Stride und Serena lebten in einem Viertel namens Park Point auf einer schmalen Landzunge, die die tosenden Wasser des Lake Superior von den Häfen trennte, in denen riesige Lastschiffe Kohle, Takonit und Getreide luden und entluden. Sie wohnten auf der dem See zugewandten Seite, nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Als er am Donnerstagmorgen kurz vor Sonnenaufgang nach Hause kam, hörte er in der windigen Finsternis die Wellen jenseits der Düne mit der Macht einer einfallenden Armee gegen den Strand schlagen. Er folgte dem verschneiten Pfad hinter ihrem aus den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts stammenden Häuschens und stieg die Böschung hinauf, hinter der sich das schlammige Wasser auf dem Sand brach. Im Augenblick war vom Strand nur eine graue Eisschicht zu sehen. Kahle, nackte Baumstämme, die monatelang im See getrieben hatten, lagen am Ufer verstreut.
Das wilde Raygras oben auf der Böschung wogte wie eine kastanienbraune Wand, und zu seinen Füßen mischten sich Schnee und nasser Sand wie geschmolzene Marshmallows und Schokoladeneis. Er sog die kühle, frische Luft ein. Westlich von ihm, am Hang jenseits des Sees, schimmerten die Lichter von Duluth durch den Nebel. Zu seiner Rechten erstreckte sich die Halbinsel noch einen guten Kilometer weit, und auf der anderen Seite des offenen Wassers kreiste im Dunst der Lichtkegel eines Leuchtturms an dem zu Wisconsin gehörenden Teil des Ufers. Obwohl die Sonne bald aufgehen musste, schien es kaum vorstellbar, dass sich hinter den dichten Wolken über der Stadt ein Wärme spendendes Gestirn verbarg.
Wenn er hierher kam, packte ihn unweigerlich ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlusts. Von den Menschen, die ihm einmal wichtig gewesen waren, lebte keiner mehr. Er war am Nordufer des Sees aufgewachsen und hatte zuerst seine Eltern verloren. Dann war die Frau gestorben, mit der er zwanzig Jahre lang verheiratet gewesen war. Solange Cindy lebte, hatte er nie bedauert, keine Kinder zu haben, aber nun tat es ihm manchmal leid, dass ihm nur seine verblassenden Erinnerungen an sie geblieben waren. Beim Anblick der tobenden Wellen fiel ihm sein Vater ein, der im See ertrunken war, als Stride ein Teenager war. Oft stellte er sich vor, wie sein Erzschiff fern vom Land durch die tiefen, kalten Wellentäler pflügte. Immer wieder wurde dabei jemand über Bord gespült. Seine Leiche wurde nie gefunden.
Er fragte sich, ob man wirklich nicht nach Hause zurückkehren konnte. Genau das versuchte er nämlich. Jahrelang hatte er mit Cindy auf dem Point gewohnt, aber nach der Heirat mit seiner zweiten Frau war er weggezogen, was er immer bereut hatte. Die Ehe hatte nur drei Jahre lang gehalten und war von Anfang an ein Fehler gewesen. Das war ihm klar geworden, als er Serena kennenlernte und sich in sie verliebte. Im vergangenen Jahr waren sie gemeinsam von Las Vegas nach Duluth gezogen, und er hatte sich wieder ein Haus auf dem Point gekauft. Nun war er dahin zurückgekehrt, wo er einen Großteil seines Lebens verbracht hatte. Daraus schöpfte er neue Kraft, aber er hatte Angst, zu viel Zeit in der Erinnerung zu verbringen.
Hinter ihm knirschte der Schnee. Als er sich umdrehte, kam Serena die Böschung herauf. Das schwarze Haar fiel ihr ungekämmt über die Schultern. Selbst in ihrem dicken Mantel und mit den langen Beinen bis zu den Knien in Schneewehen besaß sie eine ganz besondere Anmut und Schönheit. Wortlos gesellte sie sich zu ihm und sah mit ihm auf den See hinaus. Die beißend kalte Morgenluft färbte ihr ungeschminktes Gesicht rosig.
»Ich weiß, dass du das nicht hören willst«, sagte sie leise, »aber du kannst nicht von vornherein ausschließen, dass Maggie es getan hat.«
Strides Gesicht erstarrte zur Maske, und er trat mit den Stiefeln gegen den nassen Sand. »Völlig undenkbar.«
»Ich sage ja nicht, dass es so war, aber sie steht seit einem Jahr unter großem emotionalem Stress. Das hält niemand ewig aus.«
»Ich weiß, aber sie sagt, sie ist unschuldig.«
»Und was meint Teitscher?«
»Der? Für den ist sie schon überführt. Und ich fürchte, er wird einiges ausgraben, wenn er lange genug buddelt.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich glaube, zwischen Maggie und Eric lief es nicht gut.«
Serena wirkte nicht überrascht. »Sie hatte drei Fehlgeburten in achtzehn Monaten, Jonny. Das nimmt jeden mit.«
»Ich weiß, aber Eheprobleme wären ein Motiv. Vor allem, da Eric Geld hat. Teitscher glaubt übrigens, dass Maggie mit etwas hinter dem Berg hält. Ich fürchte, er hat recht.«
»Weißt du, was es ist?«
»Nein.«
Serena hakte sich bei ihm unter. »Weißt du, Maggie hat mir vor ein paar Monaten eine merkwürdige Frage gestellt. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat.«
»Was denn?«
Sie zögerte. »Willst du das wirklich wissen? Ich will nicht, dass du denkst, du musst das Teitscher erzählen, aber mir ist klar, dass alles seine Grenzen hat.«
Stride schnitt eine Grimasse. Schon als er mitten in der Nacht zu Maggie gefahren war, hatte er gewusst, dass er sich in einer ethischen Grauzone bewegte, für die es keine Landkarte gab. Er fragte sich, ob seine Prinzipien elastisch genug dafür waren. »Sag’s mir.«
»Sie hat mich gefragt, ob wir beide je was Abartiges getan hätten.«
Stride zog eine Braue hoch.
»Im Bett«, stellte sie klar.
»Hast du ihr von dem Gartenschlauch erzählt?«
Serena versetzte ihm einen Rippenstoß. »Ich meine es ernst. Es klang, als hätte Eric einen Hang zur Perversion.«
»Und was heißt das konkret?«
Serena zuckte die Achseln. »Das hat sie nicht gesagt.«
Stride überlegte schweigend. Die Richtung, in die sich die Sache entwickelte, gefiel ihm gar nicht.
»Offiziell weißt du von nichts«, wiederholte Serena. »Maggie wollte nicht, dass ich dir davon erzähle.«
Er nickte. »Du könntest ihr helfen, Serena. Sie wird jemanden brauchen, der die Sache von ihrem Standpunkt aus untersucht. Ich muss mich zurückhalten, damit es nicht aussieht, als bekäme sie eine Sonderbehandlung.«
»Ich werde tun, was ich kann.«
Serena war nicht mehr bei der Polizei. Da Stride ihr Vorgesetzter gewesen wäre, hatten sich die Rechtsberater der Personalabteilung gegen ihre Einstellung ausgesprochen, um keinen Verdacht auf Vetternwirtschaft aufkommen zu lassen. Stattdessen hatte sie sich eine Lizenz als Privatdetektivin besorgt, aber sie kam nicht recht ins Geschäft. Bisher hatte sie vor allem im Auftrag von örtlichen Start-up-Unternehmen, die sich über ihre Wettbewerber informieren wollten, Handelsblätter durchforstet und Industriekongresse besucht. Er wusste, wie sie diese Aufträge langweilten. Sie war ruhelos, weil sie im Grunde ihres Herzens Polizistin war und die Arbeit im Feld vermisste.
»Ich treffe mich heute mit einem neuen Klienten«, sagte sie.
»So?«
»Dan Erickson will mich engagieren.«
»Dan?«, fragte Stride zurück. »Wieso denn das?«
Serena zog empört die Brauen hoch. »Wie bitte?«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Angeblich ist meine Erfahrung bei der Polizei ein Plus«, erklärte Serena.
»Nur dass du mit mir zusammenlebst. Das müsste für Dan ein fettes Minus sein.«
Dan Erickson war Bezirksstaatsanwalt und Chefankläger für die Region. Er gab Stride die Schuld daran, dass die Medien nach einem fehlerhaften Verfahren über ihn hergefallen waren und seine Wahl zum Generalstaatsanwalt verhindert hatten. Das hatte seiner politischen Karriere in Minnesota dauerhaft geschadet. Es war ein offenes Geheimnis, dass er sich darüber ärgerte, in den Wäldern von Duluth festzusitzen, und fieberhaft nach einem Ausweg suchte.
»Überleg dir das gut, Serena«, warnte er.
»Ich kann nicht ablehnen. Das ist mein Durchbruch.«
Er hörte die sture Entschlossenheit in ihrer Stimme und wusste, dass sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte. »Du darfst ihm nicht trauen.«
Serena zuckte die Achseln. »Dan Erickson kann mir in Minnesota die Türen öffnen. Übrigens traue ich meinen Klienten grundsätzlich nicht.«
»Weißt du, was er will?«, fragte Stride.
»Nein, dazu wollte er sich am Telefon nicht äußern. Er hat mich gebeten, dir nichts davon zu erzählen.«
»Aber du hältst dich nicht daran.«
»Das kommt in die Box.«
Die »Box« war ein Code und eine Methode, Geheimnisse miteinander zu teilen, ohne dass einem von ihnen dadurch beruflich oder privat Probleme entstanden. Tatsache war, dass sie einander brauchten. Stride benötigte bei seinen Ermittlungen Serenas Rat, weil sie mehr Erfahrung besaß als die meisten seiner Detectives. Ihr Beitrag musste jedoch vertraulich und inoffiziell bleiben. Dafür wollte Serena Strides Meinung zu ihren eigenen Aufträgen einholen können, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Informationen in einer Polizeiakte landeten. Also erfanden sie die Box. Wenn sie etwas privat miteinander besprechen wollten, landete es in der Box.
»Er wird dich anbaggern«, stellte Stride mit einem Lächeln fest.
»Der baggert jede an.«
»Solange dir das klar ist.«
»Wieso lässt seine Frau sich das eigentlich gefallen? Das Geld hat doch sie.«
»Bei Dan und Lauren geht es um Macht, nicht um Sex. Wenn sich Lauren für Dans Affären interessieren würde, hätte sie ihn schon längst vor die Tür gesetzt.«
»So kann nur ein Mann denken«, sagte Serena. »Was kann er wollen?«
»Vermutlich Material gegen einen politischen Gegner ausgraben.«
»Ja, das vermute ich auch. Das Parlament tritt demnächst wieder zusammen.«
»Pass nur auf, dass er dich nicht auflaufen lässt«, warnte Stride. »Für Dan zählt nur einer: er selbst. Alle anderen sind entbehrlich. Das weiß ich aus Erfahrung.«
»Ich kann auf mich aufpassen.«
Serena schloss die Augen und hob das Kinn in den eisigen Wind. Wenn sie so aussah, gab es keine Diskussion.
Stride wusste, dass sie lange allein überlebt hatte und fest entschlossen war, ohne seine Hilfe zurechtzukommen. Duluth konnte auf seine Art ebenso extrem und brutal sein wie Las Vegas, aber das sagte er ihr nicht. Angesichts der riesigen Wasserfläche des Sees wurde ihm immer wieder bewusst, wie winzig ein einzelner Mensch in diesem Teil der Welt war, so stark er auch sein mochte. Das Land war stärker.