Kapitel 16:
Rätselhafte Ketten

Hop-Tep hat nichts davon geahnt, dass der Geist von seinem Vater noch hier unten ist, oder?«, stieß Tom schwer atmend beim Laufen aus.

»Nein, das hätte er als Argument nicht unerwähnt gelassen!«, antwortete Vlarad überzeugt. Dem Vampir schien das Tempo nichts auszumachen, jedenfalls atmete er kein Stück angestrengter, wie Tom feststellte. Das musste auch einer der Vorteile eines Vampirlebens sein.

»Und das wär ein fettes Argument gewesen!«, bemerkte Tom.

Die Katzenfrau, die ihre Unterhaltung mitbekommen hatte, drehte sich beim Laufen zu Tom und Vlarad um. »Hätt ich vorher gewusst, dass der fiese Pharao hier noch rumspukt, hätte sogar ich kurz nachgedacht.«

Tom grinste, so gut es eben beim Laufen ging. »… und alles trotzdem genauso gemacht.«

»Na logo«, grinste Dada breit zurück. Ihre Unterhaltung wurde von Welf jäh unterbrochen mit einem gebellten »Stopp!«

Alle folgten dem Hinweis ohne zu zögern und Tom war insgeheim ganz dankbar für eine Verschnaufpause. Schwer atmend hob er abermals die Hand und beleuchtete so das neue Hindernis vor ihnen mit dem kalt glimmenden Stein.

»Ah, das nächste Rätsel«, stellte Vlarad schlicht fest. »Oder die nächste Falle«, murmelte Tom.

Welf knurrte grimmig. »Oder beides.«

Wieder einmal endete der unterirdische Gang an einer Wand. Symbole waren diesmal keine zu sehen, dafür hingen sechs schwere, rostige Ketten aus einem breiten Schacht vor ihnen herab. Kaum merklich schwangen sie hin und her, das Metall klirrte leise bei der Bewegung. Ratlos starrte Tom in den Schacht hinauf. Was immer sich dort über ihnen verbarg, von seiner Position aus war es nicht zu erkennen.

»Hm. Irgendjemand ne Idee?«

»An ’ner Kette ziehen?«, schlug Welf unschlüssig vor. »Also, an der Richtigen hoffentlich.«

»Und das ist welche genau?«, fragte Tom zurück.

»Vielleicht alle?«, warf Mimi ein.

»Oder nur manche«, gab Tom zu bedenken. »Oder in einer bestimmten Reihenfolge nacheinander?«

»Vielleicht könnte man an den Ketten hochklettern«, schlug Dada vor.

»An welcher?«, knurrte Welf. »An allen?«

»Oder besser an keiner?« Tom war die Idee, dass er bald in einem zappendusteren Schacht an einer viele tausend Jahre alten Kette baumeln würde, fast noch unsympathischer als die nächste Kugelsägenpfeilfalle.

»Hmmm«, überlegte Vlarad. »Lasst es mich mit Deduktion versuchen. Nehmen wir an, der Zug an einem falschen Seil löst eine Falle aus, welcher Art könnte diese Falle sein?«

Alle sahen sich um, Mimi schwebte sogar vorsichtig zwischen den Ketten hindurch, aber nirgendwo fanden sich irgendwelche Anzeichen dafür.

Dada schüttelte den Kopf. »Keine erkennbaren Schlitze in den Wänden oder an der Decke, also keine Fallbeile.«

»Ich riech kein Wasser in dem Schacht, also keine Überschwemmung«, grollte Welf.

»Dann bleibt noch etwas anderes zu versuchen«, sagte Vlarad. Der Vampir ging in die Hocke, legte sein Ohr an die Wand vor ihnen und die Hände auf den Boden. Dann murmelte er: »Wombie, bitte.«

Der Zombie stieß ein »GMMMHH« aus und stampfte dann mit dem rechten Fuß beherzt auf den Boden. Ein dumpfes Wump ertönte, das selbst für Toms Ohren ziemlich unspektakulär klang.

Vlarad lauschte, erhob sich dann und strich seinen Gehrock glatt. »Hm. Keine Resonanzen zu spüren, also keine größeren Hohlräume.«

»Auch hinter der Wand nicht?«, fragte Tom.

»Nein«, sagte Vlarad mit einem leisen Kopfschütteln.

Tom seufzte tief. »Okay, dann wissen wir schon mal, wo es langgeht.«

»Ja«, bestätigte der Vampir und wies mit dem Finger auf den dunklen Schacht über ihnen. »Nach oben.«

»Na supi«, stöhnte Tom. »Und wer von uns ist jetzt der Depp, der als Erstes eine von den Ketten anfasst?«

»Ich.« Mimi schwebte entschlossen unter den Schacht, umkreiste die einzelnen Ketten und sah sie sich eine nach der anderen genau an.

»Was?«, rief Tom erschrocken. »Aber du hast doch gesehen, dass die Fallen auch gegen Gespenster wirken.«

»Ja, und wie«, gab Mimi zu. »Und drum hab ich ja auch eine Idee.«

Tom runzelte die Stirn. »Okay? Was hast du vor?«

Das Geistermädchen grinste geheimnisvoll und zog die Schultern hoch. »Na, ich ziehe an allen Ketten gleichzeitig.«

»Mimi!«, entfuhr es dem Vampir. »Das ist töricht, wir wissen nicht …«

Mimi unterbrach ihn ungeduldig. »Jajaja, ich bin doch nicht bescheuert.«

Vlarad schnaufte entrüstet und warf dem Geistermädchen einen ungehaltenen Blick zu. »Also bitte, was soll denn diese Gossensprache!«

Mimi seufzte ergeben, doch dann fasste sie sich in die Haare und rupfte mit einer ruckartigen Bewegung ein Büschel Haare vom Hinterkopf.

»Au!«, machte Tom erschrocken, doch Mimi winkte lässig ab.

»Kein Problem, wenn ich nicht feststofflich bin, spür ich auch keinen Schmerz.« Das Geistermädchen betrachtete das Büschel in ihrer Hand und stellte dann fest, dass sie längst nicht genug für ihr Vorhaben hatte. »Hm, das genügt noch nicht.« Erneut legte sie Hand an ihr Haar und weitere Büschel kamen zu den Ersteren hinzu.

»Auauau!«, rief Tom »Aber ich spür das!«

»Du bist süß«, lachte Mimi glockenhell. »Dann dreh dich bitte weg.«

»Musst du etwa nochmal?«

»Einmal noch«, nickte das Geistermädchen und Tom drehte sich gerade noch schnell genug weg, um den letzten Rupfer nicht auch noch mit ansehen zu müssen.

»So, und jetzt brauch ich einen Moment, denn ich muss ein paar Knoten machen.« Geschickt sortierte Mimi ihre Ausbeute und begann, diese zu mehreren Strängen zu verflechten.

»Ahhh, ich verstehe!« ertönte da die Stimme des Vampirs und Tom drehte sich zu ihm herum.

»Ich … auch vielleicht … nicht?« Tom fühlte sich zum ersten Mal seit langem wieder wie dem Depp sein Wurstbrot. Das war die unterste Deppenkategorie in seiner World Of WerWizards Gilde gewesen, direkt unter dem Depp sein Depp.

Der Vampir bedachte Tom mit einem lehrerhaften Blick. »Nun, kurz gesagt: Wenn Mimi sich konzentriert und feststofflich wird, dann wird sie nicht wirklich zu einer menschlichen Person aus Haut und Haaren.«

»Nein?«, staunte Tom. Genau das hatte er nämlich bisher immer gedacht.

»Nein. Das was du dann fühlen kannst, ist eine perfekte Imitation aus verdichteter, thaumaturgischer Materie. Dies ist einer der Gründe, warum Mimi über viele Jahrzehnte üben musste und das Ganze dann auch nur wenige Sekunden anhält.«

»Okay … Krass … Ich meine, wow! Aber …«, stammelte Tom, um wenigstens irgendwas gesagt zu haben.

»Somit sind auch ihre Haare nicht wirklich Hornfäden aus Keratin, wie bei dir und mir.«

»Äh, sind sie das?«, fragte Tom verunsichert.

»Ja«, bestätigte Vlarad. »Aber bei Mimi nicht. Ihr Haar besteht aus thaumaturgischen Teilchen, durch Willenskraft organisiert und zusammengerutscht, damit sie sich anfühlen wie menschliches Haar.«

Tom nickte. »Alles klar soweit, sag ich jetzt einfach mal. Aber was bringt uns das jetzt?«

»Lass es mich so formulieren: Die Waffe, die in der Lage wäre, einen Verbund aus materialisierten, thaumaturgischen Teilchen zu zertrennen, muss erst noch geschmiedet werden.«

»Du meinst …«

Der Vampir nickte. »Richtig. Mimis ›Haare‹ sind für den kurzen Moment der Materialisation unzerstörbar. Davor und danach sind sie aber so gut wie nicht vorhanden.«

»Nicht übel«, staunte Dada anerkennend. »Clevere Idee, Kleine.«

»Ich bin nicht klein«, protestierte Mimi selbstbewusst. »Trotzdem danke.« Mit den Händen wedelte sie die anderen von den Ketten weg. »Ihr könnt euch schon mal ein paar Meter entfernen.«

»Aber …«, wollte Tom sofort einwerfen, doch Mimi ließ keine Widerrede zu. »Du auch, Tom, ich muss mich jetzt gleich wirklich extrem konzentrieren und da kann ich nicht gleichzeitig auf dich aufpassen.«

»Hm. ’kay«, machte Tom, doch erst der Ruf des Vampirs brachte ihn wirklich dazu, sich abzuwenden. »Komm, Junge.«

Immer wieder sah Tom über die Schulter zurück zu Mimi, die sich wieder mit ihren Haaren beschäftigte, bis er die anderen endlich eingeholt hatte.

»Also, Mimi lässt die Haare gleich feststofflich werden, fädelt sie in alle sechs Ketten ein und dann zieht sie dran?«

»Ganz recht.« Der Vampir blieb stehen und bedeutete allen, es ihm gleich zu tun. »Ich denke, wir sind weit genug entfernt.«

Tom deutete in die entgegengesetzte Richtung: »Außer irgendwas kommt von hinter uns – dann wären wir jetzt näher dran.«

»GMMMHH.« Gemächlich, wie es seine Art war, stapfte der Zombie drei Meter weiter den Gang hinunter, bereit, sich allem in den Weg zu stellen, was sie von hinten zu überraschen drohte.

»Das ist lieb von dir, Wombie«, rief Tom und streckte seinen Daumen hoch.

»GMMMHH.«

Kaum war das Stampfen des Zombies verklungen, hörte Tom plötzlich hinter sich ein Geräusch und er fuhr alarmiert herum! »Was ist das?! Hört ihr das auch!? Schritte!«

»Hihi, das bin ich, Tom!«, tönte da Mimis Stimme aus dem Halbdunkel. In ihrer Hand hielt sie ein feines Bündel geflochtener Haarseile. »Wenn ich feststofflich bin, kann ich doch nicht schweben«

»Oh Mann, stimmt ja.«, lachte Tom erleichtert. »Geht’s jetzt los?«

»Unbedingt«, antwortete Mimi. »Ich kann das ja leider nicht so lang …«

»Dann los, junges Fräulein!«, rief Vlarad angespannt und Mimi verlor keine Sekunde. Schon hatte sie ihre Fersen in den Boden gestemmt und zog mit aller Kraft. Die Haarseile spannten sich, Tom hörte die Ketten in der Entfernung klirren und …

»Nichts?«, stellte Vlarad enttäuscht fest.

»Verdammt, ich bin zu schwach«, schimpfte Mimi leise.

»Dada, Vlarad!«, knurrte Welf und deutete den beiden, mitzuhelfen. Sofort packten er, Dada und Vlarad Mimis von silbern glänzenden Haaren umwickelte Hände und stemmten sich gemeinsam mit ihr gegen die Ketten.

»Und PULL!«, gab der Werwolf das Kommando.

Die hauchdünnen Seile spannten sich sofort wie Drähte und Tom vernahm ein mehrstimmiges, sirrendes Geräusch, das klang, als würde man eine fürchterlich verstimmte Gitarre anschlagen.

Die rostigen Ketten rasselten laut, als sie aneinanderschlugen und urplötzlich brach die Hölle los: Zunächst klang es, als würde sich eine schwere Klappe öffnen, gleich darauf rummste es gewaltig und schon füllte sich der Tunnelabschnitt vor ihnen mit unzähligen winzigen Objekten, die von links und rechts aus den Wänden schossen. Dann blitzte eine Kaskade aus grellen Funken aus dem weit entfernten Schacht und dazu tönte eine Mischung aus Kettengerassel, Knirschen und kreischendem Metall erfüllte den Tunnel, bevor sich schließlich ein Wasserschwall aus dem Schacht ergoss, der ihnen zunächst dröhnend entgegenschwappte, sich dann aber schnell über die gesamte Länge des Gangs verteilte und bei Tom nur noch in Form einer erdigen Pfütze ankam. Schließlich herrschte Stille.

»Puh«, stöhnte Mimi leise. Ihre Kraft erschöpfte sich und das beendete die Feststofflichkeit, die sie dieses Mal wirklich lange aufrecht erhalten hatte. Vor Toms Augen wurde aus Mimi, dem Mädchen, wieder Mimi, der Geist.

»Du hast es geschafft, das war der Wahnsinn!«, jubelte Tom glücklich.

Matt antwortete Mimi: »Danke.«

»Wie geht’s dir?«, fragte er mitfühlend.

»Bissi schlapp, aber hab’s gleich«, hauchte Mimi zurück, lächelte Tom aber trotz ihrer Erschöpfung an. »Das war cool, oder?«

»Megacool«, bestätigte Tom und hob beide Daumen.

Der Vampir nickte anerkennend mit dem Kopf. »In der Tat, Mimi, ich bin beeindruckt und es sollte gemeinhin bekannt sein, dass das eher selten der Fall ist.«

»Hihi, ja, das stimmt«, kicherte Mimi zufrieden.

»Alsdann, lasst uns das Ergebnis gemeinsam in Augenschein nehmen«, sprach der Vampir, drehte sich herum und schritt den Gang hinunter.

Tom folgte ihm direkt. »Sagt mal, habt ihr vorhin nicht gesagt, da wären keine Hohlräume, kein Wasser, keine Pfeile und so?«

»Ja, da vorne wo die Ketten sind«, antwortete Welf. »Aber dass die zehn Meter Tunnel davor mit Fallen vollgestopft sind …«

»… hätten wir vorausahnen müssen«, vervollständigte der Vampir seinen Satz. »Umso dankbarer sollten wir unserem Geistermädchen sein.«

»So ist es«, sprach Mimi mit hoheitsvollem Timbre in der Stimme, aber es war unüberhörbar, dass sie dabei über beide Ohren grinste.

Tom und die anderen sahen sich um. Je näher sie dem Schacht am Ende des Tunnels kamen, desto klarer wurde, dass sie hier wohl eine Art »Best-of« an einschlägigen Fallen ausgelöst hatten.

Vlarad deutete auf einen Steinhaufen direkt unter der ersten Kette von links. »Der Zug an Kette Numero eins hätte den Kletterer unter einem Haufen Geröll begraben.« Der Vampir stupste die Kette an, die leise klirrend in Bewegung geriet. Irgendwo über ihnen lösten sich ein paar letzte Steinchen und gesellten sich zum Rest auf dem Boden.

Tom berührte die nächste Kette. »Kette Nummer zwei ist nass.«

»Und darunter ist ein Teil vom Boden rausgefallen«, knurrte Welf. »Ergibt somit ein Loch, das ins schwarze Nichts führt.«

»Na toll, ’ne altägyptische Klospülung«, witzelte Dada ironisch.

»Die waren schon weit für ihre Zeit, die Ägypter.«

»Aber Vlarad, du hast doch den Boden auf Hohlräume untersucht?«, fragte Tom und der Vampir nickte ernst. »Das habe ich wohl, aber mir scheint, dieses Loch war nicht etwa mit einer Klappe verschlossen, sondern von einem massiven Felsen verstopft, der bei Auslösen der Falle nach unten in die Tiefe rutschte und so diese Öffnung freigab. Ich muss sagen, ich bin … beeindruckt.«Mimi schwebte zur nächsten Kette. »Dann hat diese da vermutlich die winzigen Pfeile ausgelöst, die überall rumliegen.«

»Ein paar davon stecken sogar in den gegenüberliegenden Wänden«, staunte Tom und trat näher an den Felsen.

»Nicht anfassen, die Spitzen könnten vergiftet sein«, warnte Dada und Tom machte direkt wieder einen Schritt zurück.

Vlarad kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Die vierte Kette bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen, denn wie ihr alle sehen könnt, liegt sie hier vor uns auf dem Boden und zugleich hängt eine neue Kette an ihrer Stelle … Hm.«

Welf hob ein zerteiltes Kettenglied hoch und fuhr mit dem Finger über die scharfe Schnittkante. »Dafür wurde die fünfte Kette filetiert.« Er deutete auf den Boden. »Sauber durchtrennt … über zehnmal.«

»Wer oder was bitte schneidet denn durch Eisenketten, und will ich das wirklich wissen?«, fragte Tom fassungslos.

Welf zuckte mit den Achseln. »Ich hätt auf jeden Fall gern ein Taschenmesser aus dem Zeug.«

Dada deutete auf den Platz, an dem eigentlich die letzte der sechs Ketten hätte sein sollen. »Und da, wo die sechste Kette war, ist jetzt ein Felsen aus dem Boden gewachsen.«

Tom war an den mannshohen Stein herangetreten und beäugte ihn nun von allen Seiten. »Schaut mal, da ist was eingeritzt, oder?«

Dada nickte. »Eine Hieroglyphe.«

»Oder ein langer Strich mit zwei kurzen Strichen in der Mitte«, bemerkte Tom trocken und Mimi neben ihm kicherte.

»Das ist das Zeichen für den S-Laut.« Erklärte Dada. »Und außerdem bedeutet es Riegel«, sagte Dada.

»Du meinst wie Türriegel?«, fragte Tom.

Welf schnaufte trocken. »Bisschen arg schmal für nen Schokoriegel.«

Die Katzenfrau lachte leise und warf dem Werwolf einen belustigten Blick zu.

»Die Ägypter hatten ein Schriftzeichen für Türriegel?«, fragte das Geistermädchen erstaunt.

Dada zog die Augenbrauen hoch. »Die hatten allein sechs verschiedene Zeichen für Messer, dreizehn für Krug und eins für Brotlaib mit Fingerabdruck eines Bäckers

»Oh«, sagte Mimi.

»Ja, oh«, nickte die Katzenfrau und grinste breit. »Alles zu finden in Sir Alan Gardiners Zeichenliste von 1927. Die Frage ist nur, warum steht da Riegel auf dem Felsen?«

»Okay, das ist einfach«, antwortete Tom.

»Echt?«, staunte Dada.

»Na klar, das ist so eine typische Art Kombirätsel, wie sie Mimi und ich zur Genüge kennen.«

»Stimmt!« Das Geistermädchen schwebte zu Tom hinüber.

Der Vampir zog die Stirn in Furchen. »Woher kennt ihr beiden … Oh nein, sagt mir bitte nicht, es ist aus …«

»World Of WerWizards«, antworteten Tom und seine Geisterfreundin wie aus einem Mund.

Vlarad stöhnte und legte theatralisch die flache Hand auf seine Stirn. »Diese Schmach …«

»Hä? World of What?«, fragte Dada irritiert.

»Wörld of Wer-Wissards ist das vermaledeite Computerspiel, an das die beiden regelmäßig ganze Nächte verschwenden!«, rief der Vampir theatralisch.

»Ey«, protestierte Tom. »Nur manchmal und dann auch nur am Wochenende!«

Vlarad schnaufte entrüstet. »In eurem Alter las ich Bücher, weilte drauß’ in Wald und Flur und …«

»Is das jetz wirklich wichtig?«, unterbrach ihn Welf überraschend ruppig. Der Vampir atmete schnappend ein, schwieg aber dann.

»Schön«, knurrte der Werwolf. »Also, was sagt euer Werwizard zu der Nummer hier?«

»Darf ich?«, fragte das Geistermädchen und Tom vollführte eine übertrieben große, einladende Geste. »Ich bitte darum.«

»Also«, begann Mimi und schwebte vor den Steinpfeiler. »Ich gehe mal davon aus, dass es eine Kombination aus vier und sechs ist.«

»Vierundsechzig?«, grummelte Welf.

Das Geistermädchen kicherte. »Hihi, nein. Ich meine, es geht um die vierte Kette, weil das die einzige ist, wo nicht direkt eine Falle ausgelöst wurde. Und dieser Riegelstein an Position sechs spielt auch eine Rolle. Zieh doch mal an der vier.«

Welf sah Mimi misstrauisch an. »Da, wo der Kettenhaufen liegt? Echt jetzt?«

»Jepp.«

»Vlarad …?«, versuchte sich der Werwolf abzusichern, doch der Vampir stimmte Mimi tatsächlich zu.

»Ich ahne, worauf es hinausläuft. Bitte tu, was sie sagt.«

Der Werwolf zuckte mit den Achseln, griff nach Kette Nummer Vier und zog mit einem kräftigen Ruck daran. Sehr weit oben im Schacht über ihnen knallte etwas laut! Die Kette in Welfs Hand erschlaffte, er ließ los und sprang zur Seite. Da kam die gesamte Kette auch schon angerauscht und erhöhte den Haufen aus rostigen Gliedern vor ihnen noch einmal ganz gehörig. »Woah! Okay.« Gleich darauf rasselte eine neue Kette aus dem Schacht herab und Welf deutete darauf: »Soll ich die auch herunterreißen?«

»Hihi, nein!«, antwortete Mimi und wandte sich an den Zombie, der wie immer etwas abseits stand und vor sich hin starrte. »Wombie? Bitte sei so lieb und versuch mal, den Felsen mit dem Zeichen auf der Stelle zu drehen«, bat das Geistermädchen ihn freundlich.

»GMHH.«

Wombie stapfte los, packte mit beiden Händen den Felsen mit der Hieroglyphe und ruckte entschieden daran. Trotz der enormen Kraft des Zombies tat sich aber … nichts.

»GMMMHH?«, gab Wombie verwundert von sich.

»Andere Richtung?«, schlug Tom vor.

»GMMHH.«

Beim zweiten Versuch des Zombies drehte sich der Felsen. Es knirschte und schließlich rastete etwas hörbar ein. Die Hieroglyphe zeigte nun nach vorne.

Das Geistermädchen nickte zufrieden. »Das sieht doch supi aus, danke! Und jetzt zieh bitte nochmal an der Kette, Welf.«

»Hm«, grunzte der Werwolf, griff mit beiden Händen zu und zog. Das Metall klackerte und quietschte, aber sonst passierte nichts. Welf versuchte es noch einmal und setzte sein gesamtes Gewicht ein, doch die Kette blieb, wo sie war. »Okay … die hält!«

»Respekt, ihr zwei«, lobte Dada Tom und Mimi. »Wie heißt das Spiel nochmal?«

»World Of WerWizards«, antwortete Tom.

»Hm, muss ich mir wohl mal ansehen«, überlegte die Katzenfrau.

Der Vampir vergrub das Gesicht in seinen Händen und fluchte lautstark. »Bei allen hunderttausend jaulenden Jochgeiern, das auch noch …«

Dem Werwolf war die Ungeduld deutlich anzusehen. Er trat vor und griff abermals die Kette. »Woll’n wir dann mal? Wir woll’n mal. Hepp.«

Er zog sich daran hoch, stemmte gleichzeitig die Füße gegen die Schachtwand und schon arbeitete sich der Werwolf an der Kette aufwärts, in den Schacht hinein. Nach wenigen Zügen war er schon nicht mehr zu sehen, nur ab und zu drang ein entferntes Hepp zu ihnen herab.

Mimi flog zu Tom und deutete in den Schacht hinauf. »Kriegst du das hin, Tom?«

»Na klar!«, gab Tom selbstsicher zurück. »Ich war immer der Beste im Kletterpark und hab sogar den Zehner-Parkour unter der Zeit ge…«

»Na gut«, sagte seine Geisterfreundin, ohne Tom ausreden zu lassen. »Wir seh’n uns oben, bis gleich!« Damit sauste sie lautlos davon und verschwand ebenfalls im Schacht.

»Bis … ja«, sagte Tom, während er Mimi hinterher sah. Der Vampir betrachtete den Schacht kritisch, verzog den Mundwinkel und seufzte. »Nun denn … dann wollen wir mal. Eine Kletterpartie auf meine alten Tage …«

Tom winkte ab und setzte einen fachmännischen Blick auf. »Das schaffst du locker, Vlarad. Du kannst dich mit den Füßen und dem Rücken an den Schachtwänden abstützen, so ähnlich wie Welf.«

Vlarad warf Tom einen seltsamen Blick zu und sprang dann aus dem Stand hoch. »Hm. Und hopp.« Problemlos zog sich der Vampir allein mit der Kraft seiner Hände an der Kette entlang, ohne auch nur einen Fuß zur Unterstützung einzusetzen.

»Oh … okay … oder so«, murmelte Tom.

Dada lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Sieht nicht so aus, als bräuchte der irgendwas zum Abstützen, hm? Ich übrigens auch nicht. Viel Spaß.« Kaum hatte die Katzenfrau zugegriffen, war sie auch schon über ihm in dem Schacht verschwunden.

»Gut, bin ich also der Einzige, der hier gleich an der Kette hängt wie ein Strumpf voller Kartoffelpüree«, murmelte Tom vor sich hin.

»GMMMHH«, machte der Zombie neben ihm und Tom verstand, dass er selbst nun an der Reihe war.

»Ich mach ja schon … ich mach ja schon … Moment …« Er schlüpfte aus dem Rucksack und positionierte diesen vor der Brust. So würde er sich mit dem Rücken und mit den Füßen in den Schacht spreizen können und musste nicht so viel Kraft aufwenden.

Tom atmete noch einmal durch, gab sich dann einen Ruck und ergriff die rostigen Kettenglieder. Dann zog er sich daran hoch, stemmte sofort die Füße gegen die Felswand und drückte damit den Rücken an die andere. Ja, das funktionierte tatsächlich! Er konnte sogar beide Hände kurz von der Kette lösen, ohne wieder herunter zu rutschen.

Um vorwärts zu kommen, musste er sich natürlich Stück für Stück hochziehen und dann immer wieder einspreizen. Aber so konnte er zwischendurch wenigstens die Hände und die Arme entlasten. Es würde also entschieden länger dauern als bei den anderen, aber er hatte eine realistische Chance, die Kletterpartie ohne Hilfe hinter sich zu bringen.

»Also dann …«, murmelte Tom und zog sich ein weiteres Stück hoch. Die Kette schwankte und klirrte, aber es funktionierte. Beim dritten Mal bemerkte er bereits ein leichtes Ziehen im linken Arm. Bald spürte er das gleiche auch auf der rechten Seite und schließlich machte sich die Anstrengung auch in der Beinmuskulatur bemerkbar.

Obwohl Tom am liebsten möglichst lautlos geklettert wäre, um sich nichts anmerken zu lassen, entfleuchte ihm nun bei jedem weiteren Klimmzug ein leises Stöhnen.

Dieses Stöhnen wurde mit jedem Mal etwas lauter, rauer und steigerte sich schnell zu einem durchgehenden Geschnaufe. Irgendwann war Tom auch völlig egal, ob die anderen ihn hören konnten oder nicht. Er war nur noch damit beschäftigt, einen Arm über den anderen zu setzen und nicht den Halt zu verlieren.

Natürlich wusste er, dass Wombie irgendwo unter ihm war und niemals zulassen würde, dass Tom in den Tod stürzte. Trotzdem wollte er es weder darauf ankommen lassen, noch hatte Tom vor, sich vor den anderen so vollkommen zu blamieren. Insbesondere vor Mimi, denn schließlich hatte er vor dem Geistermädchen noch mit seinen Kletterkünsten geprahlt. Das würde er beim nächsten Mal garantiert sein lassen. »Immerhin … wieder … was … gelernt …«, stieß Tom zwischen ein paar laut rasselnden Schnaufern hervor. Dann biss er die Zähne zusammen, ignorierte das Brennen in Armen und Beinen, so gut es möglich war, und arbeitete sich weiter Stück für Stück nach oben.