24. August, Oberammergau, Laberköpfl
Pats Augen liefen über von Tränen. Ihre Hand krallte sich in Theres’ Arm, dann löste sie sich. Pat straffte sich, suchte Theres’ Blick. Sie nickte.
Theres verstand und schluckte, sammelte die Worte, ließ Pat los. »Tio ist tot.« Sie sah, wie Pauls Miene sich veränderte, ausdrückte, was auch sie empfand. Ganz leise hörte sie aus Elifs Richtung einen Fluch. Theres griff nach Pats Hand, drückte sie.
Den Schmerz, die Stille durchknirschten Schritte, Stimmen, die sich näherten, die sie kannten. Theres löste sich von Pat, nickte ihr zu. Die erhob sich und versteckte sich wieder neben Paul. Noch war niemand zu sehen. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann standen die zwei Ankömmlinge da. Andi verharrte einen Schritt weiter hinten. Sein Begleiter sah sich um, irritiert, drehte sich zu dem älteren Feuermacher zurück.
Theres musterte die beiden von Kopf zu Zeh. Neben ihr atmete Paul tief ein, kopfschüttelnd, wie sie aus dem Augenwinkel sah. »Ich kann es immer noch nicht fassen«, sprach er flüsternd, was sie dachte.
Theres richtete sich auf. Kurz zuckte ihre Hand zum Gürtel, und sie war beinahe froh, dass ihr Schlachtmesser dort nicht war. Sie trat aus der Deckung.
Andi starrte sie beinahe schon gelangweilt an, durch den Körper des anderen ging ein Ruck. Felix’ Augen weiteten sich, sein Mund klappte auf. »Metzgerin! Du, hier?«
Elif trat hinter ihrem Holzstoß hervor, zusammen mit Pat. Theres hörte Paul hinter sich.
Felix sah irritiert von einem zum anderen, sein Fuß tastete nach hinten, stieß gegen Andi. An der Mündung des Klettersteigs hinter den beiden trat Anton auf den Gipfel und Theres von vorne auf Felix zu.
Vorbei an Theres glitt ein Schemen. Tios Schwester stoppte kurz vor Felix, ihre Hand kurz vor seinem Gesicht. »Du!«
Deutlich mehr als ein Wispern drang aus Pats Mund. Der Klang ihrer Stimme, das Beben darin stach bis in Theres’ Seele, hallte nach. Überrascht musterte sie Pat. Nicht ganz, was ich erwartet habe. Felix versuchte, einen Schritt zurückzuweichen, Andi blockierte wie abgesprochen den Weg. Die Felskanten und der Abgrund am Gipfel schienen näher zu rücken. Pat richtete sich vor Felix auf. Mutig, dachte Theres anerkennend. Nicht ganz, was ich erwartet habe.
Sie spannte die Muskeln, wählte ihren Stand so, um Tios Schwester schnell sichern zu können.
Pats Finger zielte auf seine Brust. »Du hast mir Tio genommen. Meine Schwester, ihr Leben, ihre Träume, all ihre Geschichten, die nicht mehr kommen, ihre Klugheit, ihre Worte, ihren Trost, ihre Freude.«
»Ich …«
»Sch«, stoppte Pat seinen Versuch. »Du hast kein Recht auf ein Wort. Für Tio gibt es kein einziges Wort mehr. Für Tio bleibt nur der Tod. Nie wieder feiern wir, nie wieder höre ich ihre Stimme, ihr Lachen, ihr Mutmachen. Mein Herz ist in Fetzen. Und Tio kann mich nie mehr halten. Du warst hier mit ihr, du hast sie gestoßen und uns weggenommen, ihre Zukunft, mir, unseren Eltern, den Freunden.« Ihr Finger bohrte sich in seine Brust. »Mit welchem verdammten Recht?« Ihre Stimme rollte über den Gipfel des Laberköpfl. Sie trat noch näher, er wich gegen Andi zurück. »Mir ist gleich, ob du genug Rückgrat hast und es zugibst, was du Tio angetan hast. Du warst hier mit ihr, du hast sie gestoßen. Mir ist gleich, was du erzählst oder nicht. Ich weiß, warum du es getan hast: Weil sie nicht wollte, wie du wolltest. Weil sie nicht nachgegeben hat und du nichts anderes tun konntest.«
Von hinten schraubte Andi seine Pranken um die Arme des Hotelierssohns. Pat knallte ihre flache Hand gegen Felix’ Brust. Dann stolperte sie zurück. »So war es doch? Sie hat dir nie gehört, sie gehört niemandem.« Ihre Lider bebten, blass, fast durchscheinend wirkte sie mit einem Mal. »Jedes Mal …« Ein weiterer Schritt nach hinten. Tränen liefen über ihre Wangen. »Sie hat es mir gesagt, sie hat es geahnt. Ich hab …« Pat stolperte erneut, krümmte sich. »Ich hab gesagt, sie bildet sich das nur ein.«
Theres war mit wenigen Schritten bei ihr, fing sie, hielt sie. Die anderen näherten, beobachteten, bereit zu unterstützen.
Pat zitterte, wandte sich zur Kommissarin. »Es ist meine Schuld. Ich hab sie nicht gehört. Tio hat erzählt und erzählt. Immer war irgendwas: online, Anfeindungen, Stalker, Todesanzeigen, ein Ex, der stresst. So viel. Ich dachte, das vergeht. Ich hab weggesehen. Jedes einzelne Mal. Dass etwas passiert, kommt anderswo vor. Nicht bei uns.«
Theres strich ihr übers Haar. Sie hörte Felix sich räuspern, ihr Blick ging zu Elif. Die Kommissarin straffte sich und stellte sich vor ihm auf. »Tio ist tot. Ab jetzt ist das kein Unfall mehr. Du kannst dir überlegen, was du sagst oder verschweigst. Nur …« Mit dem Kinn deutete sie auf die Anwesenden. »Wir sind nicht ohne Grund hier. Auch wenn es zu spät ist für Tio.«
Der Mensch, der vor der Ewigkeit eines anderen Lebens für Theres gearbeitet hatte, öffnete den Mund. Antons und Elifs Kopfschütteln, Andis Griff nahmen ihm das Wort. Ihm, der das Leben und die Zukunft einer Frau, einer Journalistin, einer Schwester, eines geliebten Menschen genommen hatte. Andi knurrte. »Zugeben kannst des. Ausreden und Schmarrn machen, kannst gleich bleiben lassen.«