Zunehmend verzweifelt, fuhr Maggie kreuz und quer durch die Straßen von Duluth. Das Wetter machte alles nur noch schlimmer. Die Scheibenwischer schoben zwar den Schnee von der Windschutzscheibe, aber die Niederschläge waren so heftig, dass sie in den Lichtkegeln der Scheinwerfer nur ein Meer wirbelnder weißer Flocken sah. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu erkennen, und der Avalanche rutschte auf den ungeräumten Straßen immer wieder weg. Den Leuchtziffern der Uhr in der Instrumententafel nach war es fast vier Uhr morgens. Bis Tagesanbruch waren es noch mehrere Stunden, und selbst wenn die Sonne aufging, würde die undurchdringliche schwarze Wolkenschicht das Licht schlucken, und der von der kanadischen Tundra heranrasende Wind würde den Schnee weiterhin zu haushohen Verwehungen auftürmen. Außer ihr war in diesem Wetter mitten in der Nacht niemand auf der Straße. Die Autos am Straßenrand waren im Schnee versunken. Wenn sie einen Van mit der richtigen Größe entdeckte, musste sie aussteigen und den Schnee mit der Hand wegfegen, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um den verschwundenen Firmenwagen von Byte Patrol handelte.
Als sie an der 4th Street das Südende des Portland Square passierte, sah sie im oberen Stock eines Hauses jenseits des Parks Licht brennen. Katrina Kulis Wohnung. Maggie wusste genau, warum die Räume taghell erleuchtet waren. Noch Wochen nach der Vergewaltigung war sie selbst immer wieder nachts aufgestanden, hatte alle Lichter eingeschaltet und sich, die Waffe griffbereit auf dem Tisch, in die Küche gesetzt. Das war irrational, aber Angst trieb einen zu den merkwürdigsten Dingen.
Sie bog links ab und fuhr um den Park herum zur Nordseite der Grünanlage, wo sie in der Nähe von Katrinas Haus parkte. Der Wind warf sie fast um, als sie aus dem Auto stieg. Sie kämpfte sich durch die Schneeverwehungen auf dem Gehweg zur Tür. In den schützenden Eingang geduckt, drückte sie den Klingelknopf.
»Wer ist da?«, fragte Katrinas blecherne Stimme aus der Sprechanlage.
»Maggie.«
»Oh. Hallo. Komm rauf.«
Maggie stapfte die Treppe hinauf, wobei sie eine Spur nasser Fußabdrücke hinterließ. Als sie den ersten Stock erreichte, stand Katrina schon in der offenen Tür. Sie trug ein übergroßes T-Shirt des Minnesota-Wild-Hockeyteams, das ihr bis über die Oberschenkel reichte, und war barfuß.
»Entschuldige die späte Störung«, sagte Maggie.
»Ich war sowieso auf.«
»Ja, das dachte ich mir schon.«
Katrina nickte. »Ich habe ferngesehen. Klingt nicht gut, die Sache mit deiner Freundin Serena.«
»Gar nicht gut.«
»Ist das der Kerl, der ...«
»Davon gehen wir aus.«
»Willst du reinkommen?«
»Gern, aber nur für ein paar Minuten.«
Als Maggie in der Wohnung Mantel, Mütze und Handschuhe ablegte, tropfte Schmelzwasser auf den Teppichboden. Maggie setzte sich auf den gelben Futon in der Nähe des künstlichen Kamins, dessen Gasflamme immerhin eine gewisse Wärme abstrahlte. Katrina ließ sich am anderen Ende nieder.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte Maggie, nachdem sie sich eine Zeitlang angestarrt hatten.
»Warum?«
»Weil ich keine Anzeige erstattet habe. Vielleicht wäre der Kerl dann rechtzeitig gefasst worden, und dir wäre das alles erspart geblieben.«
»Du kannst nichts dafür.«
»Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?«
»Wie ein leerer Milchkarton. In mir ist gar nichts mehr.«
»Das wird wieder besser.«
»War es bei dir auch so?«
Maggie schüttelte den Kopf. »Ich bin völlig durchgedreht. Ich konnte nicht aufhören zu heulen.«
»Hast du seitdem Sex gehabt?«
Maggie schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Allein bei dem Gedanken wird mir schlecht. Der Mistkerl hat mir auch das genommen.«
»Lass dir Zeit«, sagte Maggie schuldbewusst. »Hätte ich bloß was gesagt!«
»Hör doch auf«, wehrte Katrina ab. »Du bist nur für dich selbst verantwortlich!«
»Stride versteht das nicht«, erklärte Maggie.
»Er ist ein Mann. Die Sache ist dir passiert, nicht ihm. Du kannst dich nicht ständig nach ihm richten.«
»Das tue ich ja gar nicht.«
»Nein? Ganz was Neues.«
»Er ist mein Sicherheitsnetz, das weißt du doch. Als die Beziehung mit Eric den Bach runterging, war ich gleich wieder bei Stride. Bei ihm brauche ich mir keine Gedanken zu machen, weil er sich sowieso nicht für mich interessiert.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Vergiss es! Für ihn bin ich ein kleines Mädchen. Und mit einer Frau wie Serena kann ich sowieso nicht mithalten.«
»Dann orientiere dich doch zur Abwechslung mal an der Realität«, riet Katrina. »Was willst du wirklich?«
»Keine Ahnung.«
»Blödsinn. Du weißt es ganz genau.«
»Was meinst du?«
»In den letzten zwei Jahren hattest du nur einen großen Wunsch. Und dabei ging es weder um Stride noch um Eric.«
»Ein Kind«, sagte Maggie.
»Volltreffer.«
»Das kann ich mir abschminken. Drei Fehlversuche sind genug. Ich bin draußen.«
»Das weißt du doch gar nicht.«
Maggie schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage! Diese emotionale Achterbahnfahrt stehe ich nicht noch einmal durch. Erst schwebe ich im siebten Himmel, meine Hormone spielen verrückt, und dann bricht die Welt für mich zusammen. Ein viertes Mal mache ich das nicht mit. Außerdem ist mir mein Ehemann abhandengekommen.«
»Der ist ja nicht unbedingt erforderlich.«
»Ich will jetzt noch nicht darüber nachdenken. Es ist einfach zu früh dafür«, sagte Maggie.
»Du könntest ein Kind adoptieren.«
»Klar, als alleinstehende chinesische Einwanderin und Polizistin, die des Mordes an ihrem Ehemann verdächtig ist, lande ich bestimmt ganz oben auf jeder Liste.«
»Denk zumindest darüber nach.«
»Das werde ich.«
Tatsächlich hatte sie bereits eingehend darüber nachgedacht und sogar ein paar entsprechende Anrufe getätigt.
»Willst du was trinken?«, fragte Katrina.
»Ich könnte eine ganze Flasche leeren, aber ich darf nicht.«
»Bist du im Dienst?«
Maggie nickte. »Allerdings inoffiziell. Fast alle Kollegen sind auf der Suche nach dem Schwein. Wir wissen nur nicht, wo wir nach ihm suchen sollen.«
»Ich kann nur hoffen, ihr erwischt ihn. Was mich betrifft, können sie sich den Prozess sparen und ihn direkt auf den elektrischen Stuhl befördern. Ich könnte ihnen persönlich zeigen, wo die Elektroden hingehören.«
»Geht mir genauso.«
»Hast du Alpträume?«, fragte Katrina.
Maggie nickte. »Ständig.«
»Ich auch. Immer wieder erlebe ich es, aber es ist wie in einem Film. Ich sehe mir selbst zu.«
»Ich habe die Sache ziemlich verdrängt«, gestand Maggie. »Normalerweise habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber um das, was damals passiert ist, habe ich innerlich eine Mauer gezogen.«
»Da kannst du dich glücklich schätzen«, meinte Katrina. »Ich hätte nie Alpha-Girl spielen sollen. Ich wusste ja, dass dir dabei nicht wohl war.«
»Das war meine persönliche Angelegenheit. Ich konnte dir schließlich nicht sagen, was du tun solltest.«
»Ja, aber ich habe deinen Blick gesehen und hätte mir denken können, wie peinlich die Sache werden würde. Aber ehrlich gesagt dachte ich nicht, dass Eric tatsächlich da sein würde. Keine Ahnung, was ich mir gedacht hatte. Es war einfach nur blöd.«
Maggie runzelte die Stirn. »Und ich hätte mir nicht träumen lassen, dass du auch überfallen wirst. Mir war nicht klar, dass es eine Verbindung zum Klub gab. Jetzt komme ich mir vor, als hätte ich dich zum Abschuss freigegeben.«
»Ich bin ja auch ein gut sichtbares Ziel«, meinte Katrina.
»Du weißt, was ich meine.«
»Das mit dem Sex und dem demolierten Gesicht ginge ja noch, aber mich ärgert wirklich, dass mir Fish and Chips nicht mehr schmeckt.« Ihr Lachen klang bitter.
»Was soll das denn heißen?«
»Ich kann nicht mal mehr an der Fischtheke im Supermarkt vorbeigehen, weil der Geruch alles wieder wachruft.«
Maggie sah sie verständnislos an. »Das kapiere ich nicht.«
Katrina verzog überrascht das Gesicht. »Kannst du etwa noch Fisch essen?«
»Jetzt, wo du es erwähnst, nein. Ich bringe seit Wochen keinen Fisch mehr herunter. Aber was hat das mit der Sache zu tun?«
»Du hast tatsächlich alles verdrängt! Gut für dich. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Die Hände von dem Kerl stanken nach Fisch, sogar durch die Handschuhe. So ein modriger Salzgeruch. Ich kam mir vor wie unter Wasser. Furchtbar.«
Die Erinnerung brach mit der Gewalt eines durchgehenden Pferdes über Maggie herein und nahm ihr den Atem. Sie schlug die Hände vor den Mund und kniff die Augen zu. Alles war plötzlich wieder da. »Himmel!«
»Tut mir leid, das wollte ich nicht.«
Maggie ballte die Fäuste. »Nein, nein, das war völlig richtig. Es ist wichtig. Erinnerst du dich sonst noch an etwas?«
»Nein. Außer mir und Charlie, dem Thunfisch, war da nichts.«
Maggie riss das Handy aus ihrer Tasche und rief Stride an. Er meldete sich sofort.
»Fisch«, sagte sie.
»Was?«
»Fisch. Die Hände von dem Typen stanken nach Fisch. Ich bin bei Katrina, die hat mich gerade dran erinnert. Das muss etwas zu bedeuten haben. Vielleicht hat er ein Räucherhaus, oder er arbeitet in einer Fischfabrik.«
Schweigen in der Leitung.
»Bist du noch da?«, fragte Maggie.
»Holzimitat«, sagte Stride.
»Wie bitte?«
»Auf seinem Rechner war ein Foto von Holzimitat, wie aus einem Wohnmobil oder so. Und im Gefrierfach hatte er Fisch. Der war in Folie eingewickelt, also nicht aus dem Supermarkt. Er muss ihn selbst gefangen haben.«
»Der Kerl sitzt in einem Fischhaus«, schloss Maggie.
»Genau. Das muss es sein. Er ist draußen auf einem der Seen.«
»Aber auf welchem?«
»Tanjys Leiche wurde aus dem Hell’s Lake gefischt«, sagte Stride. »Kann gut sein, dass er da eine Hütte hat.«
»Bist du in der Nähe?«, fragte Maggie.
»Ich war gerade dabei, mir die Lagerhäuser am Flughafen vorzunehmen. In zehn Minuten kann ich auf dem Eis sein.«
»Ich komme hin.«