27. Theres – Bauklötzchentürme

21. August, Oberammergau, Kindergarten

Vorbei an der Rutsche und den Wippen tapsten und stöpselten die Mädchen und Buben aus dem Gartentor des Kindergartens, bonbonfarbene Shirts und Röcke und Hosen und leuchtende Wangen. Die meisten der Eltern grüßten und lächelten Theres zu. An der Tür wartete jedoch alles andere als ein Lächeln auf sie.

Tios jüngere Schwester versuchte nicht einmal, zu verbergen, wie sehr diese Begegnung sie nervte. Sie verdrehte die Augen und zog die Tür auf. »Du gehst nicht einfach, oder?«

Theres folgte in eines der nun verlassenen Gruppenzimmer, wich Kreiseln aus, Springseilen, verstreuten Autos, Kippern und Puppen. Die Bilderbücher standen ordentlich im Regal. »Dass ihr in den Sommerferien überhaupt aufhabt …«

Pat wandte sich über die Schulter. »Unser Kindergarten ist die erste.« Sie schnappte eine Kiste. Draußen vor der Fensterfront entdeckte sie ein Kind und winkte ihm zu, bis es mit seinem Papa außer Sichtweite war. »Hast du dir noch nicht genug geholt von meiner Familie, fehlt noch was?«

»Antworten.«

»Antworten? Ich wüsste nicht, dass ich dir welche schulde. Ich erkenne nach wie vor nicht, dass du verstehst, wie es anderen geht damit oder was es für uns als Tios Familie bedeutet. Du nimmst dir das einfach raus. Da steht auf einmal die Dorfmetzgerin vor der Tür, die Frau im Ort, vor der jeder kuscht und bei der die Kommissare ein und aus gehen. Glaubst du, das ist dein Recht, weil du … was auch immer bist? Meine Eltern waren völlig überrumpelt.« Pat ging neben den Bauklötzchen in die Knie. »Ich seh keinen Laptop in deiner Hand, den du zurückbringst.« Bunte Holzquader landeten in der Box.

Mitten in der Bewegung stoppte sie, sah auf und reckte in der einen Hand einen grünen Würfel hoch, in der anderen ein blaues Rechteck. »Schau, das ist, als sollten meine Gruppenkinder einen Turm bauen mit diesen Holzklötzchen. Dann kommt das stärkste Kind, schiebt alle anderen zur Seite, schnappt sich die Bauklötzchen und zieht aus dem Turm noch einige heraus. Und der Turm und die anderen …« Sie ließ den Satz offen.

»Wacklig.« Bevor sie reagieren konnte, starrte Theres wieder auf einen Rücken.

»Und nichts ist da, um den Turm zu reparieren, alle starren nur drauf, keiner kann was tun. Man fühlt sich ausgegrenzt und übergangen. Also, wir fühlen uns so. Ich«, verdeutlichte Pat. »Such dir was aus! Du greifst einfach in unser Leben ein und bestimmst. Dabei hättest du das mit uns tun können, wenn Tio dir so wichtig ist«, endete Pat, nickte, Theres nickte auch. Sie ging in die Knie. Schweigend sammelten sie gemeinsam die restlichen Bauklötzchen auf.

Theres ließ sich nach hinten auf einen Sitzsack fallen. »Ich hab das übersehen. Wegen Tios Laptop«, begann sie, und sofort wurden Pats Augen schmal, ihre Miene wieder verschlossen. »Ich hab nicht nachgedacht, was dir Tios Laptop bedeutet, oder was es für dich bedeutet, wenn ich ihn an mich nehme.« Auf Herzhöhe legte Theres die Hand flach über ihre Brust. »Ihr seid Tios Familie. Ich … nicht. Entschuldige bitte. Ist darauf etwas, was ich besser nicht lesen sollte?«

Pat musterte sie. »Familie … was man sagt … Streit ist da halt viel krasser als zwischen Freunden. Untereinander weiß man, wie’s gemeint ist. Wenn du das liest … Du gehörst nicht zu uns. Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, was im Streit einfach nur dahingeworfen ist. Hättest du eine Schwester, wüsstest du, wie sehr man sich manchmal wünscht, keine zu haben. Deswegen mag ich sie nicht weniger – oder sie mich«, zischte Pat.

»Und jetzt, wo sie wieder bei euren Eltern wohnt?«

»War ich froh … Bin ich froh, dass sie hier ist und wir öfter was machen können«, übernahm Pat den Satz. »Die Zeit vergeht viel zu schnell.«

Theres sah sie ernst an. »Tio spricht mit allen und jedem, ist durch ihre Arbeit bei der Zeitung im Gespräch und regt an, dass Dinge sich ändern. Vielleicht hat sie sich verändert, seit sie hier weggezogen ist.«

»Und?« Pat schüttelte den Kopf. »Tio wurde mehr Tio. Das war gut. Wer ändert sich nicht?«

»Wolltest du deswegen nicht, dass sie Manu trifft oder von dir und Manu weiß?«

Pat sah auf. »Woher weißt du davon?«

»Linderhof, schon vergessen?«, sagte Theres. »Ich hab euch streiten gehört.«

»Das …«, murmelte Pat, reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Sie hielt den Blick. »Das ist kompliziert. Mist ist das.«

»Was genau?« Theres senkte ihre Stimme.

Pat schüttelte den Kopf und stakste ans Fenster. Theres sah, wie sie die Augen schloss gegen das Sommerlicht. Theres setzte einen Fuß vor und blieb doch stehen, beobachtete nur und startete die Aufnahme auf ihrem Handy.

»Ich …« Pats Körper schüttelte ein Schluchzen. »Vorgestern Mittag war noch alles gut. Sie hat mich abgeholt, wir sind ins Wellenberg, nur zwei Stunden, bis es voll wurde, waren dann auf ein Eis im Theatercafé.« Sie zog ihr Handy. »Dann haben wir über Manu geredet, gestritten.« Tränen erstickten die Stimme. Pat schlang die Arme um sich selbst. »Sie ist meine große Schwester. Wenn ich nicht wusste, was zu tun ist, Tio hat’s immer gewusst. Sie hat gesagt, Manu hätte ihr Fahrrad manipuliert. Ich wollt’s nicht glauben. Und dann liegt sie wenig später im Koma auf der Intensivstation.« Traurigkeit zeichnete das Gesicht. »Mama weint den ganzen Tag. Ich kann sie nicht das kleinste bisschen trösten. Papa sagt nix. Seit das mit Tio war, sagt er einfach nichts. Er geht zur Arbeit, er kommt zurück, seine Augen sind wie tot, wenn wir zusammen essen. Dann geht er ins Bett. Ich hör ihn weinen. Mama weint vor dem Fernseher. Mein Bruder ist da. Ich bin hier. Tagsüber, wenn die Kinder da sind, ist es nicht so schlimm. Aber dann sind die weg. Und daheim …« Wieder schüttelte ein Schluchzen Tios Schwester, ging wie ein Beben durch alle Glieder. »Sie können nicht miteinander reden. Und sie reden nicht mit uns. Wir sind doch auch noch da. Es ist, als hätte man sie ausgeknipst. Und wenn Tio …« Pat sank in sich zusammen, vergrub das Gesicht in ihren Händen. »Ich weiß nicht: Geht das jemals wieder an? Ich wünschte, wir könnten die Zeit zurückdrehen.«

Theres lauschte schluchzendem, rasselndem, tränenklebrigem Atmen. So leise wie möglich trat sie näher, bewegte ihre Hand auf Pats Schulter zu. Ehe sie sie berührte, zuckte die andere zusammen.

»Was war nach eurem Streit am Nachmittag? Was hast du gemacht?«

»Ich wollte sie nicht sehen. Ich bin einfach durchs Dorf.«

»Allein?«

»Ich war sauer. Tio war stinksauer, wegen Manu, wegen dem, dass alle auf sie sauer sind – meinetwegen.«

»Weshalb, und weshalb deinetwegen?« Theres gab ihr etwas mehr Raum.

Pat atmete hörbar ein und aus. »Sie hat das mit den Feuermachern und dass es nur Männer sind meinetwegen gemacht. Ich hab mich so drüber geärgert. Hier sind Mädchen in der Gruppe, die das auch so gern machen würden wie ihre Papas. Die bauen mir Lego-Eiffeltürme und rennen und wuseln stärker und schneller und wilder als jeder andere, die kraxeln auf jeden Baum und heil wieder runter. Was sag ich denen denn? Sie dürfen dies nicht, sie dürfen das nicht, weil sie Mädchen sind?« Sie seufzte. »Tio hat das aufgegriffen, weil sie es ja auch so sieht und selbst kennt. Dann hat sie sich beschwert, dass sie deshalb schon wieder angefeindet wird. Na ja, nicht direkt beschwert, aber … na ja. Mir hat sie vorgeworfen, ich hätte sie gedrängt, das genau jetzt vor dem Ludwigsfeuer zu schreiben, wo sie genug anderes am Hacken hat, genug Hasskommentare. Und meinetwegen kämen jetzt noch die Anfeindungen von den Jungs dazu. Die ganze Zeit über hat der Andi sie wohl angefegt, wenn sie Fragen hatte oder ihm über den Weg gelaufen ist.«

Mit der Hand wischte Pat Tränen von ihren Wangen. »Ehrlich: Ich weiß, dass sie das Richtige tut, und jedes Mal kriegt sie die Breitseite ab. Tradition – am Arsch. Wenn er keine Frauen will, die an irgendwas beteiligt sind und den Mund aufmachen, dann soll er sich ’ne Gummipuppe kaufen und die heiraten.« Zorn stand in ihrer Miene. »Ich hab’s so satt!«, knurrte sie. »Ich hab’s so satt. Und dann streiten wir, weil sie von allen Seiten angefahren wird und mir die Schuld gibt. Ich hab versucht, sie anzurufen. Und ich wusste nicht, wegen Manu … ob sie nicht recht hat. Ich wollte wirklich keinen sehen.«

»Manu auch nicht?«

»Später. Ich hab Tio nicht erwischt, nur einen gesalzenen Text von ihr bekommen. Meine Antwort war nicht besser. Dann bin ich zu ihm.« Sie schüttelte den Kopf. »Und dann passiert so was. Tio war sicher genauso wütend und ist hoch auf den Berg und gestürzt. Alles meinetwegen. Sie werden mir das nie verzeihen.«

»Pat, hast du Tio …«

Tios Schwester legte den Kopf in den Nacken, die Wangen glänzten nass, von ihrem Kinn tropften Tränen. »O Gott, ich vermiss sie so, und ich bin auch noch dran schuld, dass alles passiert ist. Hätte ich einfach nur …«

Theres furchte die Stirn. »Hast du Tio gestoßen?«

»Was?« Pats Augen weiteten sich. »Gestoßen? Wieso gestoßen? O mein Gott, jemand hat Tio …?« Ihre Stimme erstarb. »Tio ist fast tot. Und es ist meine Schuld.«

Ganz sanft legte Theres ihre Hand auf den Oberarm der jungen Frau. »Das stimmt nicht«, sagte sie. »Ihr hattet einen Streit, du bist eingetreten für etwas, das wichtig ist und richtig. Du und Tio – ihr habt ausgeteilt. Unter dem, was an Tio alles zerrt, hat sie versucht, ihren Stress und Schmerz zu verteilen, und du warst in dem Moment greifbar. Deine Beziehung mit Manu zu verstecken, hat nicht gerade Zucker über den Moment gegossen.«

»Hat Manu auch gemeint«, murmelte Pat. »Und als ich wieder daheim war … Denkst du, sie … das wird wieder?«

»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Sag mal, kann es sein, dass ich den Manu heut mit recht arg zerschundenem Gesicht gesehen hab?«

Pat hob die Hände. »Gestern war das ganz frisch, als ich zu ihm bin. Aber er wollt nicht sagen, wo er es herhat. Es war ihm peinlich. Männer …« Sie schüttelte den Kopf. »Aber dass es für Tio Spitz auf Knopf steht, hat ihn auch getroffen. Ich vermiss sie so arg.«

Theres runzelte die Stirn. »Du hast ihm das erzählt?«

Pats Kopf ruckte hoch. »Ja!« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Er ist doch mein Freund, warum nicht?«

»Schon gut«, erwiderte Theres. Was soll schon schiefgehen?, dachte sie. Sie verbiss sich jeden weiteren Kommentar, hob zum Abschied die Hand. Halb aus der Tür deutete sie zurück auf die Klötzchenbox. »Und: Danke für die Nachhilfe.«