19. August, Oberammergau, Laberköpfl
Theres sah Anton Richtung Klettersteig nach. »Vielleicht erwischt er noch jemanden«, murmelte sie und marschierte die Abzweigung weiter zu der Stelle, die ihr von Berichten der Bergwacht nur zu gut bekannt war, Toni war hinter ihr. Sie hörte Knacksen und Rauschen und Worte aus seinem Smartphone. Er hielt den Anruf mit der Leitstelle für weitere Informationen. Theres schlitterte in ihrer Hast auf dem Weg, hoffte, nicht zu fallen. Äste und Stacheln rissen an ihrer Jeans.
Wir müssten viel näher sein, dachte sie. Und dann: Vielleicht ist es nicht so schlimm.
Toni fluchte hinter ihr, und sie wandte sich um. Sein Gesicht lag im Schatten. Die Bäume streckten sich nach dem Blau des Himmels und hielten das Licht und die Wärme über ihnen fern. Wolfin drehte um und drängte gegen ihren Oberschenkel. Theres bedeutete der Hündin zu warten. Sie selbst eilte weiter, vorbei an Farnen, dornigen Zweigen. Hinter ihr knackten die dürren Reiser unter Toni Baurieders Tritten.
Nach wenigen Schritten stoppte sie erneut, presste die Hand vor den Mund, den Blick kurz noch einmal hinauf zum Gipfel des Laberköpfl, dann auf den Boden zwischen den Steinen und Farnblättern gerichtet. Was sie sah, schnürte ihre Kehle zu. Sie blinzelte gegen die Feuchtigkeit an, die sich in ihr Sichtfeld drängte.
»Zefix«, fluchte sie. Was war in den paar Wochen nur passiert? Tio war doch gerade … Sie starrte auf die Gestalt vor sich. Nichts bewegte sich.
Ein Schaudern überlief Theres’ Körper. Neben ihr atmete der Kommissar scharf ein. In den Geruch von Moos und Holz und Waldboden mischte sich seiner. Theres nahm noch etwas anderes in der Luft wahr. Einen Geruch, den sie von der Jagd kannte und als Metzgerin viel zu gut.
Toni drängte sich an ihr vorbei und beugte sich hinab. Sie machte ein paar Schritte zur anderen Seite und leuchtete mit einer Taschenlampe den Boden aus, kniete sich, so nah es ging, neben den Oberkörper. An den Fingerkuppen ihrer anderen Hand spürte sie Moos und Erde, Steinchen. Sie prüfte die Atmung. Sie schwieg, wiegte die Handfläche hin und her.
»Ich bin mir nicht sicher.« Murmelnd, fluchend. Sie zielte mit dem Lichtstrahl auf den Körper. Dunkle, feucht schimmernde Stellen tränkten das Shirt und die Blousonjacke. Sie zwang sich, nicht nachzudenken, wie viel mehr Wunden existierten, die nicht sichtbar waren.
Toni griff nach der schlaffen Hand, befühlte den Punkt am Handgelenk.
»Da ist ein leichter Puls.«
Theres schnappte nach Luft. Sie musste sehen, was sich durch die Jeans am Oberschenkel spießte, und den Winkel, in dem das Knie zur Seite stand.
Toni wandte sich von den Brüchen ab. »Wir sind hier«, flüsterte er und strich eine Strähne des dunklen Haars aus dem blassen Gesicht.
Er beugte sich zu dem dunklen Fleck auf Tios Shirt, schob den Stoff beiseite, tastete an den Rippen entlang. »Hast du irgendwas, um es darauf zu pressen? Auf die Wunde, oder eine der Wunden, oder …« Seine Stimme erstarb.
Theres reichte ihm ihre Jacke, erhob sich und sah nach oben zum Plateau, versuchte, das Bild zu ihren Füßen für einen Moment zu vergessen. Tausend Fragen nagten in ihrem Kopf. »Verdammt«, wisperte sie. »Wir haben aufgepasst, wir haben alle die Augen offen gehalten. Wie …? Was für eine bescheuerte Idee von mir.«
»Was meinst du? Tio würde sich doch nicht selbst herunterstürzen, oder?«
»Bestimmt nicht«, gab sie zurück. »Aber es war mein Vorschlag, heute aufs Laberköpfl zu steigen. Wenn die Sonne untergeht, stehen die Berge rundum in Flammen. Bei dem Wetter gibt es die Chance auf gute Bilder, bevor die ganze Aufregung ums Luggi-Feuer losbricht.«
Früher war sie immer ein paar Tage vor dem Feuer mit Paul hierhergekommen. Das war ihre Nacht. Seit ihrer Zeit zusammen auf dem Gymi hatten sie sich aus den Zimmern gestohlen und noch eine Weile danach die Tradition gepflegt. Gelacht hatten sie und gelästert und gerätselt, warum ausgerechnet dieser Brauch sich hielt – mit Feuern und all der Mühe, das Holz auf die Berge zu schaffen, und einem König, für den es keinen Rahmen gab. Als sie zurückkam aus Wien, knüpften sie zumindest an ihre Treffen an.
»Paul und ich sind immer hierher, wo der Ausblick über Ogau uns ganz allein gehört, wenn noch niemand da ist. Und heute sollte Tio mit für ihren Bericht. Wie konnte das so schiefgehen?«
»Wir reden später, Theres. Wir finden raus, was war.«
»Die Bergwacht kann nicht mehr weit weg sein. Markier du den Weg, ich geb noch mal die Fundstelle durch.« Theres’ Blick glitt zur Seite. »Zumindest ist in der Nähe der Forstweg, der ist befahrbar.« Sie drehte sich weg und dann noch einmal um, zog ihr Handy. Kurz darauf brummte etwas.
Toni richtete sich auf, ohne die Hände von der Wunde zu lösen. »Ich denke, es ist in ihrer Jackentasche.«
Theres holte es heraus, steckte es nach einem Blick aufs Display in Tonis Jacke. »Nur mein Anruf auf dem Handy.«
»Sehen wir uns später an, gut, dass wir es haben.«
Sie nickte. Dann deutete sie auf die Felsen, die sich neben ihnen aufbauten. »Ich steig hoch zu Anton, Paul muss auch längst da sein. Vielleicht waren die beiden schnell genug und haben noch jemand anderen dort oben erwischt.« Ihre Stimme brach. »Was ist nur passiert?«