20. August, Murnau, Unfallklinik
Sie schnappte nach Luft, aber etwas blockierte ihren Mund. Tio riss die Augen auf. Sofort verschwamm ihre Sicht wie unter Wasser, aber es war viel zu dick und zu träge. Wieder zog die Nacht sie hinab, ihre Lider glitten zu. Sie strampelte dagegen an wie gegen Schlacken. Neben ihr schwamm ein Purpurmantel, ihre Glieder verhedderten sich darin, dann war er fort. In ihrem Kopf wurde das Schrillen laut. Sie kämpfte gegen die Wellen der Dunkelheit, und durch ihren Körper blitzte Schmerz, dann eine Erinnerung, ein Bild, ein Gesicht wie gemalt. Das Porträt des Märchenkönigs löste sich auf wie Nebel.
Nacht war um sie, und da war Mondlicht und die Luft, die schon ein wenig feucht schmeckte. Viel zu weit weg wirkten die Bergkanten. Zu ihren Füßen meinte sie ein Rauschen zu vernehmen. Nicht der Kofel, meldete irgendwas in ihr. Kurz wurde es hell, sie sah Schläuche, einen Monitor.
Dann war wieder Dunkel überall. Es zog sie in die Tiefe ihrer Erinnerung und zurück in die Nacht am Berg, zurück zu all den anderen Nächten in all der Zeit davor. Worte prallten wie Geschosse gegen sie. In ihre Brust, in ihren Kopf sengten sie sich tief ein, Worte, die wollten, dass sie schwieg. In ihre Augen brannte sich ein Blick, die Kontur des Gesichts verwischte, als raubte er ihr die Fähigkeit zu sehen. In ihren Ohren brannte die Stimme ihres Gegenübers, die wollte, dass sie …
Sie verstand nicht, was die Schreie bedeuteten. Sie spürte den Schlag an ihren Schultern, stechend und dumpf, wie er sie packte, drückte, schob.
Nicht ertrunken. Die Worte kreisten in ihren Gedanken. Sie fiel. Sie stemmte sich gegen ihre bleischweren Lider, doch ihre Augen öffneten sich nicht.
Vor ihr ein Gesicht, es ergab keinen Sinn, es erinnerte sie an den Mann in der Nacht, nachdem all diese Schmerzen auf sie eingeprasselt waren, vor den Sirenen, bei den Sirenen. Nichts passte zusammen.
Ihr Denken verschwamm, der Schmerz damit. Nur noch der Märchenkönig stand weiter vor ihren Augen, und ihr Bewusstsein glitt davon.