5. Kapitel
Austin
Er hatte keine großen Erwartungen an ein Stadtfest, sondern vielmehr eine Menge Vorurteile, die komischerweise alle mit Kühen zu tun hatten.
Es gab keine Kühe.
Stattdessen Stände, die leckeres Essen anboten, Lotterien, einen Schießstand, ein großes Barbecue im Park, schimmernde Lichterketten und eine Liveband.
Austin kaufte sich ein Bier und schlenderte durch die Menschenmenge. Die meisten der Leute schienen sich zu kennen, unterhielten sich fröhlich, lachten und tanzten. Auf dem See waren viele Boote und feierten dort ihre eigene Party. Es war schon vor einer Weile dunkel geworden und das Marriotts hatte inzwischen geschlossen, wie er bei einem ausgesprochen zufälligen Blick dorthin festgestellt hatte.
Austin bewegte sich am Ufer des Sees entlang, auf eine Scheune zu, die er schon aus der Entfernung gesehen hatte. Sie war hell erleuchtet, mit bunten Lichterketten dekoriert und peppige Musik drang bis nach draußen. Die Wände der Scheune waren an zwei Seiten geöffnet worden und als er eintrat, bemerkte er, dass auf dem Boden Stroh lag.
Sehr viel Stroh.
So viel zum Thema Kühe, dachte er grinsend. Austin holte sich ein zweites Bier und stellte sich an einen der Stehtische, von wo aus er einen guten Blick auf die anderen Gäste hatte. Er befand sich in einer vollkommen neuen Situation, in der ihm niemand Rückhalt bot. Seit er in die NFL aufgestiegen war, war er immer Teil eines Teams gewesen und selten allein unterwegs. Und wenn nicht seine Kumpels bei ihm waren, dann zumindest Marsha – bis sie ihren Mann kennenlernte und beschloss, Austin und das aufregende Leben in der NFL gegen ein schreiendes Baby einzutauschen.
Austins Handy vibrierte und er sah auf den Bildschirm. Es waren mehrere Anrufe eingegangen, er würde später herausfinden, wer ihn zu erreichen versucht hatte. Auch auf den Anruf seines Vaters müsste er mal reagieren, wenn sich nicht alles in ihm dagegen sträuben würde.
Ein Aufruhr im hinteren Teil der Bar ließ ihn hochsehen. Einer der Farmer war anscheinend vom Hocker gefallen. Austin grinste und beobachtete, wie die umstehenden Gäste dem Pechvogel aufhalfen, der mehr als unsicher auf seinen Beinen taumelte. Austin verschluckte sich beinahe an seinem Bier, als ihm aufging, wer da so betrunken herumtorkelte.
Er sah dabei zu, wie Gabe alle Hände abschüttelte, die ihn stützten, und sich einen Weg aus der Scheune suchte. Er murmelte etwas vor sich hin, dann war er weg.
Austin folgte ihm aus der Scheune und das Ufer entlang. Gabe prallte beinahe mit einer älteren Lady zusammen, und als sich ein größerer Mann vor ihm aufbaute, hastete Austin schnell an seine Seite. »Schon gut, ich kümmere mich um ihn«, sagte er und lächelte. »Komm mit.« Er legte Gabes Arm um seine Schulter und umfasste mit dem anderen seine Hüfte. Zusammen bahnten sie sich einen Weg durch die Menschen, wobei Gabe sich schwer auf ihn stützte.
»Komm schon, Gabe, hilf mir ein bisschen«, schnaufte Austin. Er machte einen Bogen um eine größere Ansammlung von Leuten und verließ dann den Weg am Ufer, bis sie einen weniger belebten Bereich im Park erreichten. Er führte Gabe zu einem umgekippten Baumstamm. »Setz dich da hin«, sagte er und schob ihn rückwärts.
»Austiiiiin«, sagte Gabe breit grinsend und vollkommen betrunken. »Du hast mich gerettet vor diesem Monster-Kerl, hast du den gesehen?«
»Habe ich. Und dafür bist du mir was schuldig, mein Großer.« Austin konnte nicht widerstehen, und fuhr mit der Hand durch Gabes verstrubbelte Haare. Sie waren genauso weich, wie er es sich vorgestellt hatte. Allerdings hatte er nicht mit der Wärme gerechnet, die sich direkt von seinen Fingerspitzen in jedem Winkel seines Körpers ausbreitete.
Himmel.
»Ich mach allessss, was du willst«, sagte Gabe mit großen Augen. »Hey, kann ich ’n Bier haben?«
»Ich glaube, wir wechseln auf Mineralwasser. Bleib einen Augenblick hier und warte auf mich, okay?«
Gabe nickte und Austin eilte zum nächsten Getränkestand, wo er eine Flasche Wasser für ihn holte. Als er zurückkehrte, war Gabe nicht mehr zu sehen. Austin sah sich fluchend nach ihm um. »Gabe?«
»Hier«, kam Gabes gedämpfte Antwort von irgendwoher. Austin brauchte einen Moment, bis er ihn fand. Er war vermutlich rückwärts vom Baumstamm gekippt, denn jetzt lag er auf der Wiese, die Beine noch immer am Stamm lehnend, in die Höhe ragend, und sah in den Himmel über ihm.
»Du bist echt richtig groß«, sagte er mit niedlicher Verwunderung in der Stimme, während er scheinbar versuchte, seine Umrisse mit den Händen nachzufahren. »Riesig.«
Austin lächelte und legte sich neben Gabe. »Richtig schön hier unten, was?«
»Hah!«, machte Gabe.
»Was heißt das?«
»Was denn?«
»Na, dieses hah! . Es klingt komisch.«
»Es heißt einfach nur hah. Mehr nicht.« Gabe verstummte und sie lauschten eine Weile der Live-Musik. »Ich hätte gern noch ein Bier«, murmelte er schließlich.
»Du bist schon sehr betrunken, Gabe.«
»Nicht genug.«
Austin wandte seinen Kopf und sah Gabe von der Seite an. Er starrte noch immer in den Himmel hinauf zu den funkelnden Sternen über ihnen.
»Machst du das öfter? Dich betrinken und dir dann Ärger einhandeln?«
»Manchmal«, erwiderte Gabe leise. »Macht alles leichter.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Man denkt nicht mehr nach.«
»Worüber?«
»Vieles.«
»Okay, du willst nicht darüber sprechen, das kann ich verstehen.«
»Ja?«
»Sicher. Wir alle haben unsere Geheimnisse.«
»Erzähl du mir deins, dann erzähl ich dir meins«, sagte Gabe mit schleppender Stimme. Er legte einen Arm hinter den Kopf, den anderen hob er an und zeichnete mit der Hand die Umrisse der Sterne nach. Austin betrachtete ihn einen Moment lang. Er war ein schöner Mann, muskulös an den richtigen Stellen, ohne bullig zu wirken. Man sah ihm das tägliche Training an. Seine Haare waren wundervoll und er wollte nochmals hindurchfahren, was verrückt war, weil er solche Sachen nicht machte.
»Ich vermisse die NFL. Am liebsten würde ich ins nächste Flugzeug steigen und ins Trainingslager stürmen. Manchmal kann ich die ganze Nacht nicht schlafen, weil mein Körper einfach nicht müde wird, egal, wie viel ich trainiere.«
»Du könntest den ganzen See durchschwimmen, vielleicht würdest du dann müde werden«, erwiderte Gabe. Jetzt sah er ihn an und ihre Blicke sanken ineinander wie Mond und Schatten.
»Dann wäre ich aber noch immer allein.«
»Alleinsein ist beschissen.« Gabe seufzte wieder, so schwer, als würde er die Last der ganzen Welt auf den Schultern tragen. »Ich hasse es.«
»Und trotzdem willst du keine Zeit mit mir verbringen.«
»Ja.«
»Dann wärst du nicht mehr allein. Wir könnten Sport machen oder …«
»… Klippen springen«, ergänzte Gabe seinen Satz.
Austin riss vor Überraschung die Augen auf. »Es gibt Klippen?«
»Baby-Klippen«, erklärte Gabe und lächelte schon wieder. Seine Unterlippe war voller als die Oberlippe, und er hatte ein Grübchen am Kinn, das Austin sogar durch den dunklen Bartschatten erkennen konnte, und er sollte verdammt sein, aber er wollte dieses Kinn küssen. Alles an Gabe sah so küssenswert aus.
»Ich will die Baby-Klippen sehen.«
»Ich brauche ein neues Auto«, sagte Gabe unvermittelt. Austin ließ der plötzliche Themenwechsel lachen.
»Ein neues Auto also. Was ist an deinem Van auszusetzen? Er bietet genügend Platz für Mac.«
»Er passt nicht mehr zu mir. Viel zu … ich will ihn einfach nicht mehr.«
Austin hörte die Traurigkeit in seiner Stimme, als ob der Van eine besondere Bedeutung für Gabe hatte, aber offenbar wollte er nicht darüber sprechen. Und dann dachte Austin an all die unausgesprochenen Dinge in seinem Leben und beschloss, nicht weiter nachzufragen. Es wäre nicht fair, Gabes Zustand auszunutzen, um mehr über ihn zu erfahren.
»Gabe, können wir einen Deal machen?«
»Kann ich ein Bier haben?«
Austin lächelte, und für eine winzige Sekunde verlor er die Kontrolle über seine Selbstbeherrschung. Er hob die Hand und ließ seine Fingerspitzen über Gabes Hand gleiten, die er inzwischen auf seinen Bauch gelegt hatte. »Kein Bier mehr heute. Morgen vielleicht.«
»Du bist zu streng.«
»Okay, Gabe, konzentriere dich bitte, ich will dir von diesem fantastischen Deal erzählen.«
»Ich höre zu. Auch wenn ich kein Bier bekomme.«
»Ich gehe mit dir Baby-Klippen-springen und wir kaufen ein neues Auto. Irgendetwas Cooles.«
»Einen Truck. Ich will einen Truck mit Vordersitzen. Keine Sitzbank hinten.«
Das war verdammt explizit und klang, als hätte Gabe bereits sehr genau über sein neues Auto nachgedacht. »Okay. Dann suchen wir einen Truck für dich. Oder einen Smart, der hat auch keine Rückbank.«
Gabe lachte leise. »Ich will einen Truck, keinen Smart.«
»Du wirst einen Truck bekommen. Und dafür verbringst du Zeit mit mir und wir trainieren gemeinsam.«
»Ich mag dich irgendwie.«
Austin lächelte wieder. Dieser Abend war so besonders, überhaupt nicht das, was er erwartet hatte. Keine Kühe, kein Stroh, nur dieser anbetungswürdige, traurige Mann. »Ich mag dich auch, Gabe. Und ich glaube, ich muss dich jetzt nach Hause bringen. Willst du noch einen Schluck Wasser trinken?«
Gabe schüttelte den Kopf, weshalb Austin die Flasche in die Seitentasche seiner Hose steckte, ehe er Gabe beim Aufstehen half. »Geht es?«, fragte er, und weil Gabe wieder anfing zu taumeln, umfasste er schnell seine Hüfte und zog ihn an sich. Nichts davon tat ihm leid.
Auf den Straßen war es nicht so voll wie am Ufer des Sees und im Hafen, weshalb sie problemlos Gabes Appartement erreichten. Sie stiegen die Treppen nach oben und Austin sah Gabe abwartend an. »Wo ist der Schlüssel?«
»Äh …« Gabe zuckte mit den Schultern.
»Okay, warte, ich suche ihn.« Austin trat näher und griff in Gabes Hosentasche. Dort fand er keinen Schlüssel, weshalb er es auf der anderen Seite versuchte, wo er fündig wurde. Ohne Vorwarnung trat Gabe einen letzten Schritt auf ihn zu. Sein Kinn strich über Austins Wange, dann spürte er seinen Atem auf der Haut.
Sein ganzer Körper wurde zu einem Feuerwerk der Empfindungen. Er reagierte wahnsinnig sensibel auf Gabes Berührungen, der jetzt seine Lippen sanft über Austins Haut wandern ließ, nur der Hauch einer Berührung, doch Austin traf sie mitten ins Herz. Sein gesamter Körper begann zu kribbeln und seine Kehle wurde staubtrocken. Hitze wanderte durch seinen Bauch und sammelte sich in seinem Schritt. Gabe war ein attraktiver Mann, seine körperliche Reaktion auf ihn vollkommen normal. Er wollte zurücktreten, die Tür aufschließen und Gabe in sein Bett verfrachten, doch er konnte sich keinen Meter weit bewegen.
Gabes Lippen wanderten über seinen Kiefer und erreichten schließlich seinen Mundwinkel. Er hielt inne, während sein Duft und die Magie seiner Berührung Austins Sinne vernebelte, bis er nicht mehr wusste, warum er hier war und was er tun sollte, weil er nur noch diesen Kuss wollte. Er drehte seinen Kopf in Gabes Richtung und ihre Lippen berührten sich nun vollends.
Aus Gabes Kehle drang ein leises Seufzen, das die Hitze in Austins Körper nur noch steigerte. Er vertiefte den Kuss, strich mit seinen Lippen über Gabes, nahm seine Süße wahr, den Geruch nach Bier, nach glückseliger Trunkenheit. Gabe neigte sich ihm entgegen und seine Lippen öffneten sich einen Spalt breit. Austin ließ seine Zungenspitze über Gabes Unterlippe gleiten, die perfekt und warm und einladend war. Gabes Zunge stieß gegen seine, und das genügte, um Austins letzte Barrieren zum Einsturz zu bringen. Er öffnete den Mund, ließ Gabe ein, kostete seinen Geschmack, der noch tausend Mal besser war, als er jemals erwartet hatte.
Sie atmeten beide schwer, als Gabe plötzlich wie in Zeitlupe zurückwich, lächelnd, sein Blick verhangen. Ein zufriedener, betrunkener, wunderschöner Kerl.
»Okay. Das war … ganz nett«, sagte Austin und räusperte sich. »Bett. Du brauchst dein Bett.« Es fiel ihm wahnsinnig schwer, sich zu konzentrieren, trotzdem durfte er nicht weitermachen. Gabe war betrunken und morgen würde er ihm den Arsch aufreißen. Austin trat einen Schritt zurück, stellte sicher, dass Gabe nicht rückwärts die Treppen hinunterfallen konnte, dann schloss er das Appartement auf, wo Mac sie bereits schwanzwedelnd begrüßte. »Komm mit«, sagte Austin, tätschelte Macs Kopf und zog Gabe hinter sich her. Er führte ihn in sein Schlafzimmer, dann blieb er stehen. »Du musst jetzt schlafen, Gabe.«
Gabe sank auf sein Bett und sah zu ihm auf. »Ich bin noch nicht müde.«
»Versuch es. Ich gehe noch mit Mac raus.« Er verließ schnell den Raum, weil er keine Ahnung hatte, ob er Gabes Blicken oder einer weiteren Berührung widerstehen können würde. Dieser Mann war eine einzige Versuchung, auch wenn Austin sich sicher war, dass er in nüchternem Zustand niemals so offensiv gewesen wäre.
Egal, was andere über ihn sagten, er war kein Arschloch, der sich einfach nahm, was er haben wollte, nur weil es ihm gerade angeboten wurde. Es gab durchaus Momente, in denen er seinen Kopf einschaltete und sich zumindest ansatzweise wie ein Erwachsener benahm, auch wenn sie rar gesät waren.
Als er wieder in Gabes Appartement zurückkehrte, lag der auf dem Rücken und schlief. Er war einfach nach hinten gekippt, sodass Austin seine Füße auf das Bett hob und ihn dann mit der Wolldecke zudeckte, unter der er selbst vor ein paar Tagen geschlafen hatte.
Er sah auf Gabe hinunter, und unwillkürlich erinnerte er sich an seinen traurigen Gesichtsausdruck vorhin im Park. Er beugte sich vor und fuhr nun doch mit den Fingern durch Gabes Haare. Er hätte ihn nochmal geküsst, wenn es sich nicht so falsch angefühlt hätte.