4. Kapitel
Gabe
Er lief. Er lief so schnell, dass seine Gedanken doch gar nicht mehr mitkommen konnten, doch sie waren ihm wie verdammte Läufer-Dämonen auf den Fersen, hefteten sich an seine Schuhe und Beine und krochen in ihn hinein.
Sie wussten genau, auf welche Stelle sie drücken mussten, dass die noch nicht geschlossene Wunde wieder aufriss. Er fragte sich, wie oft das noch passieren würde. Wie viel Zeit musste vergehen, bis es nicht mehr schmerzte, bis er es als Erfahrung abtun und nach vorne sehen konnte?
Zehn Jahre. Zehn verdammte Jahre hatte er an eine Illusion verschwendet, hatte gutgläubig dabei zugesehen, wie sein Leben manipuliert und von einem anderen Menschen bestimmt wurde. Zehn Jahre hatte er geplant und geträumt, nur um dann feststellen zu müssen, dass die besten Pläne in Flammen aufgehen konnten.
Seine Uhr verkündete den Eingang einer Nachricht. Er sah nur die Überschrift und seufzte auf. Genau deshalb. Weil er ständig diese Nachrichten bekam, würde es niemals aufhören.
Brady gestern Morgen auf dem Arm zu halten hatte ihn daran erinnert, was er sich wirklich wünschte und wie weit er inzwischen von diesem Traum entfernt war, der sich vermutlich niemals für ihn erfüllen würde.
Er hatte verdammt nochmal alles dafür getan. Er hatte ein perfektes Leben gelebt, ein regelmäßiges Einkommen, ein schönes Haus mit einem großen Garten, in den vier Trampoline gepasst hätten. Er fuhr einen beschissenen Van, hatte einen guten Job und lebte in einer langjährigen Beziehung. Es. War. Perfekt. Gewesen.
Die perfekte Lüge.
Er sah die Wurzel nicht kommen, sie tauchte einfach vor ihm auf, und sein Schuh blieb daran hängen. Sein schneller Lauf wurde abrupt gestoppt und er fiel der Länge nach zu Boden. Ein wundervolles Abbild seiner derzeitigen Lebenssituation.
Kleine Steinchen gruben sich in seine Knie und Handflächen und er fluchte, ehe er die Hand auf den Boden knallte. Es tat weh, aber es war eine gute Art von Schmerz, die ihn daran erinnerte, dass er wenigstens und zuletzt noch etwas Schmerz fühlen konnte. Als ob er dafür eine Erinnerung gebraucht hätte.
»Fuck!«, rief er. Mac tänzelte um ihn herum und kläffte.
»Alles okay. Aus, Mac«, seufzte Gabe, als er sich wieder aufrichtete. Sein T-Shirt war an einer Stelle zerrissen, seine Knie bluteten und aus seiner rechten Hand pulte er zwei Kieselsteinchen. Fuck.
»Lass uns nach Hause gehen«, murmelte Gabe und humpelte los. Sie hatten sich bereits auf dem Heimweg befunden, und wären bald da, was gut war, denn das Blut lief an seinen Beinen in dünnen Rinnsalen hinab. Er glaubte nicht, dass er sich ernsthaft verletzt hatte, das wäre viel eher passiert, wenn er weiter herumgerannt wäre wie ein Verrückter.
Er verließ den Wald und folgte einem schmalen Weg, der ihn zurück nach Crystal Lake und in sein Appartement führen würde.
»Scheiße, Gabe, was ist passiert?«
Gabe zuckte beim Klang von Austins Stimme zusammen. Er sah sich um und entdeckte ihn bei einer Art Parcours, wo er gerade zwei Eimer, die er in der Hand gehalten hatte, zu Boden stellte. Er wusste natürlich, dass Jakes und Ethans Haus sich hier befand, aber vielleicht hatte er in der letzten Zeit, wenn er daran vorbeigelaufen war, einfach so getan, als wüsste er es nicht. Immerhin lebte Austin gerade dort, und von dem wollte er sich ja fernhalten.
Austin kam mit großen Schritten auf ihn zugejoggt, so schnell, dass Gabe keine Zeit hatte, zurückzuweichen. Mac begrüßte ihn schwanzwedelnd, doch dieses Mal beachtete Austin ihn nicht. Ohne zu zögern griff er nach Gabes Hand und untersuchte sie, dabei runzelte er die Stirn auf eine ziemlich niedliche Art.
»Das ist nichts«, sagte er und zog die Hand zurück.
»Das ist nichts? Was ist da drin passiert?« Austin nickte zum Wald. »Wurdest du von einem Bären angegriffen?«
»Ich bin hingefallen«, erklärte Gabe. »Nach einem Bärenangriff würde ich jetzt wahrscheinlich anders aussehen.«
»Komm mit.« Austin scherte sich nicht um seinen halbherzigen Protest, umfasste seine Schulter und schob ihn ins Innere des Hauses, das bei der draußen herrschenden Hitze angenehm klimatisiert war. Sie durchquerten den Wohnbereich und die Küche und betraten kurz darauf ein hell gefliestes Badezimmer. Mac verschwand schnüffelnd aus Gabes Sichtfeld.
»Hinsetzen.«
»Du musst das nicht tun.«
»Ich weiß«, erwiderte Austin. Er ging auf die Knie und sein Kopf verschwand gleich darauf in dem Kästchen unter dem Waschbecken. »Hier ist es«, sagte er gleich darauf und zog triumphierend eine rote Tasche hervor.
Er öffnete sie und kramte darin herum, dann hielt er ein Fläschchen Desinfektionsspray in die Höhe. »Keine Ahnung, ob das brennt«, murmelte er nachdenklich.
»Austin …«
»Du musst einfach die Zähne zusammenbeißen.« Austin ging in die Hocke und inspizierte die Abschürfungen auf seinen Knien, auf denen das Blut bereits geronnen war. Er sprühte die Desinfektionslösung auf die Wunden und Gabe fluchte.
»Es brennt also«, erwiderte Austin trocken. »Ist gleich vorbei.« Mit viel mehr Sanftheit, als Gabe erwartet hatte, entfernte er das Blut und Überreste von Dreck und Steinchen. »Willst du ein Pflaster?«
Gabe schüttelte den Kopf.
Austin lachte. »Hier.« Er hielt eine rosafarbene Packung Pflaster in die Höhe. »Prinzessin Erdbeermund. Die sind bestimmt noch von Harlow.«
Mac kam ins Bad und nutzte den Moment der Stunde, um Austin einmal quer übers Gesicht zu lecken. Der verzog das Gesicht. »Danke mein Freund, das habe ich jetzt gebraucht.«
Gabe grinste. »Du hast wohl einen Fan.« Er würde nicht darüber nachdenken, dass Mac Andrew gegenüber immer reserviert gewesen war. Gabe hatte das damit erklärt, dass Mac ohnehin nicht schnell Bindungen zu anderen Menschen aufbaute, aber bei Austin schien er eine Ausnahme zu machen.
»Oh halt! Hier ist auch noch eines mit Batman! Aber es ist zu klein.« Austin hielt ihm ein blaues Pflaster mit dem Superhelden darauf entgegen.
Gabe lächelte. »Ich glaube, ich lasse die Wunde einfach atmen.«
»Gute Entscheidung.« Austin griff nach seiner Hand, und sofort schoss ein Blitz durch Gabes gesamten Körper, der sich in seiner Mitte manifestierte. Verdammt!
»Nochmal Zähne zusammenbeißen«, sagte Austin und desinfizierte auch die kleinen Wunden in seinen Handflächen. Vermutlich war es ihm nicht mal bewusst, aber er begann, mit seinem Daumen sanfte Kreise an Gabes Handoberfläche zu ziehen. Das fühlte sich verdammt gut an. So gut, dass er ihn fast darum gebeten hätte, ihn einfach noch ein bisschen länger zu halten. Weil das bedeutete, dass er für ein paar wenige Momente nicht allein war. Aber dann merkte er selbst, wie dumm seine Gedanken waren, und entzog Austin seine Hand. Austin sah auf und ihre Blicke verhakten sich ineinander.
»Besser?«, fragte Austin nach atemlosen Sekunden des Schweigens.
»Nein«, sagte Gabe leise, weil es die Wahrheit war. Die Schürfwunden würden heilen, aber was war mit seinem Herzen?
»Was kann ich tun?«, fragte Austin. Seine Stimme war ruhig, viel ruhiger, als Gabe sie jemals vernommen hatte. Beruhigend, warm, freundlich. Alles, was er ganz sicher nicht von einem Mann wie Austin oder irgendeinem anderen Mann haben wollte.
»Danke für deine Hilfe«, sagte Gabe und erhob sich. Austin tat es ihm gleich, ließ seinen Blick prüfend über ihn gleiten, und Gabe wusste nicht, was er getan hätte, wenn er nicht zurückgetreten wäre. »Ich muss weiter.«
»Ja. Viel Arbeit«, sagte Austin leise und seine Augen verdunkelten sich, bis Gabe nicht mehr sicher war, welche Farbe sie eigentlich hatten. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken, deshalb pfiff er leise, sodass Mac zu ihm lief, und verließ er so schnell wie möglich das Haus. Er kehrte in die Stadt zurück, weit weg von Austin und seinen magischen Händen und merkwürdigen Blicken.
Morgen würde das alljährliche Sommerfest stattfinden, und die gesamte Stadt machte sich bereit dafür. Fähnchen wurden aufgehängt und Lichterketten, während Touristen und Einheimische das Treiben interessiert beobachteten. Gabe war noch nie während des Sommerfestes in der Stadt gewesen, und eigentlich hatte er auch keine Lust, dort hinzugehen. Er fühlte sich nicht danach, zu feiern. Er hatte sogar versucht, Tracy ihre Abendschicht zu klauen, doch die hatte abgelehnt.
Ohne nach rechts und links zu sehen verschwand er in seinem Appartement. Die Dusche war schmerzhaft, aber aushaltbar, und dann tat er genau das, womit Austin ihn vor ein paar Tagen aufgezogen hatte: Er setzte sich aufs Sofa und sah sich ein paar Folgen von The Big Bang Theory an, und daran gab es rein gar nichts auszusetzen.