idee kommen, Ihnen irgendwelche Fragen zu stellen. Solange Sie nur selbstbewusst genug auftreten.« Eric griff mit automatischer Beiläufigkeit nach Whiggs’ Hand, die ein weiteres Mal nervös am Ärmel ihres Kleides zupfen wollte. Die Haut der jungen Frau fühlte sich überraschend weich und warm an. Viel weicher, als er es erwartet hatte. Er spürte, wie sich ein leichtes Brennen auf seinen Wangen bemerkbar machte, und räusperte sich. Aus irgendeinem Grund hatte er gerade den Faden verloren.
»Meine Cousine Julietta? Julietta Halvston? Sie müssen mich entschuldigen, Mister van Valen, aber mir erschließt sich immer noch nicht der Sinn und Zweck dieses Vorhabens. Womöglich liegt es daran, dass ich den Umgang in Ihren Kreisen nicht gewohnt bin, aber was sollten wir von einem derartigen Besuch haben?« Whiggs’ Stimme klang eine Spur schnippischer, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. »Erklären Sie es mir einfach so, als wäre ich nur ein kleines, dummes Mädchen mit umwerfendem Aussehen, wie Sie es formulierten.«
Das Brennen auf Erics Wangen verstärkte sich. »Ich hatte nicht vor, Ihnen zu nahe zu treten, Miss … Whiggs. Es ist nur so … Mister Ferret und ich sind in der Anstalt vermutlich nicht mehr erwünscht. Zumindest nicht als Besucher und schon gar nicht in einer Funktion als offizielle Ermittler. Das heißt, es besteht die realistische Wahrscheinlichkeit, dass es nicht gelingt, uns Zutritt zum Asylum zu verschaffen. Zumal eventuell bereits bekannt ist, dass uns dieser Fall entzogen wurde. Von Ihrer Existenz, Whiggs, weiß man dort jedoch noch nichts. Wenn Sie also als Vertreterin der Oberschicht eine in Behandlung befindliche Verwandte besuchen, wird man sicherlich keinen Verdacht schöpfen, und Ihnen anstandslos Zutritt gewähren. Die junge Dame ist für uns der perfekte Zugang.«
»Das ist ja ganz fantastisch«, spöttelte Whiggs, während sie ihre Hand zurückzog. Allerdings nicht so schnell, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. »Und was dann? Soll ich mit Miss Halvston eine Tasse Tee trinken, Ihr mein Mitgefühl über ihren geistigen Zustand bekunden und sie über den neuesten Klatsch aus der Gesellschaft unterrichten?«
»Keineswegs«, sagte Eric. »Sie werden ihr gar nicht erst begegnen.«
…
»Ich werde ihr nicht? Aber Sie sagten doch soeben …«, sagte Whiggs ungläubig.
»Sie haben richtig gehört«, antwortete Eric. »Denn kurz, nachdem Sie das Asylum betreten haben, werden Mister Ferret und ich ebenfalls dort eintreffen.«
Der Wiedergänger drehte sich nach hinten. »Wie Sie vorhin so treffend bemerkten, wird man uns aber vermutlich nicht einlassen wollen, Sir.«
Eric lächelte. »Nicht allein, das ist richtig. Aus genau diesem Grund habe ich vor einer Stunde eine Depesche abgeschickt. Sie ging an Chief Inspector O’Donohue, der, wie Sie sich erinnern, nicht begeistert davon war, wie in unserem Fall verfahren worden ist. Ich habe ihm also die neuesten Erkenntnisse mitgeteilt und um ein wenig Unterstützung gebeten. Während unseres Besuches bei Madam Roshnatow erreichte mich dann eine entsprechende Antwort.« Er reichte einen Umschlag nach vorn. »Wir werden uns vor dem Eingang mit den Männern des Inspectors treffen, die sich im Besitz eines Durchsuchungsbefehls befinden. Wir beide, Sie und ich, Mister Ferret, werden die Herren Polizisten als Berater und Beobachter begleiten. Das dürfte für ein hübsches, kleines Ablenkungsmanöver ausreichen. Wie Sie so zutreffend festgestellt haben, sind wir dort ja bereits bekannt und – vorsichtig ausgedrückt – nicht gerade gern gesehen. Umso mehr wird man sich also auf uns konzentrieren. Besonders, wenn wir uns entsprechend neugierig und unbequem verhalten. In der Zwischenzeit haben Sie, Whiggs, jede Möglichkeit und Freiheit, sich gründlich umzuschauen.«
Whiggs schaute den jungen Agenten entgeistert an. »Und das soll ein Plan sein?«
»Er ist nicht sehr ausgefeilt«, gab Eric zu, »aber in der Kürze der Zeit ist es das Beste, was wir tun können. Mister Ferret und mich lässt man sicherlich nicht aus den Augen. Man wird alles daran setzen, dass wir nichts Kompromittierendes finden. Selbst wenn es so etwas zu finden gäbe. Die Polizei hat, wenn wir ehrlich sind, lediglich einen bloßen Verdacht, jedoch kaum eine Handhabe, solange wir keine Beweise vorweisen, die ein Verbrechen innerhalb der Mauern des Asylums belegen. Das heißt, auch deren Möglichkeiten sind begrenzt. Unsere einzige Chance ist es somit, jemand Unauffälliges hineinzuschmuggeln, damit der entdecken kann, was man vor uns aller Wahrscheinlichkeit nach verborgen hält. Eine junge Dame mit besonderen Fähigkeiten wie den Ihren, die sich unbeachtet durch die Anstalt bewegt, hat wesentlich bessere Aussichten. Alles, was wir brauchen, ist ein Beweis dafür, dass das Asylum tatsächlich mit größeren Mengen Hesiodplasma hantiert. Sie als Emanatin sind in der Lage, genau das aufzudecken. Haben wir erst ein Beweisstück, dann kann der Chief Inspector das komplette Haus mit einem Großaufgebot auf den Kopf stellen. Damit finden wir zweifellos auch unseren Mörder. Darauf würde ich mein Gehalt verwetten.« Eric lächelte zufrieden. Als er die Miene der jungen Frau sah, fügte er nach schnell hinzu: »Und keine Sorge – falls man Sie erwischen sollte, können Sie glaubhaft versichern, sich in den verwinkelten Gängen der Anstalt verirrt zu haben und allein nicht mehr herauszufinden. Sie sind also unsere Trumpfkarte.«
»Das ist … vollkommen verrückt«, sagte Whiggs. »Haben Sie sich eigentlich gerade selbst zugehört?«
»Freut mich, dass Sie meinem Plan so begeistert zustimmen«, entgegnete Eric trocken.
»Was? Ich …«
»Sir«, unterbrach Mister Ferret. »Dort vorn kommt das Asylum in Sicht. Wir sollten jetzt besser aussteigen.«
»Aber …«
»Sie haben recht, Mister Ferret.« Eric wies den Chauffeur an, den Wagen anzuhalten und die Emanatin nach ihrem Ausstieg direkt vor die Tür des Asylums zu fahren. »Und Whiggs – seien Sie vorsichtig.« Er legte, nach kurzem Zögern, seine Hoegle auf den Sitz neben sie und stieg aus. »Ich zähle auf Sie.« Mit einem Lächeln nickte er der sprachlosen jungen Frau zu, schloss die Tür und trat einen Schritt zurück. Mit leisem Summen nahm der Wagen wieder Fahrt auf und rollte den Berg hinauf auf das Eingangstor des Coleman-Asylums zu.
Gedankenverloren sahen die beiden Männer dem Gefährt nach. »Meinen Sie, ich habe das Richtige getan, Mister Ferret?«
Der dünne Mann zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht beurteilen, Sir«, sagte er leise. »Aber ich muss zugeben, dass das ausgezeichnet improvisiert war, Sir.« Mister Ferret betrachtete das Blatt, das er noch immer fest in Händen hielt. »Betreffend: Durchsuchungsbefehl auf dem Grund des Coleman-Asylums … Keine ausreichende Handhabe«, las er vor. »Und so weiter … offizielle Unterstützung bei derzeitiger Sachlage nicht möglich.«
»Ich habe getan, was mir das einzig Richtige zu sein scheint. Auf diese Weise ist sie immerhin aus dem Weg und nicht in Gefahr. Man wird sie nicht mit uns in Verbindung bringen. Sie werden mich doch begleiten, Mister Ferret?«
»Natürlich, Sir.« Der Wiedergänger faltete den Bogen zusammen und steckte ihn in die Tasche. Dann griff er in seinen Mantel, holte ein Plasmagewehr darunter hervor und reichte es dem jungen Agenten. »Ich hatte versprochen, dass ich Ihnen zur Seite stehe, wenn Sie diese Untersuchung zu Ende bringen. Daran hat sich nichts geändert. Ich bin davon überzeugt, dass wir dort die Beweise finden, die Sie benötigen. Deshalb sollten wir dafür sorgen, dass sie nicht verschwinden, Sir.«
Eric atmete tief durch. Dann straffte er die Schultern. »Also gut. Fangen wir an.«
Hinter ihren Rücken räusperte sich jemand geräuschvoll. »Die Herren hatten doch nicht vor, ohne mich aufzubrechen?« Eric und Mister Ferret wandten sich langsam um.
Der Neuankömmling schenkte ihnen ein breites Grinsen. Dann nahm er noch einen Bissen von seinem Sandwich, warf den Rest in den Rinnstein und begann, sich die Finger sorgfältig an einem Taschentuch zu reinigen.
Erst mit einem Augenblick Verspätung reagierte Eric. »Joey. Der Polizist. Was machen Sie hier?«
»Richtig«, sagte Joey. »Der Polizist. Ich habe gehört, dass Sie unserem gemeinsamen Freund Sartorius einen Besuch abstatten wollen. Da konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen.«
»Aber – ich denke, es gibt keine offizielle Unterstützung?«
Der Polizist zuckte mit den Achseln und sah an sich herab. Dann grinste er Eric an. »Sehen Sie hier irgendwo eine Uniform?« Er winkte und drei weitere Männer lösten sich aus dem Schatten des nächsten Hauseingangs. Joey wandte sich an den Wiedergänger. »Wären Sie so freundlich und geben mir das Blatt, das Sie da gerade eingesteckt haben, Mister Ferret? Das kann uns noch gute Dienste leisten. Und Sie, Sir, bringen Ihre Waffe besser etwas unauffälliger unter. Wir haben einen Besuchstermin. Da sollte man höflich sein.« Er trat an den beiden erstaunten Männern vorbei und ging dem Asylum entgegen. Seine drei Begleiter nickten den Agenten zu und folgten ihm auf dem Fuß.
…
Das ist vollkommen verrückt. Whiggs versuchte, tief durchzuatmen, was allerdings an der engen Schnürung ihrer Korsage scheiterte. Entnervt verdrehte sie die Augen. Dann entdeckte sie die Waffe an ihrer Seite. Nachdenklich nahm sie die Hoegle in die Hand. Mit geübtem Griff ließ sie das Magazin herausgleiten und überprüfte es. Schwere Munition. Gut. Sie lud die Waffe wieder und schob sie in die Handtasche. Ihr Blick glitt durch das teure Innere des Wagens, dann über die vorbeiziehende Straße vor den Scheiben.
Ihre Hand umklammerte den Messinggriff der Tür und für einen Moment spielte sie tatsächlich mit dem Gedanken, aus dem Fahrzeug zu springen und einfach zu fliehen. Der Augenblick zog ungenutzt vorüber. Als der Plasmawagen das Tor zum Asylum passierte und langsamer wurde, lockerte sie die Schultern. Unter ihr, in den Tunneln, kämpften ihre Leute um Lethe und um ihr Leben. Wie konnte sie da vor einem Kleid und einem Krankenbesuch davonlaufen? Wenn es das war, was sie zum Fortbestehen Lethes beitragen sollte, dann war es ihre Pflicht. Deshalb musste ihr es ja nicht gleich gefallen. Als der Chauffeur ihr die Tür öffnete, stieg sie hoch aufgerichtet aus dem Wagen.
Whiggs holte noch einmal so tief Luft, wie es ihr Korsett zuließ, legte die Hand in dem weißen Spitzenhandschuh auf die martialisch wirkenden, schwarzen Eisenverzierungen der Eingangstür – und drückte sie auf. Dem Impuls, sich einfach umzudrehen und das Gelände auf dem schnellsten Wege zu verlassen, hatte sie, trotz seiner Übermächtigkeit, nicht nachgegeben. Allerdings musste sie zugeben, dass nicht viel gefehlt hatte, als sie das doppelflügelige Tor zum Vorhof des Sanatoriums mit dem Schriftzug »Coleman-Asylum« hinter sich gelassen hatte und über den gepflasterten Hof gegangen war. Die beiden Wächter am Eingang hatten sie nicht einmal kontrolliert, sondern gleich mit einem anzüglichen Grinsen durchgewunken, nachdem sie ihr Anliegen vorgetragen hatte. Dann war sie die Stufen zum Portal hinaufgestiegen.
Mit langsamen, beinahe herrschaftlichen Schritten und einem bemüht gelangweilten Gesichtsausdruck bewegte sie sich auf das Empfangspult am Ende der großen Halle zu. Dorthin, wo ein genervt dreinblickender Pfleger eben noch ein ungestörtes Gespräch mit dem Pförtner geführt hatte. Offensichtlich hatten sie sich ein paar Minuten Auszeit gegönnt, die Whiggs nun unterbrach. Beide Personen sahen zu ihr herüber und warteten ungeduldig darauf, bis sie die Distanz zu ihnen überwunden hatte.
Ein dumpfer, schwerer Knall zeugte davon, dass sich die Tür hinter ihrem Rücken wieder geschlossen hatte. Das Geräusch jagte ihr einen eiskalten Schauer über die Haut in ihrem Nacken. Das bedrückende Bild eines ausbruchsicheren Gefängnisses blitzte vor ihrem geistigen Auge auf und vermittelte ihr kurz das beängstigende Gefühl von Klaustrophobie. Etwas, das sie in den niedrigen Felsengängen um Lethe nie verspürt hatte. Sie schluckte schwer. Reiß dich zusammen, Whiggs. Das ist nur ein wenig Theater. Das machst du doch mit links.
Der Pförtner musterte sie mit vor der Brust verschränkten Armen abschätzend von Kopf bis zu den Füßen. Sein Kollege stierte sie stumm an, während er sich mit dem Ärmel geräuschvoll die Nase abwischte. Whiggs starrte angewidert zurück, die Hände locker auf dem Kleid, einen hochmütigen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie sagte kein Wort und wartete, bis der Pförtner sie ansprach.
»Sie wünschen?« Die Stimme besaß einen schnarrenden Unterton und die Gestik deutete darauf hin, dass er weder Lust noch die Bereitschaft hatte, just in diesem Moment seinen Job zu erledigen. Schon gar nicht wegen irgendeines dahergelaufenen Püppchens aus gutem Hause.
»Ich möchte Miss Halvston einen Besuch abstatten. Wo kann ich sie finden?«
Der Pförtner antwortete nicht, sondern warf dem Pfleger einen wissenden Blick zu.
Der andere, ein Mann mit massiger Statur, kurzgeschorenen roten Haaren und einer teigig wirkenden blassrosigen Haut, grinste gehässig. »Sie will zu unserer Wildkatze, was Reggory?«
»Scheint so, Plumley.« Der Pförtner wandte sich betont lässig zurück zu Whiggs. »Sind Sie eine Verwandte?«
»Selbstverständlich. Würde ich mich sonst freiwillig in dieses Etablissement begeben?« Sie sprach das Wort mit aller ihr möglichen Herablassung aus und hoffte, den Pförtner und seinen Kumpanen damit aus der Fassung zu bringen. Leider funktionierte es nicht besonders gut.
»Sie heißen?«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie das angeht.« Selbstbewusst warf Whiggs ihre kunstvoll gedrehten Locken nach hinten.
»Wenn Sie uns Ihren Namen nicht nennen, kann ich Sie leider nicht zu unserem Liebling lassen«, sagte Reggory.
»Nee, das kann er leider nicht«, fügte Plumley immer noch grinsend hinzu.
»Ich muss die Besuchspapiere korrekt ausfüllen.« Reggory räusperte sich. »Also, Ihr Name?«
»Weiß Ihr Vorgesetzter eigentlich, wie anmaßend Sie hier mit Besuchern, insbesondere mit einer Dame aus gutem Hause, umspringen, Sie Flegel?« Whiggs funkelte ihn böse an. »Ich werde mich an höchster Stelle beschweren.«
»Wie auch immer. Ohne Namen, kein Zugang. So einfach ist das.«
»Ja, so einfach ist das.« Plumley grinste jetzt noch breiter als zuvor. Offenbar hatte er eine Menge Spaß an dem kleinen Streitgespräch.
»Taversham. Miss Eleonore Taversham«, zischte Whiggs. »Das wird Folgen für Sie haben. Für Sie beide. Verlassen Sie sich drauf.«
»Natürlich. Dann können Sie sich bestimmt auch ausweisen, nicht wahr, Miss Taversham? Ich muss die Besucherpapiere …«
»… korrekt ausfüllen. Ich weiß.« Angesichts dieser Unverschämtheit fiel es der Emanatin immer schwerer, sich zu beherrschen. Reiß dich zusammen, dachte sie erneut. Das ist nur ein wenig Theater.
»Oh, und außerdem muss ich dann noch einen Pfleger rufen, der Sie zu dem betreffenden Besucherzimmer führt. Dummerweise sind alle Pfleger im Augenblick beschäftigt.«
»Ja, genau. Sind alle beschäftigt, was Reggory?«
»Und was ist mit Ihnen … Mister Plumley?« Whiggs sprach den Namen deutlich angewidert aus, ganz so, als ob sie sich davor ekeln würde. Was Sie in gewisser Weise sogar tat. Der rothaarige Mann war ihr mehr als nur unangenehm.
»Oh, ich hab gerade Pause. Steht mir zu.« Jetzt war es an Reggory, breit zu grinsen.
Whiggs zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wann würden Sie Ihre Pause beenden, wenn ich das erfahren dürfte, Mister Plumley?«
»Schwer zu sagen. Kommt drauf an, was Sie mir dafür bieten, Schätzchen.«
»Schätzchen?!« Ein bedrohlicher Unterton mischte sich in Whiggs’ Stimme. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Genug war genug. Langsam platzte ihr jetzt aber doch der Kragen. Sie war gerade drauf und dran, vollends aus ihrer Rolle zu fallen und diesen unverschämten Kerlen zu zeigen, wie man mit einer geachteten Emanatin aus Lethe umzugehen hatte, als die Eingangstür ein weiteres Mal mit lautem Hall zufiel. Wie nannten das die Cinematographen in den Filmtheatern der Oberschicht? Den »Zweiten Aufzug«, glaubte sie sich zu erinnern. Und der war wirklich gekonnt.
Offenbar hatte der Anführer der kleinen Gruppe eine Menge Übung in solchen Dingen. Breitbeinig, wie einer von diesen Revolverhelden aus billigen Groschenromanen, baute er sich mitten in der Halle auf und schaute sich schweigend um. Die Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt und seine finstere Miene versprach jedem, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen, einen Haufen Ärger. Zwei seiner Untergebenen hatten sich rechts und links von ihm postiert; eine Hand locker auf dem Pistolenholster, die andere an den Handfesseln, die unheilvoll vom Gürtel herabbaumelten. Der dritte Polizist hielt sich mit Eric und Mister Ferret im Hintergrund. Er würde jeden aufhalten, der das nun zu erwartende Schauspiel zu stören versuchte.
Plumley reagierte beinahe instinktiv. »Ich geh dann mal wieder, Reggory. Die Arbeit ruft.« Er warf dem Pförtner einen entschuldigenden Blick zu, zog den Kopf zwischen die Schultern und machte sich eilig aus dem Staub.
Reggory hätte es ihm gern nachgetan, aber dummerweise befand sich sein Arbeitsplatz direkt hinter dem Empfangspult. Warum, verflucht nochmal, verursachte der Anblick von ein paar Polizisten immer gleich Schuldgefühle? Gut, jeder hatte in dieser Stadt irgendwo Dreck am Stecken, aber die meisten doch höchstwahrscheinlich mehr als er. Also warum sollte man ausgerechnet ihn … Oder war es etwa möglich, dass … Winzige Schweißperlen begannen, ihm die Stirn hinunterzulaufen.
…
»Eklatante Unregelmäßigkeiten!« Joey McIntosh liebte diese zwei Worte. Seine jeweiligen Gegenüber dafür umso weniger. Genau deshalb wiederholte er sie so gern. »Eklatante Unregelmäßigkeiten, Sir. Wo immer man auch hinschaut.« Bedeutungsvoll wedelte er mit dem fiktiven Durchsuchungsbefehl vor der Nase des aufgelösten Pförtners herum. Seine beiden Untergebenen begannen derweil, das herbeizitierte Personal herumzuscheuchen und ziellos in dem anwachsenden Berg aus Dokumenten und Unterlagen zu stöbern, der vor ihnen auf der Empfangstheke aufgeschichtet wurde.
Dem Verdächtigen keine Zeit lassen, einen sachlichen Gedanken zu fassen. Keine Gruppenbildung, keine Atempause. Die Männer verstanden ihr Handwerk. Ihnen war aber auch klar, dass dieser Zustand panischer Verwirrung nicht ewig anhalten würde. Sobald eine einigermaßen aufgeweckte Person auftauchte, die mit der Gesetzeslage in Steamtown vertraut war, hätte der Spaß ein schnelles Ende.
Joey drückte dem Pförtner einen Zeigefinger gegen die Brust. »Feuerschutzvorschriften, Sir. Brandschutzverordnung 3045, Abschnitt F bis G. Sie verstehen mich?«
Der verängstigte Mann schüttelte ratlos den Kopf.
»Sie haben mich schon richtig verstanden, Mann. Wo befinden sich die verdammten Evakuierungspläne für den Brandfall? Dort drüben im Sicherheitsschrank, ja? Sehr gut. Öffnen Sie die Tür!« Joey griff nach den Plänen, die ihm der Pförtner mit zitternden Händen über die Theke reichte, und gab sie an Eric weiter. »Mister van Valen, würden Sie bitte die ordnungsgemäße Zugänglichkeit der Fluchtwege überprüfen Mister Reggory, die Schlüssel für die Abschnittstüren, sofort!«
»Sir, bei allem Respekt. Aber ich bin nicht sicher, ob …«
»Sicher ist hier so einiges nicht«, bellte Joey. »Und dazu scheint mir ein ausgesprochener Mangel an Kooperationsbereitschaft Ihrerseits zu bestehen. Offenbar bezahlt man Sie sehr gut, wenn Sie diese eklatanten Unregelmäßigkeiten auch noch zu decken versuchen.«
»Nein, Sir. Ganz und gar nicht«, beeilte sich Reggory zu versichern, zog hastig ein großes Schlüsselbund hervor und händigte es dem Polizisten aus. »Es ist nur so, dass eigentlich niemand die Sicherheitsbereiche ohne Begleitung betreten darf.«
»Daran hätten Sie denken sollen, bevor man uns informiert hat. Dann wäre uns allen diese Prozedur hier erspart geblieben.« Joey gab Eric und Mister Ferret ein unauffälliges Zeichen und drängte den Pförtner in das nächstbeste Büro hinein. »Und jetzt werden wir uns mal über Ihre Vorgeschichte unterhalten, Mister Reggory. Ihr Name klingt mir doch arg verdächtig kontinental.«
Als die Tür hinter dem Polizisten zugefallen war, schauten sich die beiden Agenten vielsagend an. »Ich bin wirklich froh, dass wir ihn zum Verbündeten haben«, sagte Eric.
Mister Ferret nickte langsam. »Wir sollten uns beeilen, solange das noch der Fall ist, Sir.«
Eric rollte den Evakuierungsplan auf und reichte ihn an den dünnen Mann weiter. »Wir finden die Plasma-Rohre vermutlich irgendwo in den unteren Stockwerken. Können Sie erkennen, wie wir dort hinkommen?«
Mister Ferret orientierte sich kurz und deutete dann auf eine Stelle im übernächsten Flügel. »Ich glaube, es ist diese Treppe, Sir. Zumindest erinnere ich mich daran, dass man mich für meine Untersuchungen irgendwo hier hinuntergebracht hat.«
»Verlieren wir keine Zeit.« Eric nickte dem Polizisten zu, den ihnen Joey zur Unterstützung abgestellt hatte. Er wollte sich schon in Bewegung setzen, als ihm plötzlich etwas einfiel. Verwirrt schaute er sich um. »Wo ist eigentlich Miss … Whiggs?«
Mister Ferret schüttelte den Kopf. »Die junge Dame hat sich bereits abgesetzt. Sie scheint mir sehr entschlussfreudig. Das muss man wohl auch sein, wenn man in dem Umfeld groß geworden ist, in dem sie für gewöhnlich lebt, Sir.«
Eric nickte. »Dann läuft alles nach Plan. Sie wird nicht weit kommen, wenn sie hier allein durch die Gänge spaziert. Die Sicherheitstüren würden sie aufhalten, bevor sie in echte Gefahr geraten kann.«
…
Whiggs bewegte sich zielstrebig über die finsteren Flure. Der Schlüsselbund, den sie diesem widerlichen Plumley in der Verwirrung entwendet hatte, hielt sie mit beiden Händen eng an den Körper gepresst. Um sie herum hallte das Getrampel unzähliger Angestellter von den Wänden wider, die in hektischer Betriebsamkeit mal hierhin und mal dorthin rannten. Die beiden Agenten hatten ganze Arbeit geleistet, und die Anstalt in helle Aufregung versetzt. Innerlich bebte Whiggs vor Anspannung – und doch schien der Plan aufzugehen. Mit einer Zielstrebigkeit, die sie nicht fühlte, schritt sie die Flure des Asylums entlang. So als wüsste sie genau, wohin sie unterwegs war. Und tatsächlich achtete fast niemand auf eine einsame Frauengestalt, die forsch in die Sicherheitsbereiche vordrang. Die wenigen, die ihr dennoch Beachtung schenkten, beschlossen recht zügig, dass der Versuch, sie aufzuhalten, vermutlich schwerwiegende, juristische Konsequenzen nach sich ziehen würde oder – schlimmer noch – einen missbilligenden Blick dieser jungen Dame. Niemandem schien eine derartige Aussicht zu gefallen und so drang Whiggs zu ihrer eigenen Verblüffung immer tiefer in die labyrinthartigen Korridore vor, ohne dass auch nur ein einziger Versuch unternommen wurde, sie aufzuhalten.
Schließlich hielt sie an einer Tafel, auf der kleine Pfeile die ungefähre Richtung der verschiedenen Stationen anzeigten. Einer der Pfeile wies auf ein Treppensymbol.
Nach unten.
Wenn die Plasmarohre tatsächlich im Asylum endeten, so mussten sie irgendwo in den tieferen Stockwerken zu finden sein. Dort, wo sich laut der Tafel neben einigen Lagerräumen auch die Labore für die Untersuchung der Plasmierten befanden. Die Emanatin zögerte kurz und entschied sich dann für eine völlig andere Richtung.
Eine Treppe, die zu den Untersuchungslaboren für die Wiedergänger führte, war mit Sicherheit viel zu gut bewacht. Außerdem zweifelte Whiggs, dass ein Pfleger von Plumleys Intellekt tatsächlich Berechtigung und Schlüssel besaß, die ihm Zutritt zu den entsprechenden Räumen verschaffen konnten. Es war also reine Zeitverschwendung, es auf diesem Weg zu versuchen. Aber dafür hatte sie auf der Tafel etwas gesehen, das sehr viel erfolgversprechender klang. Direkt über den Laboren lagen die Küchen der Anstalt. Wenn sie es korrekt einschätzte, gab es zwangsläufig einige Lastenaufzüge, die die beiden Stockwerke miteinander verbanden. Sie waren höchstwahrscheinlich zu klein, als dass sich ein Mann hineinzwängen konnte – aber eventuell gelang es einer zierlichen, kleingewachsenen Frau. Selbst wenn sie in einer Garderobe wie der ihren unterwegs war …
…
Whiggs hatte irgendwann den geschäftigen Bereich des Asylums hinter sich gelassen. Hier, ein Stockwerk höher und abseits der Büros, war der schier unerschöpfliche Strom von Angestellten letztendlich versiegt, bis sie schließlich niemandem mehr begegnete. Allein wanderte sie durch die kargen, gekachelten Gänge, die schal nach Ammoniak und Scheuerpulver rochen und nicht besonders anheimelnd oder auch nur ansatzweise gesundheitsfördernd wirkten.
Ab und an war hinter der einen oder anderen verschlossenen Tür ein Schaben zu hören gewesen, ein verzweifeltes Stöhnen, ein monotones Murmeln oder gar ein schrilles Lachen. Sie hatte allerdings der Versuchung widerstanden, durch die schmalen Sichtschlitze einen Blick in die Zellen zu werfen. Es hätte sie nur aufgehalten und helfen … ja, helfen hätte sie ohnehin nicht können. Tatsächlich vergingen mehrere Minuten, in denen sie nur noch den Hall ihrer eigenen Schritte vernahm. Was angenehm war, da sie sich deshalb auch keine Gedanken machen musste, dass man sie nach dem Grund ihrer Anwesenheit fragte. Fast kam es ihr vor, als wäre das gewaltige Gebäude völlig verlassen. Zumindest, wenn sie die Insassen der Zimmer außer Acht ließ, die hinter dicken Stahltüren einen großen Teil ihres Weges säumten. Mit dem neu erworbenen Schlüsselbund öffnete sie die nächste Gittertür.
Auf jedem Gang gab es diese besonderen Sicherheitstüren, zumeist eine am Anfang und eine am Ende, oftmals sogar in der Mitte. Mittlerweile war sie recht froh, dass sie das Risiko eingegangen war, den unsympathischen Pfleger um seine Schlüssel zu erleichtern. Ohne dieses Hilfsmittel wäre ihr kleiner Ausflug von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen, wäre sie nicht einmal bis zur ersten Etage vorgedrungen.
Alle paar Meter malte das helle Plasmalicht aus den vergitterten Lampen an den ansonsten kahlen Wänden grünliche Flecken auf die Kacheln. Whiggs hoffte, dass dieser Polizist, in dessen Begleitung sich Eric und Mister Ferret befunden hatten, noch einige Zeit gehörig Wirbel machen würde. Selbst wenn er nichts fand oder die Asylumleitung dem Spuk ein jähes Ende bereitete. Ob er wusste, dass er damit ihren Alleingang deckte? Wahrscheinlich. So wie sie den jungen Agenten mittlerweile kennengelernt hatte, überließ er die Dinge nur ungern dem Zufall, auch wenn es sich in diesem Fall wohl kaum anders handhaben ließ. Sie selbst hielt grundsätzlich nichts von eilig dahinentworfenen Planungen, die so löchrig waren wie grüner Suthbale-Käse. In den Tunneln um Lethe kostete eine dürftige Vorbereitung in zwei von drei Versuchen das Leben. Zumeist auf eine brutale und äußerst schmerzhafte Art. Aber das, was sie gerade tat, entsprach genau dem, wovor auch der Duke die Bewohner von Lethe immer gewarnt hatte: Geht niemals unvorbereitet in die Tunnel.
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nicht den Hauch einer Idee, wie sie vorgehen sollte. Klar, in den Kellerbereich eindringen und ein verdächtiges Rohr suchen. Und dann? Ging sie dann einfach zurück zu Eric, damit er den Rest regeln konnte? Was wäre, wenn sie gar nichts fand? Würde sie wieder nach Hause zurückkehren und dem Duke schulterzuckend erzählen müssen, dass sie nichts, aber auch gar nichts erreicht hatte? Irgendwie befriedigte sie die Vorstellung nicht besonders.
Anderseits – das Asylum war ihre einzige Spur. Wiesen nicht alle Indizien darauf hin, dass das, was ihre Welt bedrohte, unmittelbar mit diesem unheimlichen Ort zu tun hatte? Mit der Plasmaleitung, die bis an diesen Ort führte. Mit Plasmierten, die Morde begingen – in den Straßen von Steamtown und unter ihnen. Es war kaum denkbar, dass die Quelle all dessen nicht innerhalb der Mauern des Asylums zu finden war. Und der Schlüssel war das Hesiodplasma. Es musste nur noch der Beweis dafür gefunden werden. Dafür, dass alles, was passierte, nicht mit rechten Dingen zuging. Was immer das auch heißen mochte.
Oh, und natürlich war es außerordentlich wichtig, sich nicht erwischen zu lassen. Das war ein weiteres Problem, eines, vor denen der Duke sie stets warnte. Mit einem Seufzen schritt sie aus. Hinter einer der nächsten Abzweigungen – sie fragte sich zunehmend, ob sie sich nicht bereits verlaufen hatte – erreichte sie endlich das Areal, nach dem sie gesucht hatte. Noch immer war sie keiner Menschenseele begegnet, seit sie diesen Teil des Gebäudekomplexes betreten hatte. Zumindest, wenn man von zwei einsamen Wachmännern absah, die sie jedoch tunlichst umgangen hatte. Die Umwege hatten sie länger aufgehalten, als sie geplant hatte, aber schließlich war sie unbemerkt bis hierher vorgedrungen.
Eine große, doppelflügelige Tür markierte den Zugang zu ihrem ersten Etappenziel. »KUECHE« verkündete das Schild über dem Durchgang. Die Anstaltsküche. Sie riskierte einen Blick durch einen der angelehnten Türflügel. Silbermetallisch blitzende Tische standen in Reihen vor weißen Wandfliesen. Darüber waren Regale mit Töpfen, unterschiedlich großen Löffeln und sonstigem Küchengerät angebracht. An der hinteren Wand fanden sich zwei sechsflammige Plasmaöfen, auf denen gewaltige Töpfe mit undefinierbarem Inhalt vor sich hin brodelten. Drei Frauen arbeiteten an den danebenstehenden Anrichten. Sorgfältig zerkleinerten oder vermischten sie Zutaten und warfen sie in die Töpfe hinein.
Hier wurde also die Verpflegung der Insassen zubereitet. Um dann, wie es aussah, portionsweise auf mannshohe Rollregale gestellt und auf die Zellen verteilt zu werden. Links der bereitstehenden Essenswagen entdeckte Whiggs endlich das, was sie zu finden gehofft hatte: die stählernen Türen automatischer Speiseaufzüge, groß genug für die Rollregale und unter Garantie ausreichend geräumig, um einer zierlichen Frau Platz für eine Fahrt ins Ungewisse zu bieten. Selbst in dem unpraktischen, wenn auch wunderschönen Kleid, dessen Reifrock sich langsam aber sicher zu einem ernsthaften Hindernis zu entwickeln versprach. Abgesehen davon, dass ihr das Korsett gerade so viel Luft ließ, um nicht ohnmächtig zu werden. Natürlich war dieses Kleidungsstück traumhaft. Jedoch ebenso unglaublich unpraktisch. Durch einen Tunnel würde man damit nicht gelangen, ohne es vollkommen zu ruinieren. Wahrscheinlicher noch wäre es, dass man irgendwo steckenblieb, bis man entweder durch einen anderen Tunnler gerettet oder von einem Quexer gefressen wurde. Diese Kleidung war entschieden zu unpraktisch für das Leben unter der Erde. Oder auch nur für irgendeine Aktion, die mehr als Herumsitzen und Teetrinken erforderte. Inwieweit es ihr bei der Umsetzung des nächsten Teils ihres Plans hinderlich werden würde, musste sich noch herausstellen.
Zuerst galt es, an den drei Köchinnen vorbeizukommen. Und dann blieb zu hoffen, dass die Aufzüge tatsächlich bis hinab in das Kellergeschoss reichten. Sie wollte sich gerade unauffällig zurückziehen, um die benachbarten Räume auf eventuell Brauchbares zu untersuchen, als plötzlich hinter ihrem Rücken deutliche Schritte zu hören waren. Verdammt! Warum ausgerechnet jetzt?
»Entschuldigung, Miss. Darf ich fragen, was Sie hier tun?«
…
»Nichts, Sir.«
»Nichts?«, wiederholte Eric verblüfft. »Ich muss mich schon sehr wundern. Sie haben hier Türen und behaupten, hinter diesen befinde sich nichts? Wenn das den Tatsachen entspricht, dann haben wir in diesem Haus eine echte wissenschaftliche Sensation und sollten unbedingt die Herren Professoren von der Universität einen Blick darauf werfen lassen.«
Der Wachmann sah ratlos erst Eric, schließlich Mister Ferret und den Polizisten an.
»Das war sarkastisch gemeint«, erbarmte sich Mister Ferret endlich nach einer viel zu langen Pause.
Der Wachmann wirkte für einen Moment erleichtert. Bis er Erics durchaus freundliches Lächeln wahrnahm.
»Mister Ferret hat natürlich recht«, sagte der Agent. »Ich bitte um Verzeihung. Ich habe mich nur gefragt, warum Sie dieses ›Nichts‹ mit ›Aufbahrung‹ beschriften.« Er deutete auf das unscheinbare Schild neben dem Türrahmen. »Sie haben hiermit die Gelegenheit, Ihre Antwort nochmals zu überdenken. Also: Was befindet sich hinter dieser Tür?«
»Ni … nichts Wichtiges, Sir. Nur der Aufbahrungsraum des Asylums. Wir sind ein großes Haus. Todesfälle kommen auch bei uns gelegentlich vor.«
Eric nickte verständnisvoll. Er wandte sich an den sie begleitenden Polizisten. »Sir, wenn ich Sie bitten dürfte, für die Öffnung dieser Tür zu sorgen.«
Der Beamte zuckte mit den Schultern, schob seinen Rockschoß beiseite und legte die Hand auf den Griff der Waffe. »Sie haben den Agenten gehört, Sir.«
»Aber …«
»Ich kann natürlich auch Mister Ferret ersuchen, die Tür zu öffnen«, sagte Eric. »Die entstehenden Schäden verantworten Sie dann jedoch selbst.«
Diese Bemerkung gab den Ausschlag. Entnervt warf der Wachmann die Hände in die Luft. »Bitte, wenn Sie so wollen.« Er schloss die Tür auf und trat beiseite.
Auf Erics Nicken hin stieß Mister Ferret die Tür auf. Ein Schwall kalter Luft schlug ihnen entgegen. So kalt, dass Eric unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Der nächste Atemzug blieb einen Moment vor seinem Gesicht hängen.
Der dünne Wiedergänger betrat den Raum und drehte einen Schalter neben der Tür. Mit einer Serie von Knistern und Knacken erwachten unzählige Zündrädchen zum Leben. Gleich darauf flackerten zahlreiche Lampen auf und tauchten den Raum in sanft heller werdendes Licht. Reif glitzerte auf jeder Oberfläche der Einrichtung und verlieh ihm eine märchenhaft unwirkliche Atmosphäre.
»Bemerkenswert.« Eric trat einen Schritt in die Kältekammer. Entlang der rechten Wand sah er eine Reihe fahrbarer Metalltische. An der linken trennten, ähnlich wie in den Krankenlagern von Sanatorien, Leinenbahnen kleine Parzellen ab. Mit dem Unterschied, dass die Vorhänge steif gefroren waren und in der Kälte glitzerten. »Nach Ihnen.« Er winkte den Wachmann an sich vorbei in den Raum. »Wir möchten uns nicht nachsagen lassen, etwas Unerlaubtes getan zu haben. Öffnen Sie das da.« Er deutete auf den nächsten Vorhang. »Und Sie«, wandte er sich an den Polizisten, »bewachen bitte die Tür.«
Unwirsch zog der Wächter das knisternde Tuch beiseite. Dahinter kam ein weiterer Rolltisch zum Vorschein, auf dem sich diesmal jedoch ein Leichnam befand.
Eric musterte den Toten einem Moment lang. Dann nickte er. »Der Nächste bitte.«
»Ich weiß nicht, was das soll«, murrte der Wachmann, doch Eric schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Tun Sie es einfach. Danke.« Er begutachtete einen weiteren Toten, dann einen dritten und vierten.
»Wollen Sie jeden Einzelnen ansehen, Sir? Es ist verdammt kalt hier drin.« Demonstrativ hauchte der Wachmann in seine Hände und rieb sich die Arme.
»Sie haben recht«, sagte Eric und wandte sich wieder zur Tür. Dann jedoch hielt er inne und schaute sich aufmerksam um. »Eins noch. Mister Ferret, sehen Sie doch bitte hinter den Vorhang dort drüben.«
Noch bevor der Wachmann protestieren konnte, war der Wiedergänger der Aufforderung des Agenten nachgekommen und hatte die letzte Leinenbahn in der Reihe beiseitegeschoben.
Dann zwinkerte er. Einmal. »Eine weitere Tür, Sir.«
Eric nickte und lächelte dem Wachmann zu, der augenblicklich zu frieren vergaß.
»Halt! Sie können nicht einfach …«
»Wollen Sie Ihre Anstellung darauf verwetten, was ich kann und was nicht? Wir sind beinahe eine halbe Stunde hier unten unterwegs, und soweit ich das richtig sehe, dabei einmal im Kreis gelaufen. Da war dieser eine Raum entschieden zu klein, um den gesamten Innenbereich auch nur ansatzweise zu füllen. Öffnen Sie die Tür, Sir.« Bei den letzten Worten wurde Erics Stimme eine Spur schärfer und nach einem Wink stand Mister Ferret mit einem Mal ganz dicht neben dem Wachmann. »Jetzt. Bitte.«
Die doppelflügelige Metalltür führte in einen weitaus größeren Raum. Man konnte ihn fast schon als Saal bezeichnen. Er war ebenfalls mit sauber geordneten Reihen von Rolltischen gefüllt, die durch reifbedeckte Leinenbahnen voneinander abgetrennt waren. Auf jedem einzelnen Tisch lag ein Leichnam.
»Vielleicht hatte das Asylum vor kurzem einen Ausbruch der kontinentalen Grippe«, mutmaßte Mister Ferret.
Eric trat zu dem nächstgelegenen Tisch und musterte den darauf liegenden Toten. »Ich wüsste nicht, dass man Grippepatienten für gewöhnlich erschießt.«
»Vielleicht ein neuer Ansatz zur Eindämmung von Epidemien«, sagte der dünne Mann trocken. »Die junge Dame dort drüben starb übrigens am Schlag, Sir.« Er deutete auf die Leiche auf dem nächsten Tisch. »Mit einem schweren, stumpfen Gegenstand.«
Nachdenklich wanderte Eric zwischen den Reihen hindurch. Hier lagen Dutzende von Toten. Vierzig. Vielleicht sogar fünfzig. Keiner von ihnen trug Anstaltskleidung.
Plötzlich ließ ihn ein Geräusch aufhorchen. Mit eiligen Schritten durcheilte er den Raum, bis er zu einem Bereich gelangte, der ebenfalls mit kältesteifen Tüchern verhängt war. Der Wachmann und Mister Ferret folgten ihm auf dem Fuß. Eric legte sein Gewehr an und schob mit dem Lauf vorsichtig den Vorhang zur Seite. Unter seinem Fuß knirschte es. Er sah hinunter. Die Splitter eines zerborstenen Messglases bedeckten den Boden. »Das ist seltsam …«
»Eine halbe Hundertschaft Leichen so vorzufinden, ist mehr als nur seltsam«, sagte Mister Ferret. »Ich würde wetten, dass wir jetzt ohne Probleme die Genehmigung für eine richtig große Razzia bekommen, Sir.«
»Ich finde es vor allem bemerkenswert, dass wir hier auch Leichen auf dem Boden ablagern.« Stirnrunzelnd deutete der Wachmann auf einen weiteren Leichnam, der halb unter einem der Leinenvorhänge verborgen lag. »Es ist schließlich nicht so, als hätten wir nicht genug Tische.«
»Da fragt man sich, warum ein Haus wie dieses über mehr Rollbahren verfügt, als unser Leichenschauhaus«, sagte Mister Ferret.
»Ich frage mich vor allem, wer all diese Leute sind«, fügte Eric hinzu.
»Und ich frage mich, von welchem Tisch dieser Tote gefallen sein könnte.« Mister Ferret deutete nach unten. »Ich meine, wo sie doch hier alle belegt sind.«
Die anderen beiden sahen ihn an. Sie musterten die Tische in der unmittelbaren Umgebung.
»Sirs«, sagte Eric leise und hob seine Waffe, »ich fürchte, wir haben ein Problem.«
»Ach ja?« Der Wachmann hob das Tuch von der Leiche neben sich und musterte das vernarbte Gesicht des Toten. »Und welches?« Die schwarzen Augen des Toten starrten ihn blicklos an.
Dann blinzelten sie. Einmal.
Noch ehe er reagieren konnte, schoss eine eiskalte Hand nach oben und riss ihm das Gesicht vom Kopf. Kreischend taumelte der Wachmann zurück und übergoss Eric und Mister Ferret mit einer Fontäne dampfenden Bluts. Dann zermalmte ein Fausthieb seinen Brustkorb und das Kreischen brach abrupt ab. Im nächsten Augenblick sprang der vermeintlich Tote über den Tisch und stürmte davon. Der Schuss aus Mister Ferrets Plasmagewehr verfehlte ihn nur um Haaresbreite und ließ einen Schauer von gefrorenen Leichenteilen durch den Raum fliegen. Ohne zu zögern, schickten die beiden Agenten weitere Feuerstöße hinter dem fliehenden Wiedergänger her.
…
Der Flüchtende setzte mit großen Sprüngen über die Tische hinweg, gefolgt von Mister Ferret, der auf seinem Weg mehr als eines der Hindernisse umstieß.
Eric stürmte zurück in den Mittelgang, um ihm den Weg abzuschneiden. Als der Wiedergänger seinen Plan erkannte, schlug er einen Haken und kam nun direkt auf ihn zugerannt. Abrupt blieb Eric stehen, riss die Waffe nach oben und feuerte zwei ungezielte Schüsse ab. Keiner davon traf. Der Wiedergänger warf sich blitzschnell zur Seite und zerschmetterte mit der Wucht seines Aufpralls beinahe einen der massiven Metalltische mitsamt der darauf liegenden Leiche. Achtlos stieß er den Toten von sich, wuchtete die Tischplatte in die Höhe und hielt sie sich schützend vor den Körper. Zwei weitere Schüsse hämmerten tiefe Dellen in den provisorischen Schild, konnten aber keinen Schaden anrichten. Eric richtete den Lauf auf das einzig verfügbare Ziel: die Beine des Untoten.
Klick. Das Magazin war leer!
Hektisch suchte er in seinen Rocktaschen nach einem Ersatzmagazin, als etwas sein Blickfeld verdüsterte. Im letzten Augenblick gelang es Eric, der Metallplatte auszuweichen, die ihm der Wiedergänger knurrend entgegengeschleudert hatte. Sie krachte direkt neben ihm in eine Gruppe Tische hinein. Holzsplitter und verbogene Metallteile wirbelten durch die Luft und irgendetwas traf Eric hart am Schienbein. Der Agent knickte ein und stürzte schwer zu Boden. Das rettete ihm das Leben. Denn in der gleichen Sekunde zischten rasiermesserscharfe Krallen nur um Haaresbreite an seiner Schulter vorbei und zerfetzten seinen Ärmel. Instinktiv stieß er den Lauf seiner Waffe nach oben. Stahl schlug in einem Funkenregen gegen Stahl und der Wiedergänger schrie auf. Wahrscheinlich mehr aus Überraschung als vor Schmerz.
Für einen kurzen Moment begegneten sich die Blicke der beiden Kontrahenten. Eric fiel auf, dass die Augen seines Gegners nicht so recht zueinanderpassen wollten. Ich kenne dich, dachte er. Ich hoffe, es hat ordentlich wehgetan, als ich dir mit dem Scheuerpulver den Kopf gewaschen habe, du Bastard!
Der Wiedergänger schien sich ebenfalls an ihn zu erinnern. Sein bis dahin ausdrucksloses Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Er stieß Eric nach unten und presste ihm das Knie auf die Brust. Seine Krallenhand schoss herab, unerbittlich wie ein hungriger Raubvogel – und stoppte nur wenige Millimeter vor dem Hals des Agenten.
»Darf ich Ihnen zur Hand gehen, Sir?« Mister Ferret hielt den Unterarm des Wiedergängers wie ein Schraubstock umklammert. Mit einer unglaublichen Kraftanstrengung riss er ihn nach oben. Ein vernehmliches Knacken war die Folge. Dann packte der dünne Mann seinen ungleich massigeren Gegner am Kragen, zog ihn von Eric herunter und schleuderte ihn quer durch den Raum.
Der Wiedergänger schlug hart in der rückwärtigen Reihe der Tische ein und verstreute in weitem Umkreis Leichen und scheppernde Blechwannen. Ein Knurren wie von einem riesigen, wütenden Schlachterhund grollte herüber, als sich die Kreatur aus dem Trümmerhaufen befreite. Drei schnelle, gut gezielte Feuerstöße aus Mister Ferrets Plasmagewehr warfen sie wieder zu Boden.
»Ich würde vorschlagen, Sie laden nach, Sir«, sagte der dünne Mann. »Ich habe nur noch zwei Patronen, und wenn die weg sind, bin ich nicht mehr sehr nützlich.«
Eric bemerkte, dass Mister Ferrets rechter Arm schlaff an seiner Seite herabhing. Der dünne Mann nickte und lächelte entschuldigend. »Das hatte ich befürchtet, Sir. Ich bin seit der Meduse nicht dazu gekommen, das richtig reparieren zu lassen.«
»Ferret! Achtung!«
Der Kopf des dünnen Mannes ruckte herum und fixierte die massige Gestalt des Wiedergängers, die sich mit einem gewaltigen Satz auf ihn stürzte. Mit einem gezielten Schuss pflückte er die Kreatur aus der Luft und schleuderte sie gegen die nächste Wand. »Nachladen, Sir«, erinnerte er Eric.
Der Agent schüttelte seine Erstarrung ab und fand in fiebriger Hast endlich ein Ersatzmagazin in seiner Rocktasche. Ferret schoss zum letzten Mal, und als Eric fertig geladen hatte, kam ihr Gegner schon wieder auf die Beine. Mit wütendem Funkeln musterte der Wiedergänger die beiden Agenten. Doch als Eric seine Waffe hob, wirbelte er herum, überwand mit ausgreifenden Sprüngen die verstreuten Trümmer bis zur Tür der Kühlhalle und verschwand.
»Was …?«
»Wir haben ihn, Sir.« Mit grimmiger Genugtuung trat Mister Ferret einen Arm beiseite, den Eric im ersten Moment einer der zahlreichen Leichen zugeschrieben hatte. Dann jedoch entdeckte er die Brandspuren an der zerstörten Schulter und das Plasma, das daraus hervortropfte.
»Da bin ich aber froh. Ich hatte schon befürchtet, dieser Kerl wäre unzerstörbar.« Stöhnend rappelte sich Eric auf und lud das Magazin durch. »Er blutet. Also können wir ihn töten.«
»Ja, Sir. Davon abgesehen, dass er bereits tot ist.«
Gedämpfte Schüsse, dicht gefolgt von einem abrupt abreißenden Schrei, ließen sie herumfahren und in den vorderen Kühlraum zurückhasten. Der Polizist, der dort Wache gehalten hatte, lag seltsam verdreht in der geöffneten Tür. Blutiger Schaum quoll zwischen seinen Lippen hervor und sein Blick war hilflos an die Decke gerichtet. Aus etlichen klaffenden Wunden in seiner Brust pulsierte stoßweise das Blut und Eric konnte nur noch zusehen, wie die Augen des Mannes glasig wurden.
Er fluchte, sprang über den Sterbenden hinweg und stürmte den Gang hinab, der deutlich sichtbaren Plasmaspur des Flüchtigen hinterher. »Kommen Sie, Mister Ferret! Diesmal darf uns dieses Monster nicht entkommen.«
»Das wird er nicht, Sir. Nicht, wenn er in diesem Maße Plasma verliert.«
Grimmig folgten sie der Spur, die sich durch zwei verbogene Sicherheitsgitter und eine lange Treppe hinunter zog. Am nächsten Absatz bekamen sie den Fliehenden zu Gesicht. Er war langsamer geworden, taumelte mehr, als dass er lief. Immer wieder prallte er mit der Schulter gegen die Wand und hinterließ schlierige Plasmaflecken.
»Stehen bleiben!«, brüllte Eric.
Die Kreatur reagierte nicht. Knurrend riss sie eine Tür aus den Angeln und stolperte in das dahinterliegende Zimmer. Nur Augenblicke später erreichten auch die beiden Agenten den Durchgang.
»Ihre Waffe, Ferret!« Eric drückte dem dünnen Wiedergänger sein eigenes Gewehr in die Hand. Ohne die Tür aus den Augen zu lassen, wühlte er aus seiner Tasche ein weiteres Ersatzmagazin heraus und lud mit schnellen Griffen Mister Ferrets Gewehr nach. Dann gab er dem dünnen Mann ein Zeichen und mit vorgehaltenen Gewehren huschten sie durch die Tür.
Der Raum wurde von einer langen Reihe von Labortischen dominiert, auf denen unter komplizierten Apparaturen aus Glas, Kupfer und Messing hier und da kleine Plasmabrenner flackerten. Gerade mal zwei altmodische Laternen am anderen Ende des Labors spendeten spärliche Helligkeit.
Mister Ferret deutete zu der schwach glänzenden Plasmaspur hinüber, die hinter die Tischreihen führte.
Eric nickte. Langsam, mit äußerster Vorsicht tasteten sie sich zwischen den Tischen vor. Sie hatten beinahe den halben Raum durchquert, als über ihren Köpfen unter kratzenden Geräuschen die Zündräder der Deckenbeleuchtung zum Leben erwachten. Eric wirbelte herum. Das aufflackernde Licht beleuchtete eine hünenhafte Gestalt in der Türöffnung. Er brachte sein Gewehr in Anschlag und krümmte bereits den Finger um den Abzug, als Mister Ferret neben ihm ein scharfes »Nicht!« ausstieß. Der Agent erstarrte mitten in der Bewegung.
»Nicht. Schießen«, sagte Mister Ferret eindringlich.
»Aber es ist einer von ihnen!«
»Ich weiß«, antwortete der dünne Mann trocken. »Hinter Ihnen steht noch einer. Mit einem Flechette-Gewehr.«
Aus dem Augenwinkel sah Eric, dass Ferret statt hinter ihm nun seitlich an ihm vorbeizielte.
»Drei?«, fragte er.
»Drei«, bestätigte Mister Ferret. »Sie sagen es, Sir.«
Bevor sie sich über ein Vorgehen in dieser aussichtslosen Situation einigen konnten, mischte sich eine neue Stimme ein.
»Also das finde ich jetzt äußerst ärgerlich.«
…
Whiggs drehte sich betont langsam um. Trotzdem warf sie noch einen Blick in die Küche. Niemand hatte dort auf ihre Anwesenheit reagiert oder sah zu ihr herüber. Eine der Küchenhilfen zog ein hohes Tablettregal aus dem geöffneten Speiseaufzug und stellte es neben einem großzügigen Spülbecken in der Nähe der Eingangstür ab. Ein gigantischer Turm aus schmutzigen Tellern und Tassen schaukelte bedrohlich unsicher obenauf. Das begünstigte den Notfallplan, der sich soeben in ihrem Kopf materialisierte. Mit einer Prise Glück gepaart mit Geschick … Erst im letzten Augenblick, kurz bevor sie sich komplett herumgedreht hatte, setzte sie ein entwaffnendes Lächeln auf. »Ja, bitte?«
»Was machen Sie hier, Miss?«, fragte ein stiernackiger Wachmann in einer schlecht sitzenden Uniform. »In den oberen Stockwerken ist der Zutritt für Besucher untersagt.« Die Arme und der Aufzug des Mannes hätten auch zu einem Metzgermeister gepasst. Der muskulöse Halsansatz, der sich unter dem offenen Kragen wölbte, bewies, dass er kräftiges Zupacken gewohnt war. Kein leichter Gegner, falls es zum Äußersten kommen sollte. Zum Glück, dachte Whiggs, ließ diese Art von Mensch die intellektuelle Seite des Lebens meist außen vor.
Auf der Stirn des Mannes hatte sich eine Zornesfalte gebildet. Vielleicht war sie aber auch schon immer da gewesen. Er hatte sich bedrohlich nah vor ihr aufgebaut und stank nach Zwiebeln und altem Schweiß. Whiggs hatte Mühe, nicht angewidert das Gesicht zu verziehen. »Ich?« Ganz bewusst schlug sie ihre Augen um zwei, drei Unschuldsmillimeter weiter auf. Sollte der Mann ruhig glauben, dass er vor dem Inbegriff einer adligen Dame mit guter Erziehung und erwartungsgemäß einfachem Gemüt stand. Unauffällig rutschte sie mit ihren Füßen in eine standfestere Position.
»Wer denn sonst? Oder sehen Sie hier noch jemanden?«
»Also wenn Sie mich so direkt fragen, kann ich nur Sie vor mir sehen«, sagte Whiggs, nachdem sie betont aufmerksam erst die eine, dann die andere Seite des Flurs entlanggeblickt hatte.
»Wollen Sie mich vergackeiern, Miss? Das lassen Sie besser. Ich verstehe damit nämlich keinen Spaß. Klar?« Am hellrosa Hals des Wachmanns bildeten sich hektische Flecken. Rötliche Sprenkel, die sich zielstrebig zu undefinierten Flächen vereinigten. »Wie kommen Sie überhaupt hier herein? Ohne Schlüssel können Sie die Sicherheitsgatter gar nicht öffnen.«
Nachdenklich legte Whiggs den Zeigefinger an die Lippen. »Wissen Sie, das habe ich mich auch gefragt. Noch gerade eben erst. Ich habe überlegt und überlegt.« Unauffällig machte sie sich bereit. Stück für Stück lehnte sie sich der Plasmaleitung zu ihrer Rechten entgegen, die die Flurlampen mit Energie versorgte. Der Kerl war doch nicht ganz so blöde, wie sie gehofft hatte. Es würde also auf eine Konfrontation hinauslaufen. Sie ging in die Knie, was unter dem bauschigen Rock – dem Himmel sei Dank – nicht zu sehen war. Sie konzentrierte sich auf die Strömungen des Plasmas, hörte auf das leise Flüstern in ihren Ohren. Nach einem tiefen Atemzug, begleitet von einem übertriebenen Augenverdrehen, wie es sonst nur die jungen Mädchen benutzen, sprach sie weiter: »Und dann bin ich drauf gekommen. Ganz von alleine. Es muss daran liegen, dass ich tatsächlich einen SCHLÜSSEL HABE!«
Mit den letzten Worten warf sie sich nach vorn und packte zu. Ihre Hände berührten die Leitung, hielten sie fest. Sofort war die Verbindung da und sie fühlte die Kraft des Plasmas, wurde eins mit ihm. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie die Stelle, die sie nun brauchte, mit ihren Gedanken erfasst hatte. Mit einem Fauchen entzündete sich das Plasma und brach in einem gleißenden Lichtblitz aus dem Rohr, genau auf den Wachmann zu.
Mit einem Aufschrei schlug sich der Mann die Hände vor das Gesicht, stolperte rückwärts und stürzte mit krachenden Knochen zu Boden. Im gleichen Augenblick verloschen auf der gesamten Etage die Lichter und der Flur wurde in undurchdringliche Schwärze gehüllt. Whiggs wirbelte herum und tastete sich eilig zurück in die Kochstube. Ein unwirsches Grunzen in ihrem Rücken machte ihr klar, dass sie den Wachmann zwar nicht schwer verletzt, aber in jedem Fall stark verärgert hatte. Sie hörte, wie er sich aufrappelte und ihr blind und mit unbeholfenen Schritten folgte. Whiggs störte die Dunkelheit nicht. Zu lange hatte sie in den Tunneln gelebt, als dass sie sich davon würde aufhalten lassen.
Auch in der Küche waren die Lampen ausgefallen und die Bediensteten an den Spülbecken schnatterten in heller Aufregung durcheinander. Im trüben Schein der bescheidenen Fenster bemerkte keiner den Schatten, der geradewegs auf sie zueilte. Kaum war Whiggs an den verwirrten Küchenfrauen vorbeigehuscht, griff sie nach einem der beängstigend hohen Geschirrtürme und gab der schwankenden Konstruktion einen heftigen Stoß. Mit einem Seufzer kippte der altersschwache Rollwagen zur Seite. Schmutziges Geschirr und Besteck gerieten ins Rutschen und gleich darauf krachte der Turm gegen seinen benachbarten Bruder. Scheppernd regneten Teller und Schüsseln auf ihren Verfolger nieder, begleitet von den spitzen und angsterfüllten Schreien der Frauen.
In einem Durcheinander aus Essensresten und schleimigem Blechgeschirr ging der Wachmann erneut zu Boden. Er knallte mit dem Kopf gegen eine hölzerne Ablage, wurde aber nicht ohnmächtig. Auf dem Hintern sitzend schüttelte er den feisten Schädel, um die störende Benommenheit loszuwerden. Direkt neben ihm kippte ein weiterer der Geschirrtürme und überschüttete ihn mit einem neuerlichen Schauer aus Abfällen und Tischware.
Whiggs wartete nicht darauf, dass der Kerl wieder auf die Beine kam oder die kreischenden Damen ihre Sinne wiederfanden. Mit wehendem Rock stürmte sie in den Speiseaufzug und zog die rasselnde Klappe herunter, die die Kabine verschloss. Mit einer Hand stemmte sie sich gegen den Halteriegel, während sie mit der anderen den Hebel für das Kellergeschoss mehrfach nach unten drückte. Nichts geschah. Warum rührte sich der verfluchte Aufzug nicht?
…
Endlich, gefühlt nach einer halben Ewigkeit, ruckte die Kabine und senkte sich ächzend abwärts. Der Zufall oder eine solide durchgeführte Gebäudeplanung hatte in der Nähe des Lastenaufzuges eine weitere Plasmaleitung vorbeigeführt. Mit ihrer Hilfe hatte Whiggs die nötige Energie herangezogen, um die Apparatur in Bewegung zu setzen. Aus dem zerstörten Kreislauf des Flurs war nichts mehr zu holen gewesen. Wahrscheinlich hatte dort bereits die automatische Notabschaltung gegriffen, um zusätzliche Beschädigungen zu verhindern.
Aus der Küche drangen weiterhin Schreie und wüstes Geschimpfe zu ihr herunter. Doch mit etwas Glück hatte niemand bemerkt, wohin sie verschwunden war. Und wenn alles zu ihren Gunsten verlief, würde das auch eine ganze Weile so bleiben.
Mit einem Ruck kam der Aufzug zum Stehen. Whiggs verharrte für einen Moment und lauschte. Nichts rührte sich. Vorsichtig drückte sie die Klappe nach oben … und zuckte zurück. Gleißendes Licht schien ihr ins Gesicht und ließ sie gequält blinzeln. Hier unten funktionierte die Energieversorgung also noch. Es dauerte, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann sah sie sich rasch um und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sie sich in einem völlig verlassenen Gang befand.
Trotzdem war es nicht ratsam, weiter abzuwarten. Sie musste so schnell wie möglich aus diesem Aufzug heraus, wenn sie sich nicht wie auf dem Präsentierteller von irgendwelchen Wachleuten erwischen lassen wollte. Auf leisen Sohlen folgte sie dem Flur und prüfte behutsam, ob eine der abgehenden Türen unverschlossen war. Die meisten waren allerdings mit speziellen Schlössern versehen, für die sie weder einen Schlüssel noch irgendeinen Trick auf Lager hatte. Doch gerade als sie aus einem Seitengang Schritte und Stimmen hörte, fand sie glücklicherweise eine offene Tür. Im letzten Augenblick huschte sie durch eine unverriegelte Tür und zog sie hinter sich zu. Erneut war sie von Dunkelheit umgeben. Beinahe. Denn der Raum, in dem sie sich befand, wurde von Dutzenden schwach leuchtenden und blinkenden Gerätschaften in ein diffuses Halbdunkel getaucht.
Als die Stimmen näherkamen, rückte Whiggs sofort vom Eingang weg. Dabei übersah sie eine gläserne Apparatur, die auf einem Labortisch direkt neben ihr aufgebaut stand. Einen der Experimentierkolben streifte sie mit dem Ellbogen und stieß ihn um, so dass das Glas herabfiel und auf dem Boden zersprang. Whiggs erstarrte und vor der Tür verstummten die Schritte.
»Hast du das auch gehört?«, drang es gedämpft zu ihr herein. Ein Mann mit einem alarmierten Tonfall.
Ein anderer verneinte. »Was soll denn gewesen sein?«
»Da war ein Geräusch in C3. Am besten schauen wir mal nach.«
»Von mir aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mal wieder Gespenster hörst. Die Arbeit hier unten tut dir nicht gut. Sie macht dich paranoid.« Er lachte.
»Ja ja, schon klar.«
Fieberhaft sah Whiggs sich um. Sie brauchte ein Versteck – und zwar schnell. Ihr blieben vielleicht drei Sekunden, bis die Männer in den Raum hereinkommen würden. Da, der große, rechteckige Klumpen vor ihr musste ein Tisch mit darübergeschlagenem Tuch sein. Das konnte gehen. Als die Männer in das dunkle Labor traten, schwang der Stoff noch einmal zurück und hing dann bewegungslos herab. Der Lichtschein vom Gang beleuchtete zwei Beinpaare.
»Was hab ich dir gesagt? Alles ruhig«, sagte das eine.
»Ich mach mal hell«, sagte das andere und verschwand aus ihrer Sichtweite. Die Emanatin reagierte instinktiv und manipulierte die Plasmabrenner in den Deckenlampen. Als der Schalter klickte, blieb es dunkel.
»Verdammter Mist. Hast du deine Stableuchte dabei?«
»Liegt oben im Aufenthaltsraum. Musst du also so nach deinem Gespenst suchen.«
»Danke. Du bist wie immer eine großartige Hilfe.«
Ein Paar Schuhe kam auf ihr Versteck zu und stoppte direkt davor. Whiggs hielt den Atem an.
»Da war tatsächlich was. Habe ich mich doch nicht verhört.« Eine Hand im weißen Ärmel eines Laborkittels griff nach den Überresten des zerschmetterten Glaskolbens. Ein Wissenschaftler.
»Und wenn schon. Wird einer deiner unfähigen Kollegen nicht richtig auf den Tisch gestellt haben.«
»Ganz sicher«, sagte der Wissenschaftler. »Und wenn deine unfähigen Kollegen ihren Job anständig erledigen würden, hätten wir oben nicht diese Idioten herumspringen.«
»Als ob das meine Schuld wäre«, grummelte der Mann, der offenbar zur Wachmannschaft gehörte. »Los komm, hier ist nichts. Nachdem wir bei Sartorius waren, gebe ich dir einen Drink aus.«
»Einverstanden. Wird ja auch mal Zeit, dass du etwas springen lässt.«
Beide Männer drehten sich um und gingen zur Tür zurück. Der Luftzug ließ das Tischtuch ein Stück in die Höhe schweben und Whiggs sah den hinteren Zipfel des Laborkittels davongleiten. Ein Glitzern stach ihr ins Auge. Eines, das ihr ungewöhnlich und trotzdem vertraut vorkam. Eilig wechselte sie in die Plasmonensicht und fixierte den Stoffrand. Ein erschrockenes Keuchen entwich ihrer Kehle, noch bevor sie es mit der Hand ersticken konnte.
Sie hatte ihre Spur. Oder besser: Sie hatte die Spur gefunden, die der Agent hatte ausfindig machen wollen. Was der Wissenschaftler an seinem Kittel durch die Gegend spazieren führte, waren reinste Hesiodplasmonen, wenn auch in äußerst geringen Mengen. Illegal wie eine Ampulle SMAP – keine Frage. Die Männer hatten ihr Keuchen nicht gehört und verließen das Labor, ohne sich umzudrehen. Erleichtert atmete die Emanatin aus. Sie musste den Kerlen folgen. Dort, wo sie hingingen, würde sie das Hesiodplasma finden. Und die Beweise, die Eric van Valen benötigte.
Sie öffnete die Tür einen Spalt und lugte hinaus. Im letzten Moment sah sie, wie die beiden in einen anderen Gang einbogen und verschwanden. Vorsichtig schlich sie ihnen hinterher. Die Verfolgung endete am Ende eines langgezogenen Flurs, der zu einer einsamen Tür führte. Der Wissenschaftler und der Wachmann gingen zusammen hinein und Whiggs konnte einen Blick auf das Innere erhaschen. Sie sah unzählige Seziertische und jede Menge großflächiger Gerätschaften. Der Raum war geradezu vollgestopft damit. Eine bessere Deckung konnte sie sich nicht erhoffen.
Sie wartete noch ein, zwei Augenblicke, bevor sich die Tür gänzlich schloss, und schlüpfte hindurch.
…
»Doktor Sartorius, nehme ich an.« Eric ließ den Wiedergänger vor seiner Mündung nicht aus den Augen.
Der Besitzer der Stimme schnaubte belustigt. »Sie sind ein überaus scharfsinniger junger Mann, Mister van Valen.«
»Also sind Sie für das mörderische Treiben verantwortlich.«
»Zu scharfsinnig, möchte ich sagen. Unglücklicherweise.« Der Arzt trat in Erics Blickfeld und musterte die beiden Agenten wie das Ergebnis eines verunglückten Experiments. Dabei klopfte er sich mit einem Finger auf die welken Lippen. »Sehen Sie, Mister van Valen, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich hielt Sie bislang lediglich für eine kleine Unannehmlichkeit. Jedoch weisen Sie eine Hartnäckigkeit auf, die ich bewundern könnte, wenn sie nicht meine Arbeit behindern würde.«
»Ihre Arbeit, Sartorius?«, fragte Eric mit einer deutlichen Spur Sarkasmus.
»Ich vermute, der Doktor meint seine Forschungen an plasmierten Massenmördern, Sir«, ergänzte Mister Ferret.
»Soldaten«, korrigierte der Doktor. »Aber Mister Ferret hat recht. Wir arbeiten an verbesserten Versionen Ihres untoten Kollegen, Mister van Valen. An stärkeren, schnelleren, widerstandsfähigeren und – das möchte ich betonen – wesentlich gehorsameren Modellen.«
Sartorius war inzwischen neben den Wiedergänger an der Tür getreten und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter. Der Koloss bewegte sich um keinen Millimeter. »Darf ich Ihnen Ihre Enkel vorstellen, Mister Ferret? Das hier, meine Herren, ist die Zukunft. Keine Messingummantelungen, keine gläsernen Plasmatanks, keinen unzuverlässigen, eigenen Willen. Ihre Nachfahren haben ein Skelett aus Stahl, eine vollständige, integrierte Körperpanzerung und ein Plasmaaggregat, von dem Sie nicht zu träumen wagen würden. Wie Ihre alberne Demonstration so praktisch bewiesen hat, sind sie selbst mit schweren Waffen kaum aufzuhalten.« Der Arzt winkte den verletzten Wiedergänger zu sich. Die Schritte des Plasmierten waren mühselig und unsicher. Noch immer rann zähes, grellgrünes Plasma aus dem Loch an der Stelle, an der sich eigentlich sein Arm befinden sollte.
»Sehen Sie, im Grunde muss ich Ihnen sogar danken«, sagte Sartorius. »Sie haben mich durch ihre Mühen auf einige winzige Designschwächen hingewiesen, die uns bisher entgangen waren. Ein paar mehr Rückschlagventile dürften zum Beispiel nicht schaden, um den Plasmaverlust zu minimieren.« Er nahm eine chirurgische Klammer von einer der Ablagen, setzte sie in der zerstörten Schulter des Wiedergängers an und das grüne Rinnsal versiegte. Dann wandte er sich wieder Eric zu. »Und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Waffen niederlegen und sich mir ergeben würden. Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass unser Freund mit der Flechettewaffe dort drüben Sie in eine Wolke unansehnlicher Fetzen verwandeln wird, wenn Sie irgendeine Unüberlegtheit versuchen.«
Nach kurzem Zögern seufzte Eric und legte sein Gewehr auf den Tisch neben sich. »Sie haben gewonnen, Sartorius. Mister Ferret, bitte folgen Sie seiner Aufforderung.«
»Sir?«
»Ich denke nicht, dass uns die Waffen noch etwas nützen, Mister Ferret. Meinen Sie nicht auch?«
»Aber Sir!«
»Mister Ferret, glauben Sie, dass Sie mit all diesen Plasmierten zugleich fertig werden, ohne dass man uns dabei erschießt?«
»Wenn Sie es so formulieren, Sir: nein. Ich fürchte, Sie haben recht.« Widerstrebend ließ der dünne Mann sein Gewehr fallen.
»Sehen Sie, Mister van Valen, genau das habe ich gemeint«, mischte sich Sartorius ein. »Die modernen Modelle kommen nicht einmal auf die Idee, einer Anordnung zu widersprechen. Eine wesentliche Verbesserung, finden Sie nicht auch?«
Der Agent fixierte den Doktor eindringlich. »Sie scheinen ohnehin nicht sehr gesprächig zu sein.«
Sartorius seufzte. »Das ist das Problem, sofern man mit Leichen zu arbeiten gezwungen ist. Es ist so schwer, bereits im Verfall begriffene Sprachapparate in Funktion zu halten. Besonders bei derart weitreichenden Modifikationen, wie wir sie an ihnen vornehmen. Eine unbedeutende Schwäche, die wir in der nächsten Generation sicherlich ebenfalls beseitigt haben. Das Schöne ist allerdings, dass es ihre Fähigkeiten nicht im Geringsten behindert. Ich meine – was sollten sie zu erzählen haben?«
»Nun, es hat den Vorteil, dass sie uns nicht Ihren vollständigen Plan verraten«, gab Mister Ferret zu bedenken. »Selbst wenn sie blöd genug dafür wären, Sir.«
Sartorius lächelte schmal. »Das war unhöflich, Ferret. Aber weshalb sollte ich das nicht tun? Was habe ich denn zu verlieren? Folgen Sie mir bitte. Wo Sie schon mal hier sind, möchte ich Ihnen etwas zeigen.«
Eric wechselte einen fragenden Blick mit Mister Ferret, doch der dünne Mann zuckte nur unbehaglich mit den Schultern. Die Agenten beeilten sich, zu Doktor Sartorius aufzuschließen. Nicht nur, weil jetzt dicht hinter ihnen die beiden unbeschädigten Plasmierten marschierten.
»Da Sie so bereitwillig zu erzählen anfangen, Doktor«, sagte Eric, »würde ich gern eine Frage stellen.«
»Die Frage nach dem WARUM.« Sartorius winkte sie durch ein Sicherheitsgitter und verschloss es anschließend sorgfältig. »Ganz einfach. Profit. Profit und Patriotismus, wenn Sie so wollen. Der Krieg in den Kolonien kostet uns Millionen – und unzählige junge Männer, wie Sie es sind, Mister van Valen. Männer, die wir wesentlich besser hier in der Heimat brauchen könnten. Abgesehen von den Ärmsten werden die meisten Familien es außerdem leid, ihre Söhne zum Sterben an die Front zu senden. Gegen einen Gegner, der übrigens keinerlei Scheu hat, Untote unseren Truppen entgegenzuwerfen. Und wir? Wir hatten einen, einen einzigen bedauernswerten Unfall vor über fünfzehn Jahren und verbieten deshalb gleich eine komplette Technologie, die die Leben tausender Soldaten hätte retten können. Kurzsichtige, verweichlichte Politik und falsche Vorstellungen von Ethik!« Sartorius atmete tief durch und sammelte sich wieder. »Sehen Sie, mit einer genügend entwickelten Armee dieser Plasmierten haben wir die einmalige Chance in Händen, den Krieg in den Kolonien binnen weniger Monate für uns zu entscheiden. Können Sie sich ausmalen, was die Ministerien Ihrer Majestät für eine schnelle und gründliche Lösung dieses Problems zu zahlen bereit sind? Wir sind die, die diese Lösung haben!« Er lächelte zufrieden. »Wie gesagt: Patriotismus und Profit. Wir gewinnen den Krieg – und werden gut dafür bezahlt.«
»Das ist ausgesprochen aufschlussreich«, sagte Eric nach einem Moment. »Aber nicht das, was ich fragen wollte.«
»Tatsächlich?« Sartorius blieb stehen und musterte Eric verwirrt. »Ich dachte …«
»Was mich eigentlich interessiert ist, wie Sie der seltsamen Idee aufgesessen sind, dass Ihnen niemand auf die Schliche kommt?«
»Oh. Höre ich da ein ›Damit kommen Sie nie im Leben durch, Doktor‹?« Sartorius schmunzelte. »Sehen Sie, Mister van Valen, das ist das Brillante daran. In wenigen Stunden werden Tausende von Quexern aus allen möglichen Öffnungen der Kanalisation strömen und in den Straßen von Tanners Flat, Orums Lot und Gresey ein blutiges Massaker anrichten. Vielleicht wurden sie von jemandem dazu getrieben – aber wer will das schon nachprüfen, nicht? Das Entscheidende ist, dass die Polizeikräfte von Steamtown nicht darauf eingerichtet sind, einem derart massiven Angriff inmitten des Herzens der Stadt Einhalt zu gebieten. Genau in diesem Augenblick werden unsere Schöpfungen hier ihren großen Auftritt bekommen und für Ordnung sorgen. Wenn sie einmal bewiesen haben, wie gehorsam und überaus effektiv sie sind, wird niemand in irgendeinem Ministerium noch Fragen stellen. Umso mehr, als wir die Stadt damit vor einem Desaster gerettet haben. Und das zukünftige Einsatzgebiet unserer Produkte ohnehin nicht bei uns, sondern in den Kolonien sein wird.«
»Ein beeindruckend größenwahnsinniger Plan«, flüsterte Mister Ferret trocken. »Sind Sie allein darauf gekommen oder hatten Sie Hilfe von einem Ihrer Patienten?«
Sartorius ignorierte den Seitenhieb und grinste gut gelaunt. »Kommen Sie, Ferret. Auch Sie haben Ihren Teil dazu beigetragen. Ohne die Grundlagenforschungen an Ihrer Generation wären Ihre Enkel nicht das, was sie heute sind.«
»Maulfaule Idioten?«
Sartorius schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Perfekte Tötungsmaschinen.«
»Um all diesen Wahnsinn zu verschleiern, werden Sie jetzt Mister Ferret und mich töten? Das wird Ihnen nichts nützen. Die Polizei weiß bereits, dass wir hier sind.«
»Die Polizei, Mister van Valen? Sie meinen Ihren windigen Polizistenfreund McIntosh? Ich glaube nicht, dass ich mir darüber Sorgen machen muss. Man wird Sie und ihren plasmierten Kollegen mein Haus in positivster Stimmung verlassen sehen. Sie beide werden sogar höchstselbst bezeugen, dass im Asylum alles in bester Ordnung ist.«
»Das wage ich zu bezweifeln, Sir.«
»Mag sein.« Sartorius öffnete lächelnd eine weitere Tür und winkte Eric und seine Begleiter hindurch. Vor ihnen tat sich ein weitläufiges Labor mit mehreren Operationstischen auf. »Aber ich habe nicht behauptet, dass Sie eine Wahl haben werden, oder?«
…
Eric ließ seine Augen durch den Raum schweifen. Die meisten Tische und Arbeitsplätze lagen im Halbdunkel. Auf der gegenüberliegenden Seite des Labors spiegelte sich das Licht einiger Plasmalampen an der Decke auf Hochglanz polierten Metallplatten – und Instrumenten. Besonders der Anblick letzterer verursachte bei Eric ein unangenehmes Gefühl der Enge im Hals. Er schluckte. »Was …«
»Bitte, Sir«, unterbrach ihn Mister Ferret leise. »Fragen Sie nicht so etwas Abgedroschenes wie ›Was haben Sie vor?‹, Sir. Und ergänzen Sie es nicht mit: ›Sie sind ja wahnsinnig, Sartorius!‹ Die Antworten darauf sind offensichtlich und werden ihn nur zu diabolischem Kichern verleiten, Sir.«
Der Arzt warf dem dünnen Mann einen undeutbaren Blick zu.
Dann lächelte Sartorius humorlos. »Ich würde Ihren Versuch des Sarkasmus’ beinahe als gelungen bezeichnen, Ferret, wüsste ich nicht genau, dass ein Leichnam wie Sie, nicht wirklich zu so Subtilem fähig ist.« Er wandte sich an Eric. »Ihr Werkzeug hat aber in einem recht, Mister van Valen. Es dürfte auf der Hand liegen, wie die Antwort aussieht.«
»Das tut es«, sagte Eric düster. »Besonders die auf die zweite Frage. Damit …«
Sartorius hob eine Hand. »Bitte tun Sie uns allen den Gefallen und sagen Sie ebenfalls nichts wie: ›Sie wissen ja nicht, mit wem Sie es zu tun haben!‹ oder ›Das wagen Sie nicht!‹. Ersparen Sie uns diese langweiligen Plattitüden einfach. Denn ich werde es auch. Genauer gesagt habe ich es bereits. Mehrfach. Jetzt verschwenden wir bitte keine Zeit mehr.« Auf einen Wink des Doktors hin ergriff einer der Plasmierten den Agenten und warf ihn, bevor er die Chance zur Gegenwehr hatte, auf den nächsten Seziertisch. Ohne sich um die Anstrengungen Erics zu kümmern, presste er ihn auf den Tisch und schloss breite Messingbügel um seine Arme und Beine.
»Sartorius! Sie machen einen großen Fehler!«, brüllte Eric, während ihm der stumme Plasmierte einen Ledergurt um die Brust zog und damit seinem Aufbäumen Einhalt gebot.
Sartorius hob den Zeigefinger. »Ah. Sehen Sie, Mister van Valen, es gibt immer noch eine Phrase, die man vergessen hat. Das war sie.«
Mister Ferret nickte unwillkürlich, obwohl der Lauf der Flechette direkt auf seinen Hinterkopf gerichtet war.
»Also gut, Mister van Valen. Ich werde Ihnen, nur um dem Klischee Genüge zu tun, erklären, was als Nächstes folgt. Denn nicht nur Ferret hat eine fatale Neigung zu Pennie-Romanzen. Da mir in dieser Geschichte nun die Rolle des wahnsinnigen Schurken zugeteilt wurde, werde ich mich bemühen, Ihren Erwartungen gerecht zu werden.« Sartorius trat hinter Eric und legte ihm mit geübtem Griff einen weiteren Lederriemen um die Stirn. Durch schmale Schlitze in der Tischplatte zog er den Gurt stramm und presste damit Erics Kopf unverrückbar auf das kalte Metall.
Eric öffnete den Mund, um eine Reihe ausgesuchter Verwünschungen auszustoßen, doch alles, was er dadurch erreichte, war, dass ihm der Plasmierte einen Riemen zwischen die Zähne drückte. Was jeglichen artikulierten Protest des Agenten unterband.
Sartorius nickte zufrieden. »Danke, meine Herren. Sie dürfen mich jetzt mit Mister van Valen alleinlassen. Bringen Sie diese Einheit«, er deutete mit einem Kopfnicken auf Mister Ferret, »in Labor Nummer Zwei zu Doktor Orwill.« Er lächelte Mister Ferret spöttisch zu. »Sie erinnern sich doch noch an Doktor Orwill? Mein Kollege freut sich schon, Sie wiederzusehen und einen Blick unter Ihre Messinghaube zu werfen. Was fehlt Ihnen wohl am meisten, Ferret? Herz? Hirn? Oder doch Mut? Ich denke, wir werden es bald erfahren.«
Mister Ferret blinzelte. Einmal. »Ich werde Sie töten, Sartorius«, stellte er sachlich fest.
Der Arzt schnaubte und wandte sich ab. »Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von Ihnen sagen, Ferret. Leider werde ich in der nächsten Stunde mit Mister van Valen beschäftigt sein. Unglücklicherweise drängt die Zeit. Aber wer weiß«, er nahm eines der aufgereihten Skalpelle vom makellosen Leinentuch des Instrumententischs und begutachtete kritisch die Klinge, »vielleicht gönne ich mir dieses Vergnügen, wenn Ihre Nützlichkeit aufgebraucht ist. Und nun – fort mit euch.«
Die drei Plasmierten klemmten Mister Ferret zwischen sich und verließen in einem stummen Gleichschritt den Raum. Bevor sich jedoch die Türen ganz geschlossen hatten, hörte Eric ein letztes Mal die leise, trockene Stimme des dünnen Mannes.
»Keine Sorge, Sir. Ich bin gleich zurück.«
Doch so sehr er es wünschte, in diesem Moment mochte der Agent nicht so recht daran glauben. Er starrte die hagere Gestalt des Doktors an, der jetzt sorgfältig den Schliff eines gezahnten Knochenbohrers begutachtete.
Sartorius bemerkte seinen Blick und nickte. »Wir warten noch auf meinen Assistenten und dann kann es auch schon losgehen. Falls Sie sich jedoch fragen, warum ich Sie nicht einfach töte? Nun, das würde ich gern. Aber es würde meine Lage tatsächlich verkomplizieren. Ich weiß nur zu gut, wer Sie sind, mein ehrbarer, junger Freund. Vor allem ist mir bekannt, wer Ihr Vater ist. Deshalb würde Ihr Tod mehr Ärger verursachen, als er mir wert ist.« Schmunzelnd legte er den Bohrer beiseite und griff an die direkt über dem Tisch schwebende Hängelampe, um den Plasmabrenner weiter aufzudrehen. Mit einem Knistern wurde das Licht so grell, dass Eric gezwungen war, die Augen zu schließen.
»Einer der Vorteile in meiner Position ist, dass ich quasi einen unbegrenzten Vorrat an Studienobjekten habe. Ich besitze also eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was man mit einer winzigen Inzision an einem Stirnlappen Ihres Gehirns hier oder einer gezielten Ausschabung in jener Region dort bewirken kann.«
Eric fühlte das Klopfen eines knochigen Fingers auf verschiedenen Stellen seines Schädels. Er keuchte erstickt.
»Aus diesem Grund werden wir jetzt gemeinsam einen heilsamen Spaziergang durch Ihren Kopf machen. Keine Sorge, Mister van Valen«, der Arzt tätschelte ihm die Stirn, »in nicht einmal einer Stunde werden Sie sich wie ein neuer Mensch fühlen.«
Eric spürte heiße Panik in sich aufsteigen und riss vergeblich an seinen Fesseln.
»Ach, was sage ich: Sie werden ein ganz neuer Mensch sein. Wir könnten diesen heutigen Tag also fast als Ihren Geburtstag bezeichnen. Wir beide werden natürlich die besten Freunde sein und diese unglückliche Angelegenheit hier, das leidige Thema, einfach vergessen. Wie von Zauberhand.« Eric hörte, wie Sartorius mit den Fingern schnippte.
Und während das gleißende Licht der Operationslampe auf seinen Augenlidern brannte, gestattete sich der Doktor endlich, zwar leise nur, aber unverkennbar, ein kurzes Kichern.
…
Whiggs folgte den beiden Männern vorsichtig durch einen Gang von monströs wirkenden Maschinen. Manche waren gut drei, vier Meter hoch, andere eher flach, dafür mehrere Schritte lang. Von allen Seiten führten Rohre und Leitungen heran. Aus dem Halbdunkel des Hintergrunds, aus der beinahe nachtschwarzen Decke oder direkt aus dem Fußboden heraus. Kubische Behälter pumpten unter sachtem Rauschen und Zischen verschiedenfarbige Flüssigkeiten durch Glaskolben und Röhren in geriffelte Schläuche, die wiederum in den runden Öffnungen der Apparaturen verschwanden. Schwach beleuchtete Anzeigengläser präsentierten hektisch zitternde Nadeln, die auf rätselhafte Zahlenwerte deuteten. Whiggs konnte die summende Energie, die in der Luft lag, förmlich schmecken. Dieser Geschmack hinterließ einen abstoßend metallischen Film auf ihrer Zunge. Was war das nur für ein Raum? Was stellten sie mit diesen Gerätschaften an?
Sie fühlte sich in »Technomatopia« versetzt, einen literarischen Klassiker von Thomas Moreaus, der von einer von grausamen Maschinen beherrschten Gesellschaft erzählte. Diese Geschichte hatte sie als Kind geliebt – und zugleich gehasst, für die unbändige Angst, die sie ihr eingeflößt hatte. In dieser Halle sah es fast genauso aus, wie sie es sich damals in ihrer kindlichen Fantasie ausgemalt hatte. Ein eisiger Schauer kroch ihr über den Nacken.
Die Männer bogen um eine Ecke und verließen ihr Sichtfeld. Es fehlte nicht viel und sie hätte durch die Ablenkung beinahe den Anschluss verloren. Konzentrier dich gefälligst, herrschte sie sich in Gedanken an. Oder willst du in diesem Labyrinth umherirren, bis dich einer dieser Wahnsinnigen findet?
Whiggs raffte den bauschigen Rock, der sich mit seiner starren Krinoline für eine unauffällige Verfolgung als immer unpraktischer erwies, mit beiden Armen zusammen. So leise wie möglich huschte sie zu der Stelle, wo der Wissenschaftler und sein Begleiter die Richtung gewechselt hatten. Vorsichtig lugte sie um die Ecke eines mannshohen, grauen Kastens, der mit diversen Hebeln und Schaltern versehen war. Vor ihr tat sich ein kurzer, schmuckloser Gang mit einer einzelnen Tür auf. Die Männer öffneten sie und betraten den nächsten Raum. Schnell sprang Whiggs hinterher und hielt die Tür fest, bevor sie zurück ins Schloss fallen konnte. Nachdem die Schritte der Männer auf der anderen Seite beinahe verklungen waren, schlüpfte sie ebenfalls hinein.
Sofort umfing sie klirrende Kälte. Ihr Atem formte Dunstwolken vor ihrem Gesicht und sie ertappte sich beim inbrünstigen Gedanken an einen dicken Wintermantel. Warum in aller Welt gab es in einem Asylum eine Kältekammer dieses Ausmaßes?
Die Antwort auf ihre Frage eröffnete sich ihr fast im selben Moment. In dem mit Trennwänden unterteilten Raum standen mehrere Reihen Metalltische, auf denen unter Tüchern begraben Dutzende unförmige Körper aufgebahrt lagen. Leichen. Das mussten Leichen sein. So unglaublich viele. Das war niemals ein legales oder vom Ministerium abgesegnetes Vorgehen. Konnte es einfach nicht sein! Kaltes Entsetzen beschlich sie. Zögerlich hob sie einen Zipfel des Tuchs vom Tisch direkt neben ihr – und fuhr keuchend zurück.
Sie sah unmittelbar in die starren Augen einer toten Frau, der sorgfältig und umfassend die Schädeldecke entfernt worden war. Sie brauchte die jetzt fehlenden, braunen Haare nicht auch noch zu sehen, um die Tote zu erkennen. Agatha war kurz vor ihrem Aufbruch zur Oberfläche von einem Patrouillengang nicht zurückgekehrt. Ihre Leiche war nie gefunden worden. Wie die so vieler anderer.
Auf einmal wurde Whiggs klar, warum in den letzten Wochen und Monaten immer wieder Menschen aus Lethe spurlos verschwunden waren. Und wohin. Der Duke und mit ihm die meisten Bewohner ihrer Gemeinschaft waren davon ausgegangen, dass die aggressiven Quexer die Schuld dafür trugen. Doch dies hier … sie hob das nächste Tuch an und blickte in ein weiteres bekanntes Gesicht, auf dessen Augäpfeln winzige Eisblumen erblüht waren. Dienten die Quexer am Ende nur der Ablenkung? Gab es eine andere, viel erschreckendere Erklärung für das Verschwinden so vieler Tunnler? Konnte es tatsächlich sein, dass irgendjemand ihre Reihen als willkommene Quelle für namenlose Körper missbraucht hatte? All die Kinder, die plötzlich weg gewesen waren … Schlagartig wurde ihr übel und nur mühsam kämpfte sie den aufkommenden Würgereiz nieder. Sie zwang sich zu einigen tiefen Atemzügen. Dann eilte sie den beiden Männern hinterher, ohne sich noch einmal umzusehen.
Der nächste Raum war deutlich wärmer, obwohl auch hier eine niedrige Temperatur herrschte, die sie frösteln ließ. In der Nähe des Eingangs reihten sich Regale, gefüllt mit Kisten, Gläsern und medizinischen Gerätschaften, aneinander und boten ihr genügend Deckung. Vorsichtig schlich sie weiter, bis sich die Räumlichkeit öffnete und den Blick auf mehrere Metalltische freigab. Die beiden Männer hielten direkt auf den Einzigen davon zu, über dem eine einsame Hängelampe in gleißendem Licht strahlte.
Dort wurden sie von einer dritten Person begrüßt, einem hageren, grauhaarigen Mann in weißem Kittel. Der Grauhaarige wandte sich sofort wieder dem Tisch zu. »Da unsere kleine Gesellschaft nun komplett ist, können wir jetzt endlich beginnen.« Die klare, befehlsgewohnte Stimme klang deutlich bis zum Versteck der jungen Frau. Er griff nach einem blitzenden Instrument. »Ich hoffe übrigens, dass Sie eine gute Erklärung für Ihr verspätetes Auftauchen haben, Gernstet. Ich dulde derartige Säumigkeiten nicht.«
Der Wissenschaftler zuckte zusammen, als sei er geschlagen worden. Mit wortlosem Nicken nahm er seinen Platz neben dem Operationstisch ein.
Denn das war es, was Whiggs vor sich sah: ein speziell für medizinische Behandlungen ausgerüsteter Tisch, auf dem ein Körper festgeschnallt war. Ohne Zweifel ein menschlicher Körper. Was ging hier vor?
Der Grauhaarige, offensichtlich einer der Ärzte des Asylums, betätigte einen Hebel an der Seite des Operationstisches und das längliche, silbern glänzende Werkzeug in seiner Hand begann, ein surrendes Geräusch von sich zu geben. Langsam näherte sich das Gerät dem Gesicht des Patienten. Der Wachmann stand hämisch grinsend daneben, während Gernstet in eifriger Dienstbeflissenheit Tupfer, Messer und Knochensägen bereitlegte.
»Da Sie ja ein anscheinend ungebrochenes Interesse an meinen Unternehmungen gezeigt haben«, sagte der Grauhaarige, »gehe ich davon aus, dass Sie auch weiterhin jede Einzelheit verfolgen wollen. Daher verzichten wir in gegenseitigem Einverständnis auf eine Betäubung, mein Freund.« Er bedeutete dem Wachmann, auf der anderen Seite des Tisches Aufstellung zu nehmen. »Halten Sie ihn gut fest«, wies er den Mann an. »Wir möchten doch nicht, dass sich unser Patient verletzt. Also gut, Mister van Valen. Sind Sie bereit? Das wird jetzt ein kleines bisschen wehtun.«
Van Valen? Whiggs erschrak. Was hatte dieser Metzger mit ihm vor? Sie musste etwas tun. Ihn retten. Sofort!
Sie konnte sehen, wie sich Eric vergeblich dem Zugriff des Arztes zu entwinden suchte. Dicke Lederbänder fixierten ihn auf der metallischen Platte, so dass er keine Chance auf Befreiung hatte. Ohne zu zögern, stand sie auf, trat aus ihrem Versteck hervor und richtete die Hoegle auf die drei Anwesenden. »Aufhören!«
Der Wachmann reagierte stürmischer, als Whiggs es erwartet hatte. Blitzschnell riss er seine eigene Waffe aus dem Holster und feuerte aus derselben Bewegung heraus mehrere Schüsse in ihre Richtung. Um sie herum explodierten gläserne Boiler und Kisten und ließen einen Schauer aus scharfkantigen Splittern auf sie herabregnen.
Schnell zog Whiggs den Kopf ein und brachte sich hinter dem Regal in Sicherheit. Den Beschuss mit gleicher Münze zu beantworten wagte sie nicht, aus Angst, dass ein schlecht gezielter Schuss mit der explosiven Munition Eric treffen könnte. Irgendwo begann, eine Alarmglocke zu schrillen.
Whiggs erlaubte sich einen Blick durch einen Spalt im Regal und entdeckte den Wissenschaftler, der geduckt hinter einer Säule kauerte und wiederholt an einem Hebel riss. Das war nicht gut. Am Ende des Raums wurde eine Tür aufgestoßen und mehrere bullige Kerle in der Kluft von Pflegern oder Wachmännern stürmten herein. Pfleger und Wachmänner, dachte Whiggs grimmig. Die eine Sorte schwang bösartig aussehende, schwarze Schlagstöcke, während die anderen Schusswaffen zogen und ihr Versteck nun ebenfalls mit Plasmaladungen eindeckten.
Whiggs fluchte. Sie saß in der Klemme. Anstatt Eric zu retten, hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht.
Ein Schuss verfehlte sie um Haaresbreite. Das Projektil zerspritzte dicht neben ihrer Wange und die Splitter rissen unangenehme Wunden in ihre Haut. Der körperliche Schock ließ sie laut aufschluchzen. In ihrer Verzweiflung tat sie das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel. Sie kroch tiefer in die Deckung der Regale zurück, schloss die Augen und griff nach den unsichtbaren Strömen des Plasmas.
In einem wahren Funkenregen explodierten die Plasmalampen an der Decke und hüllten den Raum in undurchdringliche Dunkelheit.