Als Maggie ins Krankenhaus kam, lag Serena in ihrem Bett und starrte mit leerem Blick auf den von der Decke hängenden Fernseher. Bei Maggies Anblick schaltete sie das Gerät mit der Fernbedienung aus und begrüßte sie mit einem schwachen Lächeln. Ihre Schulter war bandagiert, und um die Ohren und über das blasse, schöne Gesicht verlief ein durchsichtiger Sauerstoffschlauch. Das schwarze Haar war hinter ihrem Kopf zurückgebunden. Ihr Körper war unter der Decke nicht zu sehen, aber die bloßen Arme waren mit kirschroten Verbrennungen bedeckt.
Serena hatte ihren Blick gesehen. »Der Rest sieht schlimmer aus«, sagte sie.
»Ich weiß.« Maggie zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Sie zog die Oberlippe zwischen die Zähne und biss darauf herum. Es war unangenehm warm im Zimmer. Ihr Blick wanderte zu der bernsteingelben Flüssigkeit im Infusionsbeutel und zu dem Aquarelldruck von Canal Park an der himmelblauen Wand. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie geht es dir? Alles in Ordnung? Klingt blöd.«
Serena hatte den rosa Karton auf Maggies Schoß entdeckt. »Ist das für mich?«
Maggie sah nach unten. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Donuts. Willst du einen? Ich habe traditionell, Schoko und welche mit Cremefüllung, die rausspritzt, wenn man reinbeißt.«
Serena lachte, was sie mit stechenden Schmerzen bezahlen musste. »Traditionell, bitte.«
»Soll ich dich füttern?«
»Nein, meinen linken Arm kann ich benutzen.«
Maggie ritzte das Klebeband mit dem Fingernagel auf, öffnete den Karton und reichte Serena einen Donut, den diese mit drei Bissen verschlang. Dann wischte sie sich die Krumen von den Lippen. Maggie entschied sich für Schoko und stellte den Karton auf den Tisch an Serenas Bett.
»Wo ist das Morphium?«, fragte Maggie.
»Ich wollte keins mehr.«
»Warum? Brandverletzungen sind extrem schmerzhaft.«
»Die Infusion wird so eingestellt, dass man seine Dosis selbst auf Knopfdruck abrufen kann«, erklärte Serena. »Du kennst mich doch. Ich neige von der Persönlichkeitsstruktur her zu Suchtverhalten. Wenn ich hier rauskomme, will ich nicht von Schmerzmitteln abhängig sein.«
»Aber ohne wird es im Moment nicht gehen«, wandte Maggie ein.
»Wenn ich es nicht mehr aushalte, rufe ich die Schwester und lasse mir eine Spritze geben.«
»Wann war die letzte?«
»Das ist schon zu lange her«, gab Serena zu.
»Spiel hier nicht die Heldin.«
Serena warf einen Blick auf den Notknopf, der in der Nähe ihrer rechten Hand baumelte, griff aber nicht danach. »Ich habe die Nachrichten gesehen«, sagte sie. »Das mit Enger Park.«
»Stride glaubt, dass es sich um Helen Danning handelt.«
Serena zog die Brauen hoch. »Es gibt also eine Verbindung zu dem Mord an Eric?«
»Könnte sein.«
»Das ist gut für dich.«
Maggie kaute achselzuckend an ihrem Donut. Sie leckte sich die Schokolade von den Fingern. »Solange sie mich nicht für die Täterin halten. Ich stehe allerdings nicht aufs Köpfen. Zu viel Blut. Lieber gebe ich den Leuten eins auf die Rübe.«
»Sehr sympathisch«, sagte Serena.
»Mir graut bei dem Gedanken, dass wir wieder einen Enger-Park-Mord haben. Der letzte hat mich lang genug verfolgt.«
»Wir kennen alle solche Fälle.«
Das stimmte, aber trotzdem war das Mädchen vom Enger Park anders gewesen. Herzzerreißend einsam hatte der verstümmelte Leichnam im nassen Gras gelegen, nur noch ein Stück Fleisch, das dort verrotten sollte. Eine letzte Demütigung, die der Täter seinem Opfer zugefügt hatte, nachdem er es gequält, vergewaltigt und schließlich ermordet hatte. Maggie hätte der jungen Schwarzen gern ihren Namen und damit ein wenig von ihrer Menschlichkeit zurückgegeben. Bei diesem Fall hatte sie tiefere Gefühle für Stride entwickelt. Plötzlich klärten sie nicht mehr nur zusammen Verbrechen auf, sondern litten auch gemeinsam, wenn sie versagten. Aber das sagte sie Serena nicht.
»Danke, dass du Blue Dog geschnappt hast«, sagte Serena. »Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, wenn er noch auf freiem Fuß wäre.«
»Ich hatte selbst ein Hühnchen mit ihm zu rupfen«, erinnerte Maggie sie. »Der wird uns nie wieder belästigen.«
»Das habe ich schon einmal geglaubt.«
»Selbst in Alabama sind sie hoffentlich in der Lage, einen einarmigen Mörder hinter Gittern zu halten«, sagte Maggie.
Serenas Blick ging in weite Ferne. Maggie konnte nur ahnen, was sie beschäftigte.
»Hat er ...?«, fragte sie leise. »Das musst du mir nicht sagen, wenn du nicht willst.«
»Dazu hatte er keine Gelegenheit«, erwiderte Serena.
»Ein Glück. Eine Sache weniger, mit der du dich herumschlagen musst.«
Serena biss sich auf die Lippe. »Ja.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Ich will nur, dass das alles vorbei ist. Ich will hier raus.«
»Nichts überstürzen. Erst musst du gesund werden. Wenigstens kommt alles wieder in Ordnung.«
»Ja, das haben sie mir auch erzählt.«
Serena wirkte plötzlich sehr verletzlich und verängstigt. Ihre Stimme brach, und ihr Kinn fing an zu zittern. Tränen traten ihr in die Augen.
»Ganz ruhig«, murmelte Maggie. Sie beugte sich vor und strich Serena über das Haar.
»Entschuldige«, sagte Serena. »Ich lasse mich gehen.«
»Kein Wunder, nach dem, was du durchgemacht hast.«
»Ich müsste eigentlich dankbar sein, dass ich noch am Leben bin und wieder gesund werde. Aber wenn ich husten muss und meine Lungen wie Feuer brennen, frage ich mich, ob ich mich in Zukunft bei jedem Atemzug daran erinnern werde. Ich frage mich, ob ich je wieder laufen kann, ob ich irgendwann auch nur wieder gehen kann.«
Nun strömten ihr die Tränen über das Gesicht. Hilflose Wut stieg in Maggie auf.
»Ich habe mir meinen Körper angesehen, obwohl mir alle davon abgeraten haben«, sagte Serena. »O Gott, Maggie. Es ist so furchtbar.«
»Tu dir das nicht an.«
»Ich weiß, es ist albern und dumm, aber ich will nicht, dass Jonny mich je wieder sieht. Nicht so.«
»Das verheilt alles. Du kommst schon wieder in Ordnung.«
Serena schüttelte den Kopf.
»Deine Seele braucht genauso Zeit wie dein Körper«, flüsterte Maggie. »Weißt du noch, was du mir geraten hast? Ich hatte die Sache tatsächlich verdrängt. Ich brauche Hilfe, genau wie du. Morgen habe ich wieder einen Termin bei Tony Wells. Du wirst da auch wieder hingehen. Und wenn du jemanden brauchst, bin ich da. Und Stride auch. Das weißt du doch.«
»Es tut so weh«, sagte Serena. »Es tut so furchtbar weh. Je mehr ich daran denke, desto schlimmer wird es. Das wird nie aufhören.«
Als Maggie den Notrufknopf drückte, protestierte Serena nicht. Sie hatte den Mund halb geöffnet und war völlig verspannt, was die Schmerzen noch verstärkte. Die Beine unter der Decke zuckten, und sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.
»Es wird nie wieder, wie es war«, murmelte Serena. »Nichts wird jemals wieder so sein wie früher.«
»Schsch. Nicht sprechen.«
»Sag Jonny, er soll nicht kommen. Ich will ihn nicht sehen.«
Die Schwester stürzte mit einer fertig aufgezogenen Morphiumspritze ins Zimmer. Sie wusste, was Serena brauchte. Wenn sie klingelte, war keine Zeit zu verlieren. Maggie sah zu, wie sie Serenas linke Schulter abtupfte, die Nadel ansetzte und den Kolben herunterdrückte. Die Wirkung setzte praktisch sofort ein. Serenas Augen wurden glasig, und ihr Körper sank entspannt auf die Matratze zurück. Sie bewegte die Lippen, brachte aber keinen Ton heraus.
Maggie wartete gemeinsam mit der Krankenschwester, bis Serena eingeschlafen war und keinen Schmerz mehr fühlte.
»Wie geht es ihr wirklich?«, fragte Maggie.
»Das ist die schlimmste Zeit«, erwiderte die Schwester. »Durch die Schmerzen ist sie sehr emotional. Aber keine Sorge, die Haut ist bereits am Abheilen. Die Lunge ist heute wieder freier und die Atmung stabiler. In ein paar Tagen ist sie schon fast wieder auf dem Damm.«
Zumindest äußerlich, dachte Maggie.
Die Station war dunkel, als Stride nach Mitternacht im Krankenhaus eintraf. Im gedämpften Licht der Zimmer, die er passierte, sah er die Patienten in ihren Betten liegen. Ein paar müde Pflegemitarbeiter nippten an ihrem Kaffee. Es roch nach den aggressiven Reinigungsmitteln, mit denen die Böden geschrubbt wurden. Kinder und Erwachsene waren hier, Männer und Frauen. Manche waren auf dem Weg der Besserung, anderen ging es immer schlechter. Leben und Tod. Es fiel ihm schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Serena wieder gesund werden würde, denn in eben diesem Krankenhaus war Cindy ihrem Krebsleiden erlegen. Dass er jetzt wieder hier war und denselben Weg ging wie damals, weckte unerträglich schmerzliche Erinnerungen.
In Serenas Zimmer stellte er sich ans Fußende ihres Bettes, lauschte auf ihren ruhigen Atem und sah zu, wie sich ihre Brust im Schlaf hob und senkte. Er tat, was er vor vielen Jahren getan hatte: Er nahm seine Lederjacke ab, hängte sie über die Lehne seines Stuhls und wachte im Halbdunkel über die Frau seines Lebens. Damals war es Cindy jeden Tag ein wenig schlechter gegangen. Wie eine Ratte hatte sich der Kummer bei ihrem Anblick in sein Herz gefressen. Er konnte nicht glauben, dass die Frau in dem Bett seine schöne, lebensfrohe Frau war, die als Siebzehnjährige sein ganzes Leben in einem einzigen wunderbaren Sommer für immer verändert hatte.
Viel zu früh war sie von ihm gegangen. Nichts war mehr so gewesen, wie er es geplant hatte.
Es fiel ihm schwer zu glauben, dass er eine zweite Chance bekommen hatte, und er tat etwas, das er seit Jahren nicht mehr getan hatte – er betete. Damals hatte er auch gebetet, und als Gott seine Bitten nicht erhörte, hatte er sich von ihm abgewandt und beschlossen, sich nie wieder etwas zu wünschen. Bis jetzt. Bis diese Frau in sein Leben getreten war, für die er buchstäblich durchs Feuer gegangen war. Er war dankbar, dass sie noch lebte, und hoffte verzweifelt, dass sie wieder gesund werden würde.
Vorsichtig nahm er Serenas Hand. Er bemühte sich, sie nicht zu wecken, aber er spürte, wie sie seine Berührung mit sanftem Druck erwiderte. Benommen von der Erschöpfung und den Medikamenten blinzelte sie mit bleischweren Lidern. Als sie ihn sah, hellte sich ihre Miene auf. Ihm brach fast das Herz. So war es auch bei Cindy gewesen. Bei seinem Anblick hatte sie immer gestrahlt wie ein Weihnachtsbaum, selbst als ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
Serena murmelte etwas, das er nicht verstand. Es schien wichtig zu sein, denn sie wiederholte ihre Worte.
»Ich konnte da nicht hin«, sagte sie eindringlich.
Er beugte sich vor, aber er hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. »Wie?«
»Hab’s versucht«, murmelte sie benommen. »Aber es ging nicht.«
Stride lächelte, als hätte er verstanden.
»Deinetwegen«, sagte sie.
»Du sollst nicht reden. Schlaf jetzt.«
»Bin immer noch hier.« Damit fielen ihr die Augen zu.
Stride sah sie an, bis ihm selbst die Lider schwer wurden. Als er schlief, träumte er von einem längst vergangenen Sommer auf dem Point.