Kapitel VIII
Plasmafeuer
Langsam aber unerbittlich senkte sich der Bohrer auf Eric herab. Huffington & Brown. Fünf Millimeter, Diamantspitze, mit unabhängiger Plasmaversorgung für den mobilen Einsatz – bohrt Löcher in Stahl, als wäre es Butter. Ein wirklich fantastisches Gerät. Der Agent hatte es während seiner medizinischen Grundausbildung einmal selbst ausprobieren dürfen. Was einem so alles durch den Kopf ging, bevor …
Was einem was? Wie überaus passend. Eric lachte auf.
Doktor Sartorius amüsierte sich nicht. »Halten Sie gut fest«, wies er den Mann neben sich an. »Wir möchten doch nicht, dass sich unser Patient verletzt. Also gut, Mister van Valen. Sind Sie bereit? Das wird jetzt ein kleines bisschen wehtun.«
Plötzlich war von irgendwoher ein entsetzter Ausruf zu hören. »Aufhören!« Sekunden später brach die Hölle los. Schüsse peitschten durch den Raum, Explosionen erschütterten die Einrichtung und eine Alarmglocke begann zu schrillen. Doktor Sartorius schien das alles nicht zu kümmern. Nach einem eher verärgert als überrascht wirkenden Zusammenziehen der Augenbrauen setzte er unbeeindruckt seine Arbeit fort. Der Bohrer in seiner Hand rotierte immer schneller und schließlich trennten die Spitze nur noch wenige Zentimeter von Erics Stirn.
Erst ein ohrenbetäubender Knall ließ Sartorius innehalten. In einem Funkenregen explodierten sämtliche Plasmalampen an der Decke und hüllten den Raum in tiefe Dunkelheit. Pfleger und Wachmänner riefen wild durcheinander. Schlag auf Schlag knallten weitere Schüsse durch die Finsternis und erhellten für Sekundenbruchteile das entstandene Chaos. Irgendwer brüllte vor Schmerzen. Eine Gestalt stolperte inmitten des Blitzlichtgewitters, drehte sich wie in Zeitlupe um sich selbst und brach zusammen.
Eric hatte es in all dem Tumult beinahe nicht bemerkt, doch dann stellte er fest, dass er seine Arme und Beine wieder benutzen konnte. Die stählernen Fesseln waren offenbar an die allgemeine Plasmaversorgung des Gebäudes angeschlossen gewesen und hatten sich durch den Stromausfall von allein entriegelt. Eine äußerst kurzsichtige Konstruktion, wie der junge Agent fand – aber nützlich. Sofort riss er die Hände hoch, schnappte an der Stelle zu, wo er den Bohrer das letzte Mal gesehen hatte und presste ihn mit einem ruckartigen Stoß zur Seite. Ein ersticktes Gurgeln zeigte ihm an, dass er jemanden getroffen hatte. Er drückte mit aller Kraft weiter, bis der Bohrer sich verkantete und das Gurgeln unvermittelt abbrach. Erst dann ließ er los, tastete rechts neben sich nach dem Rolltisch, auf dem die Skalpelle aufgereiht lagen. Als seine Hand das Metall eines Griffs spürte, packte er zu und zog ihn in einer kreisförmigen Bewegung nach oben. Erneut traf er auf Widerstand und hörte mit Genugtuung einen überraschten Schmerzensschrei. Schnell drehte er das Skalpell nach unten und begann, in aller Hast an den ledernden Riemen zu schneiden, die seine Brust fixiert hielten. Doch die stellten sich als überraschend widerstandsfähig heraus. Die scharfe Klinge schien kaum Schaden anzurichten.
»Licht!«, donnerte jemand ganz in seiner Nähe, und Eric meinte, die Stimme des Doktors zu erkennen. »Verdammt noch mal, sorgen Sie für Licht! Und töten Sie dieses Weibsstück. Jetzt!«
Eric verdoppelte seine Anstrengungen, sich von den Fesseln zu befreien. Fesseln, die dazu gedacht waren, rasende Irre festzuhalten, die selbst in ihrem friedlichsten Zustand weit stärker waren als er. Er spürte, wie die Hand, die das Skalpell führte, zu zittern begann. Nur mit Mühe rang er die aufsteigende Panik nieder und zwang sich, ruhiger zu atmen. Es musste doch möglich sein …
Ein grünlicher Schein zog seine Aufmerksamkeit auf sich und er schielte, soweit es sein fixierter Kopf zuließ, in den Raum hinein. Er brauchte einen Moment, bis er die Quelle des Flimmers zuordnen konnte: Aus den zerstörten Lampenzuleitungen an der Decke tropfte Plasma heraus. Im Gegensatz zu normalem Beleuchtungsplasma glomm dieses, ohne zu brennen, in einem unheimlichen, geradezu giftigen Grün. Fasziniert sah Eric, wie einer dieser Tropfen zu einem längeren Faden wurde.
»Na also«, murmelte Sartorius und wandte sich wieder Eric zu. »Aber, aber, Mister van Valen. Was haben Sie mit dem Skalpell vor?« Kopfschüttelnd griff er nach Erics Unterarm.
In diesem Augenblick löste sich der Plasmafaden und fiel. Mit einem leisen Klatschen landete er auf dem Handrücken des Doktors. Fast sofort stieg der unangenehme Geruch von schmorendem Leder auf.
Mit einem Brüllen sprang Sartorius zurück und wischte die Hand an seinem Gehrock ab. Zeitgleich schrie einer der Wachmänner auf, gleich darauf ein zweiter und dann ein dritter. Innerhalb weniger Sekunden wurde der Saal erneut von Lärm beherrscht. Dieses Mal waren es jedoch keine Schüsse, sondern Flüche und Schmerzensschreie. Panisch suchten die Wachleute Schutz unter den Tischen oder flüchteten in Richtung Ausgang. Soweit Eric das aus den Augenwinkeln erkennen konnte, war zumindest die Hälfte von ihnen zusammengebrochen und wand sich schreiend auf dem Boden, während sich das leuchtende Plasma durch ihre Gesichter und Schädel fraß. Der Gestank von brennendem Fleisch erfüllte die Luft.
Mit einem neuerlichen Fluch taumelte Sartorius gegen den Operationstisch. Er fegte Klingen, Bohrer und Besteck von dem metallenen Tablett und riss es gerade noch rechtzeitig über seinen Kopf, um die herabfallenden Tropfen abzuwehren. Als er aus Erics Blickfeld stolperte, beachtete der Agent ihn schon nicht mehr. Er hatte in diesem Moment einen weiteren Plasmafaden entdeckt, der sich an der Decke sammelte und anschickte, auf ihn niederzugehen. Ein großer, klebrig grüner Tropfen, der unausweichlich auf seiner Stirn landen würde.
…
Ein Schatten wuchs an seiner Seite hoch. Reflexartig riss Eric das Skalpell nach oben. Selbst wenn der Plasmatropfen ihn in Kürze umbringen sollte, würde er sein Leben noch so teuer wie möglich verkaufen.
»Nicht, Eric! Ich bin es.«
Das Skalpell stoppte nur wenige Zentimeter vor Whiggs’ Gesicht. Behutsam drückte sie es zur Seite und löste die Gurte, die Erics Mund und Kopf fixiert gehalten hatten.
»Gottseidank, Whiggs!«, rief der Agent erleichtert aus, als er wieder sprechen konnte. »Gut, dass Ihnen nichts passiert ist.« Doch dann fiel sein Blick zurück zur Decke und dem grünlich leuchtenden Tropfen, der sich allmählich von ihr zu lösen begann. »Schnell, die anderen Riemen! Ich muss von diesem Metzgertisch herunter, bevor mir das Plasma eine dritte Augenhöhle verpasst.«
Mit zitternden Fingern nestelte Whiggs am Verschluss des breiten Brustriemens herum. Sie war angeschlagen, völlig ausgelaugt von der großen körperlichen Anstrengung, die ihr sämtliche Energie geraubt hatte. Ihr gelang es kaum, die Hände unter Kontrolle zu bekommen. Währenddessen senkte sich der Plasmatropfen langsam aber unerbittlich herab.
Gerade als sie den letzten Zentimeter des Riemens durch die metallene Schlaufe drücken wollte, griff ein Paar Hände nach ihr und zog sie vom Tisch fort. Mit einem Aufschrei klammerte sie sich an den Lederriemen, zerrte und riss … und bekam ihn auf, bevor sie endgültig aus Erics Gesichtsfeld verschwand.
Eric warf den Oberkörper nach vorn. Mit einem widerlichen Zischen traf der Plasmatropfen auf die metallene Oberfläche des Operationstischs und begann sofort, Blasen zu werfen. Erics Augen suchten nach Whiggs und fanden sie im Klammergriff eines irre dreinblickenden Wachmanns. Trotz einer üblen Plasmaverbrennung am Kopf ließ sich der Kerl nicht davon abbringen, Sartorius’ letzten Befehl in die Tat umzusetzen. Er hatte die junge Frau zu Boden geworfen und drückte ihr mit beiden Händen die Kehle zu. Die Hoegle war ihr entglitten und außerhalb ihrer Reichweite gerutscht.
In fieberhafte Eile löste Eric die verbliebenen Lederriemen um seine Oberschenkel, schwang sich vom Tisch und versetzte dem Wachmann einen beidhändig geführten Schlag in den Nacken. Mit einem Keuchen brach der Mann über Whiggs zusammen und begrub sie unter sich.
Als seine schlaffen Hände vom Hals der Emanatin rutschten, hustete sie gequält auf. »Schaffen Sie doch diesen Fleischberg von mir herunter. Ich bekomme ja kaum noch Luft.«
Eric zerrte an der Uniform des Mannes und wuchtete den Ohnmächtigen zur Seite. Dann half er Whiggs auf die Beine. Die fallengelassene Hoegle steckte er ein. »Wir müssen sofort raus. Der Plasmaregen frisst sich durch alles hindurch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ebenfalls getroffen werden.«
»Es hört gleich auf.«
Eric fragte nicht, woher die Emanatin das wusste. Er hatte bereits so seine Ahnung. Umso mehr Eile war geboten, denn falls sich die Wachmänner erneut formierten und zum Angriff übergingen, saßen sie wirklich in der Klemme. Er ging nicht davon aus, dass man sie auch nur eine Sekunde am Leben lassen würde, wenn man sie von neuem erwischte. Außerdem hatten sie noch etwas zu erledigen … Er griff nach Whiggs’ Arm und zog sie mit sich in Richtung Eingang. »Kommen Sie! Wir müssen Sartorius hinterher. Er beabsichtigt, mehr von den Plasmierten einzusetzen. Sollte ihm das gelingen, ist alles verloren.«
An der Tür hielt Whiggs an und streckte fordernd ihre Hand aus. »Geben Sie mir die Hoegle. Ich decke unsere Flucht.«
»Kommt nicht infrage«, antwortete Eric entrüstet. »Ich lasse Sie hier nicht allein zurück. Das wäre Ihr sicherer Tod!«
Die Emanatin schüttelte lächelnd den Kopf. »Wer sagt denn, dass ich zurückbleiben werde?« Sie nahm dem verdutzten Agenten die Waffe aus der Hand und richtete sie auf den Bereich des Operationsraums, in dem immer noch Wachmänner und Pfleger unter den Tischen Schutz vor dem ätzenden Plasmaregen suchten. Ungerührt drückte sie ab.
Das Geschoss raste quer durch den Raum und explodierte in einem beeindruckenden Feuerball direkt zwischen den Regalen. Die Druckwelle war so stark, dass sie brennendes Holz meterweit durch die Luft schleuderte und sogar die schweren Metalltische verschob.
Erschrocken zuckte Eric zusammen. »Um Himmels willen! Seit wann hat die Hoegle so eine Wirkung?«
»In Ihrer Ausbildung hat man Sie wohl nur selten auf konzentrierte Plasmakammern schießen lassen, oder?« Mit einem charmanten Lächeln gab Whiggs die Waffe zurück. »Könnte daran liegen, dass die meisten Menschen den Unterschied zwischen normalem und konzentriertem Plasma nicht erkennen können. Aber dafür wurden vermutlich diese gelben Symbole mit dem grünen Kreis auf die Druckkammern gemalt. Man findet sie ab und zu in den Versorgungsschächten unter den Hauptstraßen der Stadt. Wenn Sie mal wieder so ein Symbol entdecken, probieren Sie es aus. Es macht ziemlich viel Spaß.«
Eric sah zurück auf das brennende Chaos und schüttelte den Kopf. »Sie sind voller Überraschungen, Whiggs. Danke für den Hinweis. Ich werde es mir merken.«
…
Fluchend schleuderte Doktor Sartorius das Blechtablett zu Boden, noch bevor sich der dampfende Plasmatropfen ganz hindurch gefressen hatte. Neben ihm hatten sich zwei Wachmänner aus ihren Uniformjacken geschält und die verätzten Kleidungsstücke von sich geworfen. Auf der Wange des einen und der Schulter des anderen hatten sich große, wässrige Blasen gebildet.
»Was beim Himmel war das, Doktor?«, verlangte einer der beiden zu wissen.
Sartorius ignorierte ihn. Er zog ein Einstecktuch aus seinem Anzug, wickelte es fest um die Brandwunde auf seinem Handrücken und marschierte zum Sprechrohr neben der Tür. Mit einer wütenden Handbewegung entfernte er den Verschluss.
»Sartorius hier. Schicken Sie mehr Männer nach B4 und schalten sie die Plasmaleitung dort ab! — Richtig. Und dann senden Sie nach Doktor Orwill, Doktor Fryer und ihren Assistenten. Sie sollen so schnell wie möglich ins Labor ZA-3 eilen. — Was? Nein! Der Zeitplan ist soeben verkürzt worden. Sagen Sie Ihnen, dass wir in einer halben Stunde beginnen. — Das ist mir völlig egal. Tun Sie es einfach. Und zwar auf der Stelle, Sie Idiot!« Er rammte das Mundstück zurück in seine Halterung. Anschließend wandte er sich an die Wachleute.
»Sie da. In wenigen Augenblicken wird Verstärkung eintreffen. Sichern Sie diesen und alle anderen Ausgänge aus diesem Raum. Und damit meine ich ausdrücklich: Erschießen Sie jeden, der durch diese Türen kommt. Und Sie«, er richtete seine Aufmerksamkeit auf den zweiten Wachmann, »kommen mit mir.« Brüsk drehte er sich um und marschierte den Gang hinab. Die flackernden Plasmaröhren in der Decke gaben ihm das beunruhigende Aussehen eines der gefährlicheren Insassen dieser Einrichtung.
Die beiden Wachleute wechselten unsichere Blicke, wagten es jedoch nicht, zu widersprechen. Stattdessen zogen sie ihre Waffen.
…
Als nur wenig später die Tür des Saals ein weiteres Mal aufgestoßen wurde, fielen keine Schüsse. Ein Dutzend stöhnender oder bewusstloser Wachleute bedeckte den Boden des Gangs. Mehr als einer blutete aus hässlichen Platzwunden und die unnatürliche Lage verschiedener Gliedmaßen deutete auf schmerzhafte Knochenbrüche hin. Mister Ferret richtete sich auf und ließ den lederumwickelten Schlagstock fallen. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Es machte ihn wie gewöhnlich nicht attraktiver.
»Mister Ferret!«, rief Eric aus. »Wie … was tun Sie hier?«
»Mister van Valen, Miss Taversham. Ich bin erfreut, Sie zu sehen. Ich hatte befürchtet, mehr Schwierigkeiten zu haben, Sie zu finden, Sir.« Der dünne Mann rückte seinen Bowler gerade. »Aber wie ich bemerken darf, können sie beide gut auf sich selbst achten.« Er warf einen nicht zu deutenden Blick in den dunklen Operationssaal, aus dem das Stöhnen Verwundeter drang.
Whiggs zuckte mit den Schultern und schloss die Tür. »Ich bin nicht wehrlos, falls Sie das meinen.«
Eric musterte das außer Gefecht gesetzte Empfangskommando auf dem Gang. »Was ist hier passiert?«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, hatten die Herren vor, an dieser Position jemanden mit einem unangenehmen Sperrfeuer zu empfangen, Sir. Zumindest sah es ganz danach aus. Da ich vermute, dass sich mit Ausnahme von uns keine anderen Eindringlinge im Asylum befinden, hielt ich es für angebracht, mich um diese kleine Unannehmlichkeit zu kümmern.« Abwesend wischte Ferret über die schmierigen Plasmareste einiger Hoegle-Projektile, die seinen Mantel verunzierten. »Es ist eigentlich erstaunlich, dass diese Wachmänner nicht besser ausgerüstet sind, wenn man bedenkt, dass hier Plasmierte herumstreifen, Sir.«
Eric nickte langsam, während er versuchte, die Erklärungen von Mister Ferret zu verdauen. »Wo Sie die gerade erwähnen – was ist aus Ihren drei Begleitern geworden? Sind sie …«
»Unsere Freunde sind leider wohlauf, Sir«, sagte Mister Ferret trocken. »Aber sie mussten feststellen, dass die Stahlverstärkungen ihrer Skelette nicht in jeder Situation eine Verbesserung darstellen. Zumindest nicht, wenn man sich im Umfeld von mannshohen Magnetspulen befindet, die sich mit einem simplen Hebeldruck aktivieren lassen. Man könnte sagen, dass sie sich von dieser neuartigen Technologie regelrecht angezogen fühlen. Ich hingegen bin da ein wenig altmodischer.« Er klopfte auf seine Brustplatte. »Messing«, fügte er hinzu.
»Man kann jedenfalls nicht behaupten, dass Sie zum alten Eisen gehören, Mister Ferret«, grinste Eric breit.
»Danke, Sir.«
Die Deckenlampen flackerten abermals und die Drei warfen einen beunruhigten Blick nach oben.
»Stahlverstärkungen im Skelett?« Whiggs sah verständnislos zwischen den beiden Agenten hin und her.
»Plasmierte«, erklärte Eric. »Von der Art wie jener, der Ihren Onkel auf dem Gewissen hat. Sartorius stellt sie her. In großer Stückzahl, wie wir erfuhren.«
»Es gibt mehr als eines dieser Monster?« Whiggs sah ihn entgeistert an.
»Wir sind gleich drei weiteren begegnet«, nickte Eric zustimmend. »Sie wurden wie Mister Ferret modifiziert – doch in weit höherem Umfang. Auch wenn sie offensichtlich einige Konstruktionsschwächen haben.«
»Die Wunder des Magnetismus, Miss Taversham«, sagte Mister Ferret. »Ich fürchte jedoch, dass die Schwankungen im Plasmafluss die Magnetspulen nicht stabil laufen lassen. Irgendetwas scheint die Versorgung stark in Mitleidenschaft gezogen zu haben.«
Whiggs hatte den Anstand, betreten zu wirken. So betreten, dass Eric sich verpflichtet fühlte, ihr beizuspringen. »Miss Ta … Whiggs hat sich ganz hervorragend gehalten. Ich verdanke ihr mein Leben.«
»Daran zweifle ich nicht, Sir. Ich gehe nur davon aus, dass wir aus diesem Grund schon bald wieder mit unseren drei Freunden zusammenstoßen werden, Sir.«
»Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt«, warf Whiggs trotzig ein. Sie beugte sich hinab und nahm einem der Wachmänner die Hoegle aus der schlaffen Hand.
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, Whiggs!«, versuchte Eric zu beschwichtigen.
»Natürlich nicht«, sagte der Wiedergänger und hob eine unhandlich und schwer aussehende Gerätschaft auf, die Eric erst auf den zweiten Blick als Schusswaffe identifizierte. »Es war ohnehin damit zu rechnen, dass mein kleines Fluchtmanöver mir nicht viel Vorsprung verschaffen würde. Deshalb war ich so frei und habe mir aus einem der Labore das hier geliehen.«
»Ah.« Eric musterte die Waffe argwöhnisch. Sie ähnelte keinem ihm bekannten Modell. »Und was ist das?«
»Was Sie gewollt haben, Sir. Eine größere Waffe.« Mister Ferret klopfte sanft auf den Lauf des klobigen Gewehrs, sofern es denn eines war. Dann zuckte er mit der linken Achsel und schulterte die Waffe. »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was es genau ist, Sir. Es scheint sich um einen Prototyp zu handeln. Die Æther-Radiationsröhren mit den ungewöhnlichen drei Oszillationskammern deuten auf mehr als genügend Feuerkraft hin, um auch einen meiner Enkel zu stoppen. Ich denke also, er kann uns noch nützlich sein, Sir. In der Annahme, dass dieses Gerät ausreichend getestet wurde.«
»Gut und schön, meine Herren«, unterbrach Whiggs. »Aber könnten wir uns jetzt auf das Wesentliche konzentrieren? Uns läuft die Zeit davon.«
Eric riss sich vom Anblick der seltsamen Waffe los. »Entschuldigen Sie, Sie haben natürlich vollkommen recht. Wir müssen Sartorius finden und aufhalten.«
»Was?« Whiggs starrte Eric verblüfft an. »Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir von hier verschwinden und Ihre Freunde von der Polizei benachrichtigen!«
Eric und Mister Ferret sahen sich an. Dann schüttelten beide den Kopf.
»Nein, Miss«, sagte der dünne Mann. »Sartorius will in Kürze die übrig gebliebenen Quexer der Kanalisation auf die Straßen treiben. Es sieht so aus, als sei er auch für Ihr Problem in Lethe verantwortlich.«
»Nachdem wir ihm derart lästig geworden sind, wird er sein Vorhaben beschleunigen, fürchte ich«, ergänzte Eric. »Deshalb ist es von höchster Dringlichkeit, ihn so schnell wie möglich festzusetzen.«
»Aber wie wollen Sie ihn finden, verdammt noch mal?«
»Das ist eine gute Frage.« Mister Ferret betrachtete nachdenklich die auf dem Boden verstreut liegenden, stöhnenden Wachleute. Dann sah er auf und blickte Eric an. Seine ausdruckslosen, schwarzen Nagetieraugen blinzelten.
Einmal.
…
Aus der Deckung eines abgetrennten Lagerbereichs beobachteten die drei Eindringlinge das Geschehen. Im Halbdunkel türmten sich unzählige Kisten bis fast unter die Decke des riesigen Kellerraums. Sie hatten Sartorius im weitverzweigten Labyrinth der Asylumkeller nicht finden können. Stattdessen waren sie auf das hier gestoßen.
»Schaut, dort drüben«, flüsterte Whiggs und deutete auf eine Gruppe Wissenschaftler, die sich um eine geschäftig tuckernde Apparatur versammelt hatten. Schwengelartige Arme aus Metall fuhren an ihr grotesk abwechselnd nach oben und nach unten. »Ich glaube, sie pumpen das Wasser aus diesen Dingern!«
Der Anblick der in ihren aus Kupfer, Bronze und dickem Glas gefertigten Gefängniszellen schwimmenden Wiedergänger hatte beinahe etwas Friedfertiges an sich. Es schien, als würden sie schlafen. Doch als ihnen die Flüssigkeit nur noch bis zu den Schultern reichte, öffneten sie die Augen. Einer nach dem anderen.
»Das ist kein Wasser, Miss.« Mister Ferrets Stimme klang wie das Rascheln trockener Blätter. »Diese Zylinder sind mit Plasma gefüllt, Miss. Schmeckt scheußlich.« Es war in der Finsternis nicht genau zu erkennen, aber Eric hatte den Eindruck, als würde der dünne Mann erschauern. »Dieses Zeug ernährt sie und macht sie schläfrig. Sobald es fort ist, werden sie aufwachen.«
»Warum zerschießen wir die Pumpe nicht einfach?«, schlug Whiggs vor.
»Das wird sie bremsen«, sagte Eric, »jedoch nicht aufhalten. Wahrscheinlich haben sie noch etliche Ersatzpumpen auf Lager. Außerdem sehen die Dinger ziemlich stabil aus. Wenn wir sie nicht mit dem ersten Treffer zerstören, werden wir keine zweite Chance bekommen. Die Wachen werden uns die Hölle heißmachen.«
»Wenn das Plasma in diesen Tanks ist, könnte ein Volltreffer mit Ihrer Hoegle …«
»Nein, Miss.« Mister Ferret schüttelte bedauernd den Kopf. »Dafür ist es nicht konzentriert genug. Es würde nicht einmal brennen.«
Eric musterte den Wiedergänger. Dann deutete er auf dessen neu erworbene Waffe. Fragend zog er eine Augenbraue in die Höhe.
Mister Ferret folgte seinem Blick. »Nein. Wir wissen nicht genau, was sie tut. Wir sollten sie wirklich für einen Notfall aufsparen.«
»Sie wollen es erst in einem Notfall herausfinden?« Eric hob die Augenbraue ein Stück höher und ein dünnes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.
»Sir, ich meine …«
»Schon in Ordnung, Mister Ferret. Wir werden einen anderen Weg finden.«
Die drei verfielen erneut in grübelndes Schweigen. »Was Sie vorhin mit diesem Wachmann gemacht haben, Mister Ferret«, wisperte Eric nach einigen Momenten, »das war …«
»Es war das einzig Sinnvolle, Sir.«
»Natürlich. Dennoch, es war … ungewöhnlich. Woher wussten Sie, dass das funktionieren würde?«
»Sir, ich habe selbst als Wachmann gearbeitet. Die Bezahlung ist nicht so gut, wie man eigentlich annehmen sollte. Und wenn man vorher zusammengeschlagen wurde, dann braucht es nicht mehr allzu viel Motivation, um zur Kooperation überredet zu werden, Sir.«
»Wenn Sie es sagen, Mister Ferret.« Eric schüttelte den Kopf und starrte zu den drei Dutzend Tanks, die bereits zu einem Drittel leer gelaufen waren. »Aber … das müssen beinahe zwei Monatsgehälter gewesen sein.«
Der Plasmierte zuckte mit der Schulter. »Ich habe keine hohen Lebenshaltungskosten, Sir.«
Whiggs kicherte.
»In Ordnung.« Der Agent schaute sich nachdenklich um. Seine Finger klopften nervös auf dem Holz der Kisten herum, hinter denen sie sich verborgen hielten. Zufällig fielen ihm die Buchstaben ins Auge, die mit groben Kohlestrichen auf die Deckel der Behälter geschrieben waren. Das Klopfen hörte auf. »Die Pumpe, die das Plasma aus den Tanks saugt, sieht aus wie ein einfacher Volbert-Heber. Das heißt, sie funktioniert in beide Richtungen, richtig? Wenn es uns gelingen würde, an sie heranzukommen, könnten wir den Prozess vielleicht umkehren.«
»Das würde sie eine Weile beschäftigen«, sagte Mister Ferret, »aber nicht aufhalten, Sir. Ihre Worte.«
Eric lächelte. »Erinnern Sie sich an unser Intermezzo mit dem Wiedergänger auf dem Dach des Asylums?« Seine Hand tätschelte liebevoll das Holz der Kiste.
Mister Ferrets Blick folgte der Bewegung und blinzelte. Einmal.
»Wir müssen uns nur noch darum kümmern, dass die Wissenschaftler und ihre Kettenhunde uns dabei nicht im Weg stehen.«
»Ich denke, das kann ich arrangieren, Sir«, stimmte Mister Ferret zu. »Ich habe ein Händchen für so etwas. Vertrauen Sie mir.«
»Hervorragend. Würden Sie im richtigen Augenblick wieder für die nötige Dunkelheit sorgen«, wandte Eric sich an Whiggs, »damit wir uns ungestört an die Arbeit machen können?«
Die Emanatin sah von einem zum anderen. In ihren Augen glitzerte ein keckes Funkeln auf. »Ich weiß zwar beim besten Willen nicht, was Sie vorhaben, aber ich werde mein Möglichstes tun.«
»Ich bin mir sicher, das werden Sie, Whiggs.« Eric lächelte kurz. «Also gut. Bei der Schlagrate der Pumpen benötige ich mindestens zehn Minuten, wenn das funktionieren soll. Wir sollten sofort anfangen.« Ein Seitenblick sagte ihm, dass die Tanks mittlerweile zur Hälfte geleert waren. »Sobald die Ersten rauskommen, haben wir keine Chance mehr, sie zu stoppen. Whiggs, machen Sie sich bereit. Mister Ferret wird Ihnen ein Zeichen geben, wenn es Zeit ist.« Er atmete tief durch, wuchtete sich die offensichtlich schwere Kiste auf die Schulter und verschwand in der Finsternis der Lagerhalle.
Einige lange Augenblicke sahen Whiggs und Ferret schweigend zu, wie die grünliche Flüssigkeit weiter aus den beleuchteten Tanks lief. Eine Handvoll Wissenschaftler eilte geschäftig zwischen ihnen auf und ab, las Anzeigen und Skalen ab und notierte Dinge.
»Miss Taversham«, flüsterte Mister Ferret. »Als ich sagte, ich hätte ein Händchen dafür, war das nur halb richtig.«
Alarmiert horchte Whiggs auf und quittierte Mister Ferrets Worte mit einem fragenden Ausdruck in ihrer Miene.
Der Wiedergänger hob mit der Linken seinen schlaffen, rechten Arm und ließ ihn wieder fallen. »Ich könnte eine zusätzliche helfende Hand gebrauchen.«
Whiggs schluckte. »Was soll ich tun?«
Mister Ferret streckte ihr den gesunden Arm entgegen. »Zuerst müssen Sie meine Manschette öffnen, Miss.«
…
»Was haben Sie vor, Mister Ferret?« Whiggs schaute den Wiedergänger mit einem leichten Anflug von Misstrauen an. Der dünne Mann war ihr immer noch nicht ganz geheuer, obwohl sie zugeben musste, dass er seine Fähigkeiten bislang voll und ganz in den Dienst des Agenten gestellt hatte. Allerdings begründete das nach ihrem Tunnlerverständnis nicht unbedingt blinden Optimismus. Wer konnte schon hinter die grundlosen, schwarzen Augen eines Plasmierten sehen? Was, wenn er doch lieber seine Nachfahren schützte, als für ihre Sache zu kämpfen?
»Sie können mir vertrauen, Miss Taversham, oder es lassen. Das ändert nichts an meiner Loyalität gegenüber Mister van Valen.«
Er hatte ihre Gedanken gelesen, erkannte Whiggs erschrocken. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass so etwas ebenfalls zu den Fähigkeiten eines Wiedergängers gehörte. Blödsinn, jetzt siehst du bereits Gespenster, schalt sie sich selbst. Wahrscheinlich hatte er einfach nur ihren Blick richtig gedeutet.
»Die Manschette. Bitte.«
Sie zögerte noch einen Moment, haschte dann aber nach dem dargebotenen Arm. Mit schnellem Griff hatte sie die Manschette geöffnet und den Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt. Darunter kam ein dürrer, trockener Arm zum Vorschein, an dem eine simple Apparatur aus Messing angebracht war. »Was ist das, Mister Ferret?«
»Sie können es meine kleine Lebensversicherung nennen, sofern Sie möchten, Miss Taversham. Auch wenn Leben in meinem Fall … nun ja, Sie wissen schon. Jetzt kommen Sie bitte. Wir müssen näher heran, fürchte ich.«
»Näher?« Whiggs runzelte die Stirn. Das würde bedeuten, die Deckung zu verlassen. Abgesehen von einigen, steinernen Säulen befand sich nichts zwischen ihrem Versteck und der hektischen Betriebsamkeit auf der anderen Seite der Halle.
»Näher, Miss«, bestätigte Mister Ferret. »Mein Spielzeug hier ist ausgesprochen nützlich und effektiv. Jedoch nicht über größere Entfernungen als etwa zwanzig Schritte. Wir sollten daher so weit wie möglich vordringen. Trauen Sie sich das zu, Miss? Ohne Sie kann ich das leider nicht tun.«
Einen Moment lang rang Whiggs mit sich selbst. Dann seufzte sie und stimmte zu. »Also gut, Ferret. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.«
Mister Ferret knickte die linke Hand nach unten ab und mit einem leisen Klicken schob sich ein kurzes Rohr aus der Apparatur. »Wenn wir hinter dieser Säule dort vorn sind, müssten wir dicht genug heran sein, um einen zuverlässigen Treffer zu landen. Und sicher sollte er sein, denn wir haben nur einen Versuch.« Er deutete mit dem Kinn auf einen kleinen Knopf schräg hinter dem Messingrohr. »Das ist der Auslöser. Ich würde vorschlagen, dass ich das Zielen übernehme und Sie den Knopf betätigen. Wenn Sie es mit sich selbst vereinbaren können, gerne auf mein Kommando, Miss Taversham.«
»Ich nehme einfach mal an, dass Sie mir vorab nicht sagen werden, wozu dieses Utensil genau dient.« Sie wartete auf eine Entgegnung des Wiedergängers, der ihren Blick aus seinen unlesbaren Augen erwiderte und schwieg. Sie zuckte mit den Schultern. »In Ordnung. Wahrscheinlich wären Erklärungen eh fehl am Platz, schließlich verlässt sich Eric auf unsere Rückendeckung.« Ihr wurde bewusst, dass sie den Agenten erneut »Eric« und nicht »Mister van Valen« genannt hatte. Komisch, wie sich manche Dinge änderten, wenn man zusammen in Schwierigkeiten steckte.
Mister Ferret lächelte schmal.
Einige atemlose Augenblicke waren die beiden hinter einer gedrungenen Backsteinsäule angekommen. Nur wenige Meter weiter gingen die Weißkittel ihren Aufgaben nach. Einer der Wachmänner sah in ihre Richtung. Für einen Moment wähnte sich Whiggs schon entdeckt, doch dann wurde der Mann angesprochen und wandte den Blick ab. Lautlos atmete sie aus.
Mister Ferret hockte sich in den Schatten der Säule und hob langsam den Arm. Sorgfältig zielte er auf einen hochgewachsenen Mann mit weißem Kittel und Klemmbrett auf dem linken Arm, der offensichtlich die Aufsicht über die Arbeiten an den Volbert-Pumpen führte. Ab und zu wies er die anderen Wissenschaftler dazu an, den Druck zu regulieren oder die eine oder andere wichtig aussehende Tätigkeit auszuführen. Dabei lief er hektisch durch den Raum. Als er stehen blieb, um die Angaben auf seinem Klemmbrett mit einer der Anzeigen zu vergleichen, gab Mister Ferret der Emanatin das Signal.
Whiggs zögerte nicht und betätigte den Auslöser. Mit einem beunruhigenden Zischen schoss ein winziges Projektil aus dem Messingrohr und bohrte sich seitlich in den Hals des Vorarbeiters. Dessen Hand zuckte hoch, gleichzeitig drehte er sich mit aufgerissenen Augen einmal um seine eigene Achse. Ein leises Zittern erfasste seinen Arm. Das Klemmbrett entglitt seiner Linken und polterte zu Boden. Von einer Sekunde auf die andere verkrampften sich seine Muskeln und schaumiger Speichel quoll zwischen seinen plötzlich blassen Lippen hervor. Sein ganzer Körper begann zu beben.
Ein Mitarbeiter trat auf den zitternden Mann zu und sprach ihn besorgt an, während er Hilfe anbietend nach seiner Schulter fasste. Die Berührung löste bei dem Vorarbeiter einen unerwarteten, gewalttätigen Reflex aus. Zumindest unerwartet für seinen Untergebenen.
Whiggs keuchte überrascht auf, als sich der Wissenschaftler mit einem irren Schrei auf den anderen Mann stürzte und ihm mitten ins Gesicht biss. Blut spritzte auf und besprenkelte den blütenreinen Stoff der Kittel mit einem Muster aus Rot. Schreiend ging der Angegriffene zu Boden und wand sich dort unter unerträglichen Schmerzen. Der andere schenkte den geschockten Kollegen ein blutiges Grinsen und spuckte eine abgebissene Nase aus. Dann sprang er auf den am nächsten stehenden Mitarbeiter zu.
»Das wäre nun der geeignete Zeitpunkt, um für ein wenig anheimelnde Atmosphäre zu sorgen«, sagte Mister Ferret. »Meinen Sie nicht auch, Miss Taversham?«
Whiggs sog mit zusammengebissenen Zähnen die Luft ein. Dieser Wiedergänger steckte voller unangenehmer Überraschungen. Mit einem Schauder schloss sie die Augen und versenkte sich so schnell wie möglich in die plasmotische Sicht. Angefüllt mit grimmiger Entschlossenheit tastete ihr Geist nach den Plasmaröhren an der Decke, fühlte jede einzelne Endung, die in einer der hell leuchtenden Lampen mündete, zögerte kurz, griff zu – und brachte sie zum Explodieren. Funken sprühten und das Licht erlosch. Einzig die grünlich schimmernde Fluoreszenz der Plasmatanks gewährte ihr und Mister Ferret jetzt noch die Aussicht auf das ausgebrochene Chaos.
…
In geduckter Haltung schlich Eric sich hinter einem Strang dicker Kupferrohre entlang auf die Pumpe zu. Es war zwar ein Umweg, aber er hoffte, dass ihm die Rohre im Halbdunkel ausreichend Deckung boten, um nicht gleich entdeckt zu werden. Als er nah genug an die Pumpe herangekommen war, versteckte er sich im Schatten eines Eckpfeilers und setzte behutsam seine schwere Last ab. Jetzt musste er nur noch abwarten, bis Ferret und Whiggs die Wachen ablenkten. Und dann hieß es: schnell sein.
Er lugte vorsichtig um den Pfeiler herum und erstarrte mitten in der Bewegung. Direkt auf der anderen Seite stand ein Wachposten! Es war ein Wunder, dass der Mann ihn nicht schon längst bemerkt hatte, doch glücklicherweise schien ihn das Treiben der Wissenschaftler mehr zu interessieren, als seine eigentliche Aufgabe. Eric wagte es dennoch nicht, sich zu rühren. Fieberhaft dachte er nach. Den Wachmann unauffällig zu überwältigen schied aus, denn der wirkte ziemlich kräftig. Außerdem hatte er ein kurzläufiges Gewehr geschultert, das er sofort in Anschlag bringen konnte. Die Chancen für einen erfolgreichen Überraschungsangriff waren also äußerst gering. Vielleicht ließ er sich irgendwie ablenken, etwas, das ihn dazu veranlasste, seinen Platz zu verlassen. Nur wie?
Der Wachmann kramte gelangweilt in einer seiner Westentaschen und zog eine Blechdose hervor, aus der er einen Priem entnahm und in den Mund beförderte. Er kaute ein paar Mal darauf herum und spuckte ihn mit einem angewiderten Gesichtsausdruck wieder aus. Erneut kam die Dose zum Vorschein und ein weiterer Priem wurde hervorgeangelt. Dabei passierte es: Der Behälter entglitt dem Wachmann und fiel scheppernd zu Boden. Sein Inhalt verstreute sich direkt vor Erics Füßen. Mit einem Fluch beugte sich der Mann nach unten, um die davonrollenden Tabakkugeln aufzuhalten. Als seine Hand gegen Erics Schuhe stieß, schaute er überrascht auf. »Was zum Teufel …?!«
Eric reagierte blitzschnell und rammte ihm das Knie gegen den Kopf. Doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Mit einem verärgerten Grunzen umklammerte der Wachmann Erics Beine und riss ihn um. Ächzend knallte der Agent mit dem Rücken auf den harten Fußboden.
»Ich werde dir helfen, mit ungewaschenen Mauken nach mir zu treten.« Zwei haarige Pranken flogen auf Eric zu und trafen ihn seitlich am Kiefer, dann ein weiteres Mal am Brustkorb. Er konnte beinahe das Knirschen hören, mit dem sie auf seine Knochen prallten und ihm die Luft zum Atmen nahmen.
Mühsam brachte er die Hände nach oben, um sich gegen die Angriffe zu schützen. In der Akademie hatten sie ihm den »Faustkampf für Gentlemen« beigebracht und er war nicht einmal schlecht darin gewesen. Nur leider sah diese Art des Duells das Stehen auf beiden Beinen vor, einen gewissen Mindestabstand und außerdem einen Ringrichter, der die Einhaltung der Regeln überwachte. Letztere interessierten seinen straßenkampferprobten Gegner herzlich wenig. Er schnappte sogar mit den Zähnen nach Erics Fingern, während er weiterhin von rechts und links deftige Haken auf ihn niederprasseln ließ.
Ohne Erfolg versuchte Eric, den Angreifer von sich zu stoßen. Doch gegen die fast zweihundert Pfund Lebendgewicht, die der Wachmann auf die Waage brachte, hatte er nicht die geringste Chance. Beiläufig wischte er Erics Hände beiseite. In der Bewegung hämmerte der Kolben des Gewehrs, das immer noch ungenutzt von seiner Schulter herunterbaumelte, hart an den steinernen Eckpfeiler. Ein ohrenbetäubender Knall und ein greller Lichtblitz waren die Folge.
Als die Benommenheit und das Dröhnen in seinen Ohren etwas nachgelassen hatten, stellte er fest, dass es im Raum tatsächlich düster geworden war. Nur das grünliche Schimmern der Plasmatanks erhellte das Chaos, das um ihn herum ausgebrochen war. Überall rannten die Schatten von Menschen durcheinander, stießen Hilferufe aus oder gaben sinnlose Befehle von sich. Eric tastete vor sich über den Boden, bis seine Hände einen Körper berührten. Eine schmierige Flüssigkeit bildete eine immer größer werdende Lache. Blut. Offenbar hatten kurzläufige Gewehre so ihre Nachteile, wenn man sie in die falsche Richtung hielt.
Erleichtert atmete Eric auf. So weit, so gut. Kein Grund für eine Auszeit. Er kroch auf allen vieren um den Pfeiler herum und fand die Kiste wieder, die er dort abgesetzt hatte. Glücklicherweise hatte sie keinen Schaden genommen. Ächzend stemmte er sie auf die Schulter und schleppte sie zu der verwaisten Velbert-Pumpe hinüber. Dort schraubte er das Sicherheitsventil zu und legte ein paar Hebel um. Schnaufend verlangsamte sich die Pumpe und blieb schließlich vollständig stehen. Eric öffnete den Einfüllstutzen an der Oberseite. Als das Scheuerpulver aus der Kiste in den Trichter rieselte, gestattete er sich zum ersten Mal ein grimmiges Lächeln.
»Das verschafft euch ein strahlendes Zahnweiß, Jungs. Das garantiere ich.« Achtlos warf er die leere Kiste zu Boden, zog an den Hebeln und startete den Motor neu. Langsam nahm die Pumpe wieder ihre Arbeit auf, diesmal in die umgekehrte Richtung. Erschöpft lehnte sich Eric zurück und schloss die Augen – als plötzlich eine Stimme neben ihm ertönte.
…
»Mister van Valen, ich dachte, diese kläglichen Versuche von Geist und Witz wären Ihrem untoten Freund vorbehalten«, sagte Doktor Sartorius. Der Doktor wirkte etwas derangiert, jedoch ebenso wütend.
Eric seufzte ergeben. »Ich gebe mein Bestes, ihn würdig zu vertreten, solange er nicht erreichbar ist.«
»Das ist überaus löblich von Ihnen«, entgegnete Doktor Sartorius mit beißendem Sarkasmus. »Leider bleibt mir aktuell für so etwas keine Zeit.« Sartorius winkte einen seiner zwei bewaffneten Begleiter heran. »Töte ihn.«
Der Wiedergänger nickte gehorsam und hob das Gewehr. Doch Sartorius schlug es zornig zur Seite. »Nicht damit, du hirnloser Idiot. Bei den Tanks wird nicht geschossen. Benutz deine Hände!«
Eric nutzte den Moment der Ablenkung, zog seine eigene Waffe und feuerte sie ab. Von der Gewalt der Plasmaexplosionen wurde der Wiedergänger herumgerissen und wie eine Puppe gegen seinen Kameraden geschleudert. Ohne zu zögern, sprang Eric über die Pumpe hinweg, gab einen weiteren Schuss ab und duckte sich hinter einen der Plasmatanks, der sich bereits wieder zu füllen begann.
Der in dem Tank schwimmende Wiedergänger riss die schwarzen Augen auf und starrte Eric direkt ins Gesicht. Eine Hand hob sich und kam auf den Agenten zugeschossen. Noch eher der zurückweichen konnte, traf sie auf die Scheibe – und prallte wirkungslos ab. Ein lautloser Schrei entrang sich den Lippen des Untoten. Wo immer sein nackter Körper mit dem Plasma in Berührung kam, schäumte die Flüssigkeit. Die Haut der Kreatur warf mittlerweile Blasen und löste sich in schmierigen Fetzen ab. Ein weiterer Schlag ließ den Tank erzittern. Das massive Glas hielt stand. Eric wirbelte herum und sprintete davon.
In seinem Rücken hörte er Sartorius’ wütende Rufe und die schweren Schritte der Wiedergänger. Eric drehte sich nicht um. Schüsse krachten in schneller Folge durch die Halle. Dicht neben ihm zerspritzten Geschosse auf dem Boden, an den Säulen, an den Armaturen. Ein Splitter surrte an seinem Ohr vorbei, ein anderer fuhr heiß über seine Wange. Er schlug einen Haken, brachte sich hinter einer Ecke in Deckung. Er hob die Hoegle und musterte die Magazinanzeige. Beinahe leer. Verdammt! Er fluchte lautlos. Als der erste Verfolger auf ihn prallte, rammte er ihm die Waffe in den Bauch und drückte ab.
Dem Wiedergänger gelang es noch, sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit herumzuwerfen, so dass das Geschoss ihn nicht mittig traf. Fleischfetzen spritzen davon und hinterließen ein faustgroßes Loch in seiner Seite. Eric feuerte ein zweites und drittes Mal. Der Plasmierte wurde zurückgeschleudert und verschwand aus Erics Blickfeld. Fast zu spät bemerkte Eric den nächsten Angreifer. Erst im allerletzten Moment ließ er sich fallen, feuerte einen weiteren Schuss ab, der dem Wiedergänger das Ohr vom Kopf riss und ihn mit Wucht gegen die Wand beförderte. Ein leises Zischen verkündete, dass Eric soeben die letzte Druckkammer seiner Hoegle gelehrt hatte. Der getroffene Wiedergänger schüttelte sich wie ein Bär. Seine kalten, schwarzen Augen suchten nach Eric und fanden ihn, keine vier Schritte entfernt, auf dem Boden liegend.
In diesem Augenblick wich alle Angst aus dem Agenten. Er versuchte erst gar nicht, auf die Beine zu kommen oder auszuweichen. Er wusste, dass ihm keine Fluchtmöglichkeit mehr blieb. Was ihm in diesem Moment am erschreckendsten vorkam, war der Ausdruck im Gesicht seines Gegners. Da war nichts. Keine Wut, kein Erkennen, keine Regung. Es war – schoss es ihm durch den Kopf – wie auf Gleisen zu liegen und den Dampfwagen anrollen zu sehen. Keine Chance, das aufzuhalten. Ergeben schloss er die Augenlider.
Ein Donnerschlag zerriss die Luft und tat dasselbe beinahe mit Erics Trommelfellen. Unmittelbar darauf packte ihn eine unsichtbare Riesenfaust und warf ihn zurück, wirbelte ihn hilflos umher, bis er gegen ein Hindernis prallte. Der Atem wurde ihm aus den Lungen gepresst und er spürte, wie mindestens eine Rippe brach. Dann passierte, zu seinem größten Erstaunen, für eine Zeit lang gar nichts. Langsam dämmerte ihm, dass es nicht der Hieb des Plasmierten gewesen sein konnte, der ihn da getroffen hatte.
Stöhnend schaute er sich um, im vergeblichen Versuch, die Schmerzen zu ignorieren. Der Wiedergänger war weg. Die Wand an der Stelle, wo die Kreatur gerade noch gestanden hatte, war ebenfalls fort. Staub und Schutt rieselten von der Decke. Blinzelnd stellte Eric fest, dass auch zwei der gläsernen Tanks verschwunden waren. Gerade mal ihre geborstenen Stümpfe ragten aus den Sockeln hervor. Direkt daneben türmten sich die qualmenden Trümmer der Pumpe, aus denen in zäh gluckerndem Schwall das Plasma strömte und eine rasch anwachsende Lache auf dem Boden bildete. Eine seltsame Stille hatte sich über die düstere Halle gesenkt. Tatsächlich brauchte Eric eine ganze Weile, um festzustellen, dass das wohl daran lag, weil er, abgesehen von einem hohen Pfeifton, kaum noch etwas hören konnte. Ein unangenehmes Klopfen meldete sich in seinem Kiefer und vorsichtiges Tasten mit der Zunge eröffnete ihm, dass einer seiner Zähne abgebrochen war. Grunzend spuckte er Staub und Blut aus.
Eine Bewegung in den Rauchschwaden zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Plasmierte vielleicht oder sogar Doktor Sartorius. Ermattet bemühte er sich, auf Hände und Knie zu kommen, doch mit einem gleißenden Stich drängten sich seine Rippen zurück in Erinnerung. Also blieb er liegen, wo er war.
Die Schemen verwandelten sich in zwei geduckt laufende Gestalten. Eine der beiden trug ein langes, klobiges Rohr mit sich. Die andere deutete mit einem dürren Finger auf ihn und stellte sich wenige Schritte später als Mister Ferret heraus.
»Sie haben sich aber ziemlich Zeit gelassen«, murmelte Eric. Es war seltsam, seine eigene Stimme wie von weit entfernt und durch mehrere Schichten Watte zu hören. Er versuchte ein Lächeln, brachte jedoch nur ein schiefes Grinsen zuwege. Was genau Mister Ferret antwortete, konnte er nur erraten. Irgendwas mit »… zum richtigen Moment gekommen, Sir.« Sofern er sich nicht täuschte. Er presste die Handballen auf die Ohren und schüttelte den Kopf. Der Pfeifton blieb. »Was beim Himmel war das, Mister Ferret?«
Der dünne Mann grinste. »Miss Taversham hatte das Bedürfnis, diese neue Waffe auszuprobieren, Sir. Dabei ist ihr ein vortrefflicher Treffer gelungen. Wenn ich das mal so formulieren darf, Sir.«
Eric musterte die junge Frau, die mit dem seltsamen Gewehr im Anschlag hinter Mister Ferret stand und nervös in die Qualmwolken starrte. Er schnaubte belustigt und zog gleich darauf scharf die Luft ein. Das Lachen sollte er sich für die nächste Zeit besser verkneifen. Es tat verflucht weh.
Whiggs betrachtete Eric besorgt. Sie drückte Mister Ferret die Waffe in die Hand und hockte sich neben den Agenten auf den Boden. »Sind Sie verletzt? Lassen Sie mich sehen, vielleicht kann ich …«
Eric schob sanft ihre Hand beiseite. »Später, Whiggs. Es geht schon. Nichts, was ich nicht überlebe. Aber wenn Sie mir aufhelfen könnten? Ja, so müsste es gehen.« Er stöhnte laut auf, als Whiggs ihn auf die Füße zog. »Wichtiger ist: Wo ist Sartorius? Wo sind die Plasmierten?«
Mister Ferret zuckte mit der Schulter. »Nach Miss Tavershams Schuss habe ich den Doktor aus den Augen verloren. Was die Plasmierten angeht, habe ich eine gute Nachricht, Sir.« Er deutete mit dem Lauf auf etwas im Schutt und erst jetzt erkannte Eric, dass es sich um ein abgetrenntes, verdrehtes Bein handelte. »Dieses erstaunliche Spielzeug hier ist ihnen also durchaus gewachsen. Was ist mit dem Zweiten passiert, Sir?«
Eric sah sich um und wies dann auf einen reglosen Körper. »Explosivmunition, Mister Ferret. Erinnern Sie mich daran, unbedingt mehr davon zu organisieren. Aber nun sollten wir Sartorius suchen und …«
»VAN VAAALEN!!!«
»Ah«, sagte Whiggs mit düsterer Genugtuung. »Ich vermute, der Doktor hat soeben bemerkt, dass Sie seine Schöpfungen einer gründlichen Wäsche unterzogen haben.«
Eric zog hoffnungsvoll die Brauen hoch. »Es hat funktioniert?«
»Sie schäumen gewissermaßen vor Begeisterung, Sir«, sagte Mister Ferret und ließ seine Zähne blitzen. »Ich darf behaupten, dass …« Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen schnellte ein Schatten aus den Rauchschwaden heran und riss ihn von den Füßen.
…
Mister Ferret wurde so brutal zu Boden geschleudert, dass ihm die klobige Waffe entglitt und außer Reichweite rutschte. Er hätte sie auf diese Entfernung aber ohnehin nicht einsetzen können, denn sein Gegner sprang mit einem infernalischen Laut auf seinen Rücken und hämmerte mit beiden Fäusten auf ihn ein.
Es dauerte einige Augenblicke, bis der dünne Mann begriff, wen er da über sich hatte. Sofort riss er den Arm nach oben, um den Angreifer von sich zu schleudern. Doch im gleichen Moment schnappte der völlig dem Wahn verfallene Wissenschaftler zu und verbiss sich in seiner Hand. Mehr aus Reflex, als vor Schmerz zuckte Mister Ferret zurück und brach dem Unglückseligen zwei, drei Zähne aus. Der Wissenschaftler schien es nicht einmal zu bemerken, setzte seinen ziellosen Angriff mit unverminderter Intensität fort. Schließlich gelang es Mister Ferret, ihn am Revers zu packen und von sich zu drücken. Als Eric und Whiggs ihm zu Hilfe eilen wollten, hielt er sie auf. »Ich kümmere mich um ihn, Sir. Schauen Sie, dass Sie einen Fluchtweg finden, damit wir verschwinden und Verstärkung holen können, Sir. Beweise dürften wir ja nun mehr als genug haben.«
Eric nickte und schaute sich suchend um. »Dort drüben! Wenn ich die Pläne richtig in Erinnerung habe, müsste da hinten irgendwo der Zugang zu den Nebengebäuden sein. Kommen Sie, Whiggs.« Geduckt eilten sie davon, sorgfältig darauf bedacht, so wenig wie möglich Zielfläche für eventuelle Angreifer zu bieten.
Mister Ferret hob den wild um sich schlagenden Wissenschaftler etwas unschlüssig am Kragen hoch in die Luft. Glücklicherweise schienen dessen Kräfte langsam zu erlahmen, so dass es dem dünnen Mann schließlich gelang, ihn mit einem gezielten Kopfstoß außer Gefecht zu setzen. Seufzend ließ er den Ohnmächtigen fallen und wandte sich um. Als er jedoch zu der Stelle zurückkehrte, an der er den Plasmawerfer verloren hatte, musste er feststellen, dass er sich nicht mehr dort befand. Stattdessen stand er dem letzten der Wiedergänger gegenüber.
…
Eric und Whiggs hatten beinahe das andere Ende der Halle erreicht, als Doktor Sartorius hinter einer Säule hervortrat. In den Händen hielt er das seltsame, übergroße Gewehr, das sich bis vor kurzem noch in Ferrets Besitz befunden hatte. »Sie wollen uns doch nicht schon verlassen, Mister van Valen? Immer so in Eile, der gute Mann. Hat einfach keine Zeit mehr für ein nettes Gespräch unter Freunden.« Das Gesicht des Doktors verzog sich zu einem irren Grinsen. »Dabei haben wir uns so viel zu erzählen. Zum Beispiel, wie Sie es geschafft haben, meine gesamte Armee außer Gefecht zu setzen. Das würde mich wirklich sehr interessieren. Ich muss schließlich wissen, wie ich es das nächste Mal besser machen kann. Also los, sagen Sie es mir!«
»Sie wissen es nicht?« Eric zog die Augenbrauen hoch. »Nun, Mister Ferret würde Ihnen jetzt erklären, dass selbst die Reinemachefrau darauf gekommen wäre …«
Sartorius’ Grinsen verschwand schlagartig. Ein Klicken war zu vernehmen, als er die Plasmakammer des Gewehrs aktivierte. Ein tiefes, lautes Summen kündete von der Bereitschaft der Waffe. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass wir keine Zeit für Ihre müden Scherze haben, van Valen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was soll’s. Eigentlich ist es mir auch egal, wie Sie es geschafft haben, denn Sie werden Ihr Geheimnis ohnehin mit ins Grab nehmen. Und damit wir ganz sichergehen, werde ich das dieses Mal selbst übernehmen.« Er drückte den Kolben der Waffe gegen seine Schulter und betätigte den Abzug.
Eric und Whiggs warfen sich zu Boden. Mit gewaltigem Fauchen raste das Geschoss über ihre Köpfe hinweg und explodierte an der Eisentür nur wenige Meter hinter ihren Rücken. Ungeachtet der Druckwelle sprangen sie auf die Füße und rannten los – durch einen Schauer von Ziegelbrocken, Mörtel und Fliesensplittern, der auf sie niederprasselte. Der Durchgang war verschwunden. An seiner Stelle türmte sich ein Haufen dampfender Schutt und Geröll.
»BRAVO!«, höhnte Doktor Sartorius mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Bewundernswerte Reaktionsgeschwindigkeit. Aber soll ich Ihnen etwas verraten? Ich wollte Sie gar nicht treffen. NOCH nicht. So haben wir beide länger Spaß an der Sache. Das entspricht doch auch viel eher Ihrem Klischee vom verrückten Wissenschaftler, nicht wahr?«
…
»Kopf runter!«, rief Eric. Er packte Whiggs an der Schulter und zog sie hinter einen umgestürzten Metallschrank, der neben einer gemauerten Trennwand lag.
Whiggs ließ einen geringschätzigen, fast atemlosen Laut hören. »Der Schrank wird diesen Plasmawerfer kaum davon abhalten, uns in niedliche, kleine Dampfwolken zu verwandeln, Eric.«
»Natürlich nicht. Aber er verdeckt Sartorius die Sicht. Schnell jetzt, weiter! An die Mauer!«
»Schnell? Sie sollten an ihrem Humor arbeiten. Der entwickelt sich nämlich mittlerweile arg in Richtung Lederhautniveau. Mit diesem Kleid kommt man nirgendwo schnell hin.«
»Ja, ja, geschenkt. Nun machen Sie schon. Sie … ach, was soll´s.« Eric legte Whiggs die Hände auf das Hinterteil und gab ihr einen kräftigen Stoß. Mit einem Aufschrei rollte Whiggs vorwärts. Eric verzog das Gesicht und hustete. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Seite und nur mit Mühe kroch er hinterher.
Whiggs stemmte sich auf die Ellbogen und funkelte ihn mörderisch an. »Was …«
»Kein Wort«, knurrte Eric. »Nicht eines. Weiter.«
»VAN VALEN! Sie wollen sich doch nicht ernsthaft vor mir verstecken?« In Sartorius’ Stimme lag deutliche Verärgerung. »Wirklich, Sie enttäuschen mich.« Das Summen des Plasmawerfers erreichte seinen Höhepunkt. Dann verwandelte es sich in ein scharfes Fauchen und im nächsten Augenblick explodierte der Schrank in tausend Teile. Dahinter öffnete sich eine kraterartige Wunde in der Wand, aus der es Mauerteile, Metallstücke und leuchtendes Plasma regnete. Die Explosion musste eine Leitung zerfetzt haben, die nun ihren Inhalt in den Raum hinein ergoss. Whiggs und Eric wurden von einer heißen Druckwelle erfasst und vorwärtsgeschleudert. Der Agent schrie auf, als ein Mörtelklumpen seine Seite traf und eine weitere Schmerzwelle durch seine gebrochenen Rippen jagte. Whiggs landete japsend neben ihm auf dem Boden, von der umgeschlagenen Krinoline und dem Stoff ihres Kleides halb begraben.
»Dieses Monster«, stöhnte sie. »Ich werde diesem verdammten Quexerarsch …«
»Ich muss doch sehr bitten, unbekannte Miss.« Sartorius trat aus der dämmrigen Staubwolke und richtete den Lauf des Plasmawerfers auf sie. »Ich empfinde Ihre Wortwahl mehr als befremdlich.«
»Sartorius«, ächzte Eric. »Sie Mistkerl.«
»Mistkerl?« Sartorius stutzte. »Ehrlich? Da beleidigt ja die Dame besser als Sie.« Dann schüttelte er den Kopf. Eine Geste, die zu einem Teil Missbilligung, zum anderen Bedauern auszudrücken schien. »Wie auch immer. Beenden wir das, Mister van Valen. Unser Spielchen war leider nur halb so amüsant, wie ich es erhofft hatte.« Er ließ das verbrauchte Magazin fallen, stieß ein frisches in die Kammer und betätigte den Aktivierungshebel. Das Summen kletterte ein weiteres Mal in unangenehme Höhen. Der Doktor grinste traurig. Er trat einen Schritt zurück und legte an. »Sagen Sie ihrer hübschen Freundin Lebewohl.«
Bevor er jedoch tatsächlich dazu kam zu feuern, fiel ihm eine blutüberströmte Gestalt in den Arm. Der ehemals weiße Kittel des unerwarteten Gegners war zerrissen und schmutzig und eine dicke, blutende Beule zierte seine Stirn. Die Adern an seinem Hals pulsierten so stark, dass selbst Eric und Whiggs es sehen konnten. Blut lief dem Mann aus Ohren, Augen und Nase und sein Gesicht war zu einer grinsenden Fratze des Schmerzes verzerrt, der die Schneidezähne fehlten. Einer der Wissenschaftler, der das Chaos irgendwie überlebt hatte. »Doktor Sartorius, helfen Sie mir …«
»Was zum …« Sartorius vermochte, sich der Umklammerung nur mit Mühe zu erwehren. Schreiend riss er die Waffe herum und schmetterte ihren Kolben gegen den Kopf seines Angestellten. Der Getroffene taumelte zurück, nur um gleich erneut verwirrt vorwärtszustolpern. Wieder und wieder schlug Sartorius zu und zertrümmerte den Schädel des anderen mit wüten Hieben zu blutigem Brei.
Eric beobachtete die Szene mit fasziniertem Entsetzen. Schließlich wurde er sich aber Whiggs bewusst, die an seinem Ärmel zog.
»Kommen Sie, solange er abgelenkt ist!«
Er nickte und zusammen stolperten sie durch den Schutt ins Halbdunkel der Halle. »Das wird ihn nicht auf Dauer aufhalten«, keuchte er.
»Ich fürchte nicht, nein.« Sie erreichten eine Tür, die dem fieberhaften Rütteln von Whiggs standhielt. »Wo ist dieser Ferret, wenn man ihn einmal braucht!« Frustriert schlug sie die Faust gegen das Metall.
Ein langer, dünner Schatten flog heran und krachte mit unangenehmem Knirschen direkt neben ihr in die Wand. Abermals gingen in einem Schauer Mörtel und Fliesenstückchen auf sie nieder. Mit einem Geräusch wie ein Blasebalg in einer Schmiede sackte Mister Ferret in sich zusammen und blieb auf dem Boden hocken. Erics Kopf ruckte herum. Hinter ihnen ragte, einige Schritte entfernt, der eindrucksvolle Umriss des anderen Wiedergängers auf. Und als wäre das noch nicht genug, tauchte neben dem Untoten nun auch Sartorius wieder aus dem Qualm auf.
»Wie ich bereits sagte: Das endet jetzt. Und ich kann nicht behaupten, dass ich es bedauere.« Damit legte Sartorius die summende Waffe an. »Irgendwelche letzten Worte?«
»Er wiederholt sich.« Mister Ferret klang undeutlich, was daran liegen mochte, dass er auf dem Gesicht lag.
Eric kicherte verzweifelt. »Ständig. Er nervt gewaltig.«
»Er ist ein Arschloch«, ergänzte Whiggs grimmig.
Sartorius drückte ab.
…
Mit einem hohlen Knacken rastete der Abzugshebel ein. Nichts tat sich. Wenigstens nicht sofort. Sartorius runzelte die Stirn und senkte den Blick auf die Anzeigen der Waffe. Ein hektisches, rotes Licht flackerte hinter der verglasten Kompressionskammer auf. Die Miene des Doktors zeigte erst Verwirrung, dann einen Anflug von Enttäuschung. Fast so, als hätte ihn der Plasmawerfer mit seiner Fehlfunktion hintergangen. »Das ist jetzt nicht wahr, oder?« Doktor Sartorius fluchte. Aufgebracht schüttelte er den Prototypen. »Was … ist … das … bloß … für … ein … SCHROTTGERÄT?« Irgendetwas an der Waffe zischte.
»Also wirklich, Doktor Sartorius, ich empfinde Ihre Wortwahl mehr als befremdlich.« Whiggs kicherte in überspannter Fröhlichkeit. »Sie sind wahrhaftig zu blöde, uns umzubringen. Wie erbärmlich.«
»Halten Sie Ihr Maul, Sie Flittchen.« Sartorius schwenkte den Lauf zurück und drückte mehrfach auf den Auslöser, doch noch immer löste sich kein Schuss. Stattdessen wurde das Summen der Waffe lauter. Ein leises Brummen kam hinzu. Sartorius knurrte. Im nächsten Moment gab der Plasmawerfer ein kreischendes Sirren von sich, das sich innerhalb von Sekundenbruchteilen von unangenehm zu einem infernalischen Crescendo steigerte. Schlagartig flackerten die Anzeigen der Waffe in einem Unheil verkündenden Rot.
»Was zum …« Sartorius wurde kreidebleich. Sofort ließ er die Schusswaffe fallen, als hätte er sich verbrannt. Dem Geruch nach hatte er das auch. »Nein!« Unsicher trat er ein, zwei Schritte rückwärts, stolperte und stürzte über einen herumliegenden Schuttbrocken. Seine Augen huschten zwischen der zischenden Waffe und den drei Figuren vor der Tür hin und her. Dann gab er dem Wiedergänger, der ihn ausdruckslos anstarrte, einen harschen Befehl. »Töte sie!« Ohne die Reaktion des Plasmierten abzuwarten, wandte sich Doktor Sartorius ab und hinkte überstürzt davon.
»Jetzt wäre ein geeigneter Zeitpunkt, um das Weite zu suchen, Sir«, flüsterte Mister Ferret trocken.
Eric stieß ein Geräusch aus, das sich gleich darauf in ein Husten und ein gequältes Ächzen verwandelte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich die Seite. »Natürlich, Mister Ferret. Ich rufe nur schnell noch die Kavallerie. Die wird uns in null Komma nichts hier herausbringen. Ich kann nicht mal mehr auf den Beinen stehen. Und so, wie ich das sehe, Sie auch nicht.«
»Sie unterschätzen mich, Sir.« Knirschend versuchte der dünne Mann, sich aufzurichten. »Whiggs, nehmen Sie Eric und bringen Sie sich in Sicherheit. Jetzt!«
»Aber …«
»Er hat recht, Eric.« Whiggs’ Stimme klang verzweifelt. »Wir müssen weg!«
Hinter ihr ragte plötzlich die massige Gestalt des Plasmierten auf. Eine blutige Faust schoss auf ihren Kopf zu, doch ehe sie ihr Ziel fand, schnellte Mister Ferrets Hand vor, packte einen Knöchel und riss mit Gewalt daran. Der Wiedergänger strauchelte und sein Hieb verfehlte die junge Frau um Haaresbreite. Knurrend schüttelte er den Griff ab und trat anschließend mit aller Kraft nach Mister Ferrets ausgestreckten Fingern.
Im nächsten Augenblick krachte ein Schuss. Der Wiedergänger stolperte rückwärts, als wäre er von einem Pferdehuf getroffen worden. Zwei weitere Detonationen folgten, warfen den Plasmierten herum, bis er schließlich neben dem zischenden Plasmawerfer zu Boden ging.
»Hat hier jemand nach der Kavallerie gerufen?«
Whiggs drehte erschrocken den Kopf. Die schwere Stahltür hinter ihnen stand unerwartet wie von Zauberhand offen und eine wohlbekannte Gestalt trat mit erhobener Hoegle und einem spöttischen Lächeln im Gesicht durch den Rahmen. In seinem Rücken zeichneten sich die Umrisse anderer Polizisten ab.
»Joey! Sie schickt der Himmel.«
»Eigentlich war es O’Donohue. Aber ich werde ihm ausrichten, dass …«
»Keine Zeit.« Whiggs stieß den Polizisten mit der Schulter beiseite und zerrte Eric unsanft durch die Tür. Joey starrte sie verblüfft an.
»Sofort!«, rief Whiggs. »Diese Waffe da vorn explodiert gleich!« Wie auf ein Stichwort löste sich ein Ventilbolzen und sirrte pfeifend davon.
»Könnte mir jemand aufhelfen?«, meldete sich Mister Ferret flüsternd zu Wort.
»Schnell, verdammt noch mal«, fauchte Whiggs. Mit Eric im Schlepptau taumelte sie gegen einen der wartenden Polizisten, der endlich schaltete, eiligst seine Waffe zurück ins Holster steckte und den zweiten Arm des Agenten ergriff. Gemeinsam schleppten sie ihn den Gang hinunter. Joey und ein anderer Kollege zogen den dünnen Mann auf die Beine, traten durch die Tür und warfen sie mit einem Knall hinter sich zu.
»Was ist mit Sartorius?«, rief Joey. »Wir müssen uns um ihn kümmern.«
…
Doktor Sartorius fluchte. Irgendetwas hatte vorhin in seinem Knöchel geknirscht und seitdem sendete jeder Schritt glühende Schmerzen durch sein rechtes Bein. Außerdem wurde der Rauch dichter. Ein Brand tobte irgendwo. Vermutlich ein oder zwei Plasmaleitungen. Aber das war jetzt seine geringste Sorge. Er wandte sich nach links, wo er von einem Ausgang wusste. Er musste nur …
Der nächste Fluch war wesentlich unflätiger. Natürlich war da ein Ausgang gewesen. Bis ihn sein eigener Schuss aus diesem verdammten Plasmawerfer in einen Schuttberg verwandelt hatte. Er drehte sich um und stolperte weiter durch das verrauchte Chaos. Wenn er nur schnell genug wäre, konnte er es schaffen. Und dann würde er bittere Rache üben. Zornerfüllt ballte er die Fäuste.
Ein Flackern im Augenwinkel ließ ihn herumfahren. Dort drüben, wo er die Waffe fallen gelassen hatte, pulste jetzt ein zweites Mal ein gleißend grünes Licht auf. So grell diesmal, dass sich die zusammengesackte Gestalt seines letzten Wiedergängers wie ein Scherenschnitt davor abzeichnete. Sartorius blieb stehen und stieß zischend die Luft aus.
Der dritte Lichtimpuls war so gewaltig, dass er seine Augen zum Platzen brachte. Er öffnete den Mund zu einem Schrei. Plasmafeuer schoss auf ihn zu, drang in seine Lunge, umhüllte ihn in einem blendend weißen Glorienschein, wirbelte ihn davon und verschlang ihn.
…
»Was?«
»Keine Zeit!« Whiggs’ Stimme überschlug sich schier vor Panik. »Die Waffe. Hesiodplasma!«
Joey schaltete bemerkenswert rasch. »Rechts«, befahl er bestimmt. »Die Treppe hoch!« Mit der freien Hand wies er nach vorn, wo sich der Gang in einer T-Kreuzung teilte. Dann wuchtete er sich Mister Ferrets Arm über die Schulter. »Meine Fresse, sind Sie schwer«, grunzte er, während er ihn mithilfe seines Kollegen hinter Whiggs und Eric herschleppte. Er taxierte den dünnen Mann. »Und Sie sehen scheiße aus.«
Das war wirklich nicht übertrieben. Mister Ferrets Kopf stand in einem seltsamen Winkel ab. Der ramponierte Arm baumelte nutzlos an seiner Seite, und als er schmal grinste, konnte der Polizist erkennen, dass ihm mindestens ein Zahn fehlte.
»Ich weiß«, murmelte Mister Ferret. »Eigentlich müsste ich tot sein.«
»Was haben Sie da drinnen nur getrieben?« Joeys weit aufgerissene Augen sprachen Bände. Offensichtlich machte ihm der Anblick des schwerbeschädigten Wiedergängers, der mehr denn je wie der wandelnde Leichnam aussah, der er war, ernsthafte Sorgen.
»Aufgeräumt, Sir. Wir …« Ein Donnergrollen unterbrach Mister Ferret. Die Lampen an der Decke flackerten.
Joey warf einen ahnungsvollen Blick über die Schulter und sah, wie sich die stabile Metalltür in Ihre Richtung zu wölben begann, als wäre von der anderen Seite ein gepanzerter Dampfwagen dagegengefahren. »Oh Himmel!«, entfuhr es ihm. Seine Schritte verlangsamten sich und er starrte mit offenem Mund zurück. »Was war das?«
»Jedenfalls noch nicht alles«, flüsterte Mister Ferret eindringlich. »Weiter!«
Joey packte ihn fester und sie verdoppelten nun ihre Anstrengung, die T-Kreuzung zu erreichen. Hinter ihnen ertönte das grauenvolle Kreischen gequälten Metalls und ein gleißend grüner Lichtblitz zeichnete ihre Schatten scharf auf dem Gang vor ihren Füßen ab.
Whiggs hatte sich beim ersten Donnern ebenfalls umgedreht. Dann ließ sie Eric los. Der Polizist an ihrer Seite zerrte den Verletzten vorwärts, so schnell er konnte. Whiggs dagegen verlangsamte ihre Schritte, bis sie schließlich ganz zum Stillstand kam.
»Whiggs, laufen Sie!« Mister Ferret und seine Begleiter schlossen zu ihr auf, doch die Emanatin beachtete sie nicht. Mit fast morbider Faszination betrachtete sie das verformte Metall der Tür. Erst kleine, dann zunehmend größere Beulen zeichneten sich an der Oberfläche ab, und rund um den verbogenen Rand flackerten grünliche Lichter.
»Gehen Sie. Sie können nichts tun. Aber ich kann es vielleicht.« Ohne sie anzusehen, drückte sie sich an den Männern vorbei.
Kurz darauf erschütterte eine gigantische Explosion das Gebäude und der Boden bockte wie ein störrisches Pferd. Nur der Umstand, dass Whiggs das Gleichgewicht verlor, rettete sie vor dem mannsgroßen, silbergrauen Schatten, der nur wenige Zentimeter über ihr vorbeiraste. Krachend bohrte er sich an der Stelle in die Wand, an der Joey, Mister Ferret und der andere Polizist nur einen Lidschlag zuvor vorbeigeeilt waren. Ein zweiter, noch hellerer Blitz begleitete ihn.
Nur Mister Ferrets gläserne Augen nahmen für einen winzigen Augenblick das verbogene Metall der Tür wahr, die kaum eine Handbreit hinter ihnen in der Wand steckte. Dann fauchte eine deftige Druckwelle heran und wirbelte sie vor sich her, wie Blätter im Wind. Es war auch Ferret, der den Wachmann als Erstes sah, der auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung erschien und eine Waffe auf die Flüchtenden anlegte. Der dünne Mann schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und zwinkerte.
Einmal.
»Keine Bewegung, oder …«
Was immer sich der Mann unter »oder« vorgestellt hatte, ging in einem Donnerschlag unter, der so heftig war, dass er sämtliche Geräusche zum Verstummen brachte. Im selben Augenblick wurde der Gang von einem kalten Gleißen erfüllt. Es warf so scharfe Schatten, dass die Welt für kurze Zeit nur noch aus Grün und Weiß ohne jegliche Abstufung dazwischen zu bestehen schien.
Nur die leblosen Augen des Wiedergängers sahen die knisternde, brodelnde, brüllende Wand aus Feuer, die Sekundenbruchteile später durch die Türöffnung brach und auf sie zujagte. Und nur Mister Ferret registrierte Whiggs’ schmale Gestalt, die sich als Schattenriss vor der Flammenwalze abzeichnete. Gegen jede Wahrscheinlichkeit stand sie aufrecht im Gang und stemmte sich dem Inferno mit abwehrend ausgestreckten Händen entgegen. Mister Ferret lächelte. Dann war die Woge heran, brandete über sie hinweg und es war nichts anderes da als Licht, Flammen, Tosen und Hitze.
…
Eric schrie vor Schmerzen. Sein Schrei vermischte sich mit den Schreien der anderen, unhörbar im Donnern der Detonation. Das Dröhnen schlug wie mit Dampfhämmern auf ihn ein. Er fühlte, wie sich seine Wimpern, Augenbrauen, seine Haare kräuselten und zu Asche verbrannten. Für die endlose Ewigkeit einer Sekunde spürte er, wie sich die Haut seines gesamten Körpers in eine buckelige Blasenlandschaft verwandelte, bevor sie sich in schmelzenden Tropfen von seinen Muskeln löste.
Dann war es mit einem Mal vorbei.
Einfach so, von einem Moment auf den nächsten. Stille trat ein, die durch den Druck in Erics Ohren verstärkt wurde. Er wusste nicht, wie lange er reglos dagelegen hatte, bis sich sein Brustkorb endlich hob und er einen tiefen, schluchzenden Atemzug tat. Die Luft schmeckte bitter und scharf nach Metall. Und doch war es der schönste Atemzug, an den er sich seit seiner Geburt erinnern konnte. Mühsam kippte er den Kopf zur Seite und öffnete die schmerzenden Augen. Er lebte.
Die Haare des Polizisten neben ihm bestanden nur noch aus grauschwarzem, qualmendem Flaum. Die Hand des Mannes zuckte, und als er sich stöhnend regte, fielen Ascheflocken von seiner Kopfhaut zu Boden. Erics Blick wanderte weiter und fand Mister Ferret, der schwelend zwischen seinen zwei Begleitern saß und blinzelte. Neben ihm krümmte sich Joey, von abgehacktem, krampfartigem Husten geschüttelt.
Einige Schritte entfernt lag die reglose Gestalt von Whiggs.
»Wie …?« Er brachte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen klopfte er hektisch auf die winzigen Glutnester, die an mehreren Stellen seiner Kleidung schwelten. Als er auch die letzten glimmenden Bereiche gelöscht hatte, rollte er sich mühsam auf Hände und Knie und kroch auf Whiggs zu.
Flammen flackerten auf ihrem Kleid und wanderten über ihren Körper. Stirnrunzelnd betrachtete Eric das Schauspiel. Das Feuer schien sie nicht zu berühren, sondern lediglich ihre Form zu umspielen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass nicht einmal ihr Haar ein Opfer des Plasmainfernos geworden war.
»Ætherfeuer«, murmelte Mister Ferret hinter ihm, und eine Spur von Ehrfurcht lag in seiner trockenen Stimme. »Die Seeleute erzählen davon.«
Eric streckte vorsichtig die Hand aus und berührte die junge Frau an der Schulter. »Whiggs? Sind Sie in Ordnung, Whiggs?«
Die Emanatin stöhnte, öffnete die Augen und sah ihn verständnislos an. Dann trat Erkennen in ihren Blick und mit ihm ein schmales Lächeln. »Hat es funktioniert?« Sie schaute sich um. »Ich war mir nicht sicher, ob es das würde.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Aber falls Sie meinen, ob wir noch leben: Ja, das hat funktioniert. Was immer Sie gemacht haben, Sie haben damit uns alle gerettet, Eleonore. Sie sind einfach wunderbar, wissen Sie das?«
…
Das Feuer hatte sich von den unteren Kellerräumen bis in die obersten Etagen gefressen und war aus einzelnen, vergitterten Dachfenstern herausgeschlagen. Rauch stieg in Dutzenden, dunkelgrauen Säulen zum Himmel. Mindestens der Ostflügel des Coleman-Asylums würde ein beinahe vollständiges Opfer der Flammen werden. Eric und Whiggs hatten sich gegenüber dem Eingangstor erschöpft auf die Treppenstufen eines Mehrfamilienhauses gesetzt und betrachteten das Spektakel. Eric rieb sich verlegen über die versengten Stoppeln auf seinem Kopf – und zuckte zusammen, als seine Finger mehreren Brandblasen ertasteten.
Whiggs hatte seine Bewegung bemerkt und grinste ihn schief an. »Tut mir leid, das da. Ich hab’s nicht ganz geschafft.«
Eric lächelte zurück. »Unsinn. Natürlich haben Sie das. Wir leben alle. Das würde ich doch geschafft nennen, oder nicht?« Whiggs’ Haarpracht war wundersamerweise verschont geblieben und im Gegensatz zu den anderen hatte sie auch keinerlei Verbrennungen davongetragen. Erics Gesicht fühlte sich dagegen an wie damals, als er als Kind im Garten eingeschlafen war und die Sonne ihm fürchterlich zugesetzt hatte.
Eine Signalpfeife plärrte an der nahegelegenen Straßenkreuzung, dann noch eine und noch zwei weitere. Die Löschdroschken der Feuerwache mit ihren Rettungsleitern und den dampfunterstützten Pumpenwagen waren im Anmarsch. In halsbrecherischem Tempo bog eine Feuerwehrdroschke um die Ecke und bahnte sich unter Zischen einen Weg durch die Ansammlung neugieriger Gaffer. Feuerwehrleute sprangen herab, entrollten die Wasserschläuche und schlossen sie an den nächsten Hydranten an. Alles ging routiniert und diszipliniert vonstatten, auch wenn die Hoffnung, das Gebäude zu retten, eher zweifelhaft war. Zumindest würde man versuchen, die angrenzenden Trakte und die Nachbarhäuser vor den Flammen zu schützen. Kurze Zeit später trafen die ersten Einheiten der Polizei ein und begannen sofort, die Zuschauermenge zurückzudrängen.
Im Gehsteig vor dem brennenden Ostflügel klaffte ein Krater, aus dem stinkend-ölige Rauchschwaden krochen. In der massiven Außenmauer des Asylums gähnte an dieser Stelle ein Loch, durch das man bequem einen Dampfschienenwaggon hätte fahren können. Noch immer fielen in unregelmäßigen Abständen Ziegel und ganze Mauerstücke herab, wenn sich der angeschlagene Bau stöhnend bewegte. Die Öffnung markierte den Ort, an dem zwei Stockwerke tiefer die Kellerräume mit Doktor Sartorius’ Laboren samt ihren Wiedergängertanks und aller Beweise im Plasmafeuer verbrannt waren.
Durch die geborstene Mauer taumelten verletzte Wachmänner, Pfleger und Insassen ins Freie hinaus. Während die Angestellten des Asylums ihre Wunden von den eingetroffenen Sanitätern versorgen ließen, genossen die ehemals Eingesperrten ihre ungewohnte Freiheit. Eine Frau in weißem Nachtgewand und wirr abstehenden Haaren lief barfüßig über den Hof, dabei deklamierte sie lauthals Verse des berühmten Lokaldichters Leifson Wielke. Ein anderer wandte von der Spitze einer Straßenlaterne den johlenden Zuschauern seine blanke Kehrseite zu. Mit einem Arm und einer bemerkenswert weittragenden Stimme ahmte er das Gebaren eines Hahns in den Morgenstunden nach. Vergeblich versuchten zwei Feuerwehrleute und ein Pfleger, den falschen Gockel zum Herabsteigen zu bewegen.
Die stämmige Gestalt des Chief Inspectors O’Donohue drängte sich durch die Menge und blieb vor Whiggs und Eric stehen. Von seinem fröhlichen Gemüt war angesichts dieser Zerstörung nicht allzu viel übrig geblieben. »Hier stecken Sie also. Ich hatte schon befürchtet, Ihre Überreste in dem Loch da zu finden. Was zum Henker ist passiert?« Er stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. »Ich hatte es so verstanden, als wollten Sie sich dort drin unauffällig umsehen. Stattdessen sprengen Sie den halben Hügel weg, dass man die Staubwolke bis Potters Field sieht. Verstehen Sie das unter unauffällig?«
»Was soll ich sagen, Chief Inspector?« Ein Schmunzeln kroch auf Erics rissige Lippen. »Wir haben da eine brandheiße Spur gefunden.« Als er die Miene des Polizisten sah, wurde er wieder ernst. »Um es kurz zu machen: Wir haben den Mörder gestellt, Sir. Und dessen Auftraggeber. Doktor Sartorius hat in den Kellern des Asylums seine persönliche Privatarmee aus Wiedergängern gezüchtet.«
»Er hat was?«
»Wiedergänger, Sir«, sagte Whiggs. »Mehr als zwei Dutzend unglaublich starke, hoch entwickelte und modifizierte Plasmierte, für die er eigens Hesiodplasma …«
»Hesi … was bitte?« O’Donohue blickte misstrauisch zwischen Eric und Whiggs hin und her. »Geht das auch in verständlichen Worten?«
»Hesiodplasma. Ein überaus seltenes und gefährliches Derivat von drastisch energetisiertem …«
»Schon in Ordnung, Miss.« O’Donohue hob abwehrend die Hände. »Sparen Sie sich das für die Techniker. Doktor Sartorius hat also Wiedergänger produziert. Das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung.«
»Sir! Ich versichere Ihnen, dass es wahr ist«, sagte Eric.
O’Donohue winkte müde ab. »Ich gebe zu, dass es Sinn ergibt. Immerhin ist Sartorius unser Beauftragter für die Evaluierung von Plasmierten. Er hätte durchaus die Möglichkeiten gehabt. Aber warum sollte er so etwas tun?«
Whiggs seufzte. »Er hat sie auf die Quexer angesetzt, die deshalb wiederum über die Stadt der Tunnler hergefallen sind. Und aus den Reihen meiner Leute bezog er dann auch die Leichen für die Wiedergänger.«
Eric und O’Donohue warfen ihr einen fragenden Blick zu. Whiggs zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie gesehen«, sagte sie leise.
»Das erklärt immer noch nicht das Warum.«
»Sie haben recht, Sir«, bestätigte Eric. »Die Tunnler waren nicht sein wesentliches Ziel. Er wollte die Quexer zusammentreiben und aus den Tunneln hinauf auf die Straßen jagen.«
»Von wie vielen Quexern sprechen wir hier eigentlich?« O’Donohue zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.
»Von Hunderten«, sagte Whiggs. »Vielleicht sogar Tausenden.«
O’Donohue sah sie entgeistert an. »Ist das Ihr Ernst?«
Als die Emanatin nickte, ließ er sich ächzend neben ihr auf die Treppenstufen fallen. Er zog eine bereits angerauchte Zigarre aus seiner Uniformjacke. »Himmel, so viele? Das hätte ein Blutbad gegeben. Wir hätten sie niemals aufhalten können.«
»Exakt, Sir«, sagte Eric. »Genau das war die Idee. Sobald es zu einer hinreichend erschreckenden Zahl an Opfern unter den Zivilisten und Ihren unvorbereiteten Truppen gekommen wäre, hätte er seine kampfbereiten Plasmierten aus der Rocktasche gezaubert und die Quexer vernichtet.«
O’Donohue kaute nachdenklich auf seiner kalten Zigarre und tastete nach einem Zündholz. »Ich kann mir vorstellen, dass einige Ministerien nach einer derart eindrucksvollen Demonstration ihre ablehnende Haltung in Bezug auf die Plasmierten überdenken würden. Sartorius könnte vermutlich Hunderte produzieren. Und als Zuständiger für die Evaluierung würde er eine ordentliche Stange Geld dafür …«
»Verzeihung, Chief«, unterbrach ihn Eric. »Sie denken in zu kleinem Maßstab. Sein Ziel war es, die Lizenz zur Fertigung tausender Plasmierter zu bekommen. Soldaten für den Krieg in den Kolonien. Das wäre im Übrigen wesentlich leichter an die Ministerien zu verkaufen. Und es hätte ihn auf einen Schlag zum mächtigsten Mann Steamtowns gemacht. Von reich wollen wir gar nicht erst reden.«
»Du meine Güte.« Das Zündholz in O’Donohues Hand war vergessen. »Sie müssen allerdings zugeben, dass das verdammt abenteuerlich klingt, Mister van Valen. Und Doktor Sartorius soll auch noch diesen Hartlefield auf dem Gewissen haben?«
»Leider, Sir. Er hat einen seiner Plasmierten auf ihn angesetzt. Hartlefield war angestellter Inspekteur der Steamtown Power Transmission Ltd. Er hatte herausgefunden, dass Sartorius hochenergetisches Plasma aus ihren Leitungen abzweigen ließ. Vermutlich zur Herstellung dieses Hesiodplasmas für die Wiedergänger. Sie erinnern sich? Das war genau das, was Pater Grand an seiner Leiche entdeckt hatte. Das war wohl der Grund, warum Hartlefield sterben musste.«
»Hm. Was ist mit dem anderen Toten, diesem Doktor?«
»Doktor Dunston war, wie wir wissen, Spezialist für Hesiod-Plasma. Die erste Adresse, wenn man so viel wie möglich über das Zeug erfahren wollte.«
»Was ihn für eine anschließende Beseitigung prädestinierte. Klar.«
Eric nickte. »Was auch Mister Espositos Tod erklärt. Er war Pfleger im Asylum und wusste, was in den Kellern vor sich ging. Als er nach seiner Entlassung ungeschickterweise als Wachmann bei der Steamtown Power Transmission Ltd. anheuerte, war er eindeutig zu einem Sicherheitsrisiko geworden.«
»Das klingt alles schön und gut, Mister van Valen, und ich bin geneigt, Ihnen zu glauben. Aber das allein hilft uns nicht weiter. Wo sind Ihre Beweise? Und vor allem: Wo sind der Mörder und Sartorius?«
»Tja, das ist das Problem.« Eric deutete auf das qualmende Loch in der Straße. »Vielleicht finden Sie dort unten etwas, wenn die Brandherde gelöscht sind. Ich fürchte allerdings, weder von Doktor Sartorius noch von seiner Armee oder sonstigen Beweisstücken dürfte viel übrig sein. Es war ein ausgesprochen beeindruckendes Feuer.« Mit einem freudlosen Lächeln legte er vorsichtig ein paar Finger auf sein Gesicht.
Der Chief Inspector musterte ihn, bis er sich mit einem Grunzer auf die Füße stemmte. Er streckte Eric die Hand entgegen. »Ich glaube Ihnen tatsächlich, Mister van Valen. Das hilft uns zwar nicht weiter, aber wir werden sehen, was wir finden. Ich danke Ihnen.« Als Eric seine Hand ergriff, fügte er hinzu: »Sie können sicher sein, dass ich mich beim Ministerium für Sie einsetzen werde. Schließlich sollte man einen so vielversprechenden Agenten nicht unnötig lange von seiner Arbeit abhalten. Falls Ihre Vorgesetzten Ihnen trotzdem Schwierigkeiten machen, schicken Sie sie zu mir. Ich werde sagen, Sie haben in meinem Auftrag gehandelt. Das dürfte die Wogen etwas glätten, meine ich.«
»Danke, Chief Inspector. Das weiß ich zu sehr zu schätzen.«
»Das will ich doch hoffen, junger Mann.« O’Donohue tippte sich grüßend an die Stirn. Dann wandte er sich ab und musterte den Himmel. »Ich will verdammt sein, wenn es heute keinen Regen gibt. Warum immer in meiner Schicht?« Er straffte die Schultern und stapfte davon, um einigen Untergebenen Befehle zuzubrüllen.
Von den Stufen des benachbarten Treppenaufgangs sahen Joey und Mister Ferret dem Chief Inspector nach. Wie er so bewegungslos dahockte, den verkohlten Bowler tief ins Gesicht gezogen, sah der dünne Mann mehr denn je wie eine zerfledderte Vogelscheuche aus, die man vor etlichen Jahren von einem Feld gestohlen und hier abgeladen hatte.
»Sieht nicht gut aus für Ihren Vorgesetzten, oder, Mister Ferret?« Genüsslich sog Joey an seiner Zigarette. »Mister van Valen ist ein feiner Kerl. Ich fürchte allerdings, dass er aus Sicht des Ministeriums den Bogen ein wenig überspannt hat. Man wird sie dort nicht mit offenen Armen empfangen, das ist Ihnen klar? Ich gehe sogar davon aus, ganz besonders Sie nicht, Mister Ferret. Einen Wiedergänger, der einem Befehl des Ministeriums zuwiderhandelt?« Skeptisch wiegte Joey den Kopf.
»Man wird sich vermutlich damit schwertun, meine genaue Fehlfunktion zu evaluieren, Sir«, sagte Mister Ferret und starrte geradeaus. »Sie erinnern sich vielleicht, wo das eigens dafür eingerichtete Labor befand – und wer es geleitet hat, Sir.«
Joey folgte seinem Blick und schmunzelte. Ein weiteres Stück Mauer brach zusammen und gab die Sicht auf lodernde Flammen frei. »Sie sind ein Mann mit bemerkenswertem Einfallsreichtum, Mister Ferret. Wir könnten in unserer Einheit Leute wie Sie gebrauchen. Also falls Sie mal kündigen wollen und einen neuen Job suchen …«
»Sir, ich kann nicht kündigen. Ich bin ein Werkzeug im Besitz des Ministeriums und als solches nicht für meine Aktionen verantwortlich. Ich fürchte, das Problem wird ganz bei Mister van Valen liegen, Sir.«
Der Polizist musterte ihn gedankenversunken und sah schließlich zu Eric hinüber. »Tja, wir müssen alle sehen, wo wir bleiben. Dürfte ich Sie eventuell beim Ministerium anfordern, wenn ich Bedarf für jemanden wie Sie hätte? Was meinen Sie?«
Mister Ferret hob die unbeschädigte Schulter und ließ sie wieder fallen. »Ich wüsste nicht, was Sie davon abhalten könnte, es zu versuchen, Sir.«
Joey und der dünne Mann saßen einen Moment lang schweigend nebeneinander. Joey griff in seine Jacke. »Sofern Sie doch über einen Karrierewechsel nachdenken, Mister Ferret, dann sollte ich Ihnen vielleicht diese Karte hier überreichen. Ist von einem gemeinsamen Bekannten im grauen Anzug. Und ich sollte Ihnen ausrichten, dass man nicht unbedingt hochzufrieden ist, aber mit dem Ergebnis leben kann. Man hat also in Zukunft eventuell weitere Verwendung für Sie.«
Mister Ferret betrachtete Joey regungslos. Behutsam nahm er ihm die Karte aus der Hand und drehte sie um. Auf der Rückseite fand sich das Siegel, das er erwartet hatte.
Der Polizist schnippte den Rest seiner Zigarette auf die Straße und stand auf. »Man sieht sich, Mister Ferret.«
»Ich fürchte, die Alternative wäre, mir die Augen zu entfernen, Sir.«
Joey grinste, steckte die Hände in die Taschen und verschwand im Gedränge der Schaulustigen.
Mister Ferret blinzelte. Einmal.
Er sah zu dem benachbarten Treppenaufgang hinüber, wo Eric mit Whiggs’ Hilfe mühsam auf die Füße gekommen war. Der Agent winkte ihm zu.
»Kommen Sie, Mister Ferret. Machen wir, dass wir von hier verschwinden.«
»Nichts lieber als das, Sir.«
Niemand beachtete die Drei, als sie gemeinsam das Gelände des Coleman-Asylums verließen und der Straße in Richtung Innenstadt folgten. Whiggs hatte sich bei Eric untergehakt.
»Ich hoffe, Sie kennen ein angemessenes Etablissement, Eric.«
Der Agent zog erstaunt eine versengte Augenbraue hoch.
»Wofür genau, Miss Eleonore?«
»Sie wollen mich doch in ein anständiges Lokal ausführen, oder etwa nicht?«
»Äh … selbstverständlich, Miss Eleonore.«
»Gut, dann nehme ich Ihre Einladung sehr gern an. Allerdings würde ich zuvor eine Stunde schlafen und mich frisch machen. Außerdem würde ich vorschlagen, dass auch Sie sich vorher ein ausgiebiges Bad genehmigen. Sie riechen etwas unangenehm, wenn ich das so sagen darf.«
Eric lachte herzlich und Whiggs tat es ihm kurz darauf nach. »Das dürfen Sie, Eleonore, das dürfen Sie.«
Mister Ferret blinzelte.
Nochmals.