9. Kapitel
Austin
»Wo hast du eigentlich Mac gelassen? Ich vermisse meinen alten Freund«, sagte Austin, während sie einen Weg in Richtung Wald einschlugen. Kurz bevor sie ihn erreichen, bogen sie ab und balancierten auf einem schmalen Pfad, der bis ans Seeufer führte. Im Wasser lagen schaukelnd zwei rote Kajaks.
»Du willst Kajakfahren?«, fragte Gabe ungläubig.
»Japp. Wir brauchen die Kajaks, um zu dem Ort zu kommen, den ich dir zeigen will.«
»Dann war es wohl gut, dass ich Mac zu Hause gelassen habe.«
»Es wäre kein Problem gewesen, ihn mitzunehmen«, sagte Austin achselzuckend. Gabe sah kurz zu ihm hinüber und eine verstohlene Wärme breitete sich in seinem Herzen aus.
Sie schoben die Boote ins Wasser, kletterten hinein und paddelten los und es wunderte Austin nicht, dass Gabe sich dabei sehr geschickt anstellte. Wahrscheinlich war er schon öfter in einem Kajak unterwegs gewesen.
Die Stille des Sees und die hereinbrechende Dämmerung ließ sie beide verstummen, und jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach. Austin dachte an Gabes Wunsch, sich unverbindlich mit fremden Männern zu treffen, weil dieser Andrew ihn so sehr verletzt hatte. Sein ganzer Körper kribbelte bei der Vorstellung von Gabe und einem anderen Mann. Was, wenn der irgendetwas tat, das Gabe gar nicht wollte? Was, wenn er unsanft zu ihm war oder irgendetwas Gemeines zu ihm sagte? Gabe wäre demjenigen schutzlos ausgeliefert.
Er verdrehte die Augen. Gabe war ein erwachsener Mann, vierunddreißig Jahre alt und keine vierzehn. Er würde schon klarkommen mit seinem Date, das er sich aussuchte. Es gab keinen Grund, seinen Beschützerinstinkt von der Leine zu lassen. Er hatte nicht mal gewusst, dass er überhaupt einen Beschützerinstinkt besaß.
Gabe war ein Freund und hatte Austin um Rat gefragt, also sollte Austin sich auch wie einer benehmen und nicht auf einmal so tun, als hätte er irgendwelche Vorzugsrechte oder Besitzansprüche.
Besitzansprüche . Jetzt drehte er wohl vollkommen durch. Sein Leben lang hatte Austin noch nie irgendwelche Ansprüche gegenüber einem anderen Menschen erhoben. Er war immer froh gewesen, wenn er weiterziehen konnte, und jetzt das? Dieser Ort hier tat ihm nicht gut, mit all dem Wasser und Wald und dem Diner, in dem dieser herrliche, attraktive Mann arbeitete, der seine Gedanken verrückt spielen ließ.
Er sollte Gabe zeigen, wie es sein konnte, unverbindlichen Sex zu haben, denn wenn es einer wusste, dann ja wohl er, auch wenn er in den vergangenen Monaten eine gewisse Müdigkeit verspürt hatte. Es konnte anstrengend sein, viele wechselnde Bettpartner zu haben und währenddessen immer aufpassen zu müssen, was man tat und sagte, weil jederzeit alles in der Zeitung stehen konnte. Auch wenn er Bindungen vermied, war es nicht so, dass er sich nicht manchmal doch ein wenig Kontinuität in seinem Leben wünschte. Einen Menschen, der nicht jeden Abend durch einen anderen ersetzt wurde. Einen, dessen Namen er behalten konnte, von dem er wusste, was er am liebsten aß und trank, den er morgens nach dem Aufwachen nochmal an sich ziehen konnte, nur um dann in einem Knäuel aus Armen und Beinen wieder einzuschlafen.
Es war nicht so, dass er sein Sexleben nicht als befriedigend empfand, es war nur vielleicht im Laufe der Jahre passiert, dass er älter geworden war und seine Ansprüche sich verändert hatten. Der schnelle Sex wurde schal und das Wissen darum, dass die meisten seiner Bettpartner vermutlich nur mit ihm Sex hatten, weil er Austin Perkins war, sprach nicht gerade für One-Night-Stands. Er hätte vermutlich sogar drei Augen und eine Warze auf der Nase haben können und hätte trotzdem noch genug Auswahl gehabt.
»Wohin?«, fragte Gabe vor ihm und zog ihn mit seiner Frage aus seinen Gedanken.
»Eine Weile am Ufer entlang«, erwiderte Austin vage.
»Du willst zu den Klippen?«
»Meinst du die Baby-Klippen? Ich hatte keine Ahnung, dass sie so nahe sind!« Austin spürte sofort, wie das Adrenalin durch seine Adern pulsierte. Oh ja, er liebte Abenteuer und Herausforderungen, und im Moment lag sein Leben sowas von ereignislos und langweilig vor ihm, dass nur schon das Hören des Wortes Klippen ihm fast einen Orgasmus bescherte.
»Wir werden definitiv über diese Klippen sprechen müssen«, sagte er.
»Warum wundert mich das nicht?«, fragte Gabe schmunzelnd. Er hielt seinen Blick auf das Wasser gerichtet und paddelte langsam und gleichmäßig. Seine Muskeln, die sich unter seinem Polo-Shirt anspannten, waren deutlich erkennbar, und Austin lief das Wasser im Mund zusammen. Egal, wie sehr sich sein Leben verändert hatte, er liebte schöne Männer, und Gabe war sein heimlicher Favorit. Er war nicht so muskelbepackt wie die Jungs aus der NFL, Gabe hatte vielmehr den Körper eines Ausdauersportlers. Er war hochgewachsen, und das Selbstbewusstsein, mit dem er sich in seinem Körper bewegte, war einfach nur sexy.
»Was ist so spannend an dem, was du mir zeigen willst?«, fragte Gabe.
Austin grinste. »Alles. Es ist ein einziges Abenteuer.«
»Und du stehst auf Abenteuer?«
»Meistens.«
Gabe sah ihn einen langen Moment an, und Austin konnte seinen Blick nicht ganz deuten. Er war dunkel und irgendwie fragend, doch dann sah er weg und der Moment zog vorüber. In der Ferne tauchten bereits die Umrisse seines Zielortes auf. Er spürte innere Unruhe in sich aufwirbeln, wenn er daran dachte, was dieses Haus dort vorne für sein zukünftiges Leben bedeuten könnte.
Schweigend glitten sie durch das Wasser, bis Austin einen von Pflanzen beinahe vollständig verborgenen Steg ansteuerte. Als er vor einigen Tagen hier gewesen war, hatte er zwar ein paar Schilfpflanzen entfernt, doch es lag trotzdem noch viel Arbeit vor ihm.
»Das alte Feriencamp? Was, um Himmels willen, willst du mir dort zeigen? Du weißt, dass es da angeblich spukt, oder?«
Austin kletterte gerade aus dem Kajak und grinste Gabe an. »Ja, wirklich? Das kommt meinem Sinn für Abenteuer sehr entgegen.«
»Du bist verrückt«, erwiderte Gabe schmunzelnd. Er griff nach Austins ausgestreckter Hand und zog sich zu ihm auf den Steg. Die Hitze, die plötzlich seinen Arm hinaufschoss, überraschte ihn nicht sonderlich. Das war Anziehung. Pure Anziehung, und ganz ehrlich – er hatte keine Ahnung, wie er Gabe bis heute hatte widerstehen können, wenn schon eine simple Berührung ihrer Hände seinen Körper dermaßen auf Touren brachte, ganz abgesehen von dem Kuss. Er sah hoch in Gabes dunkle Augen. Sie schimmerten warm, sein Blick flackerte, und dann zog er seine Hand zurück. Ob Austin ihn dadurch noch mehr wollte? Ganz sicher.
»Komm mit.« Sie überquerten den wild wuchernden Rasen und hielten auf das Hauptgebäude zu, dem man jedes einzelne Lebensjahr ansah. »Hier war früher mal ein Angler-Camp. Du weißt schon, dickbäuchige alte Männer, die ihre Zeit damit verbrachten, Bier zu trinken und sich gegenseitig anzugrunzen.«
»Ganz schön klischeehaft«, erwiderte Gabe und zog eine Grimasse.
Austin fuhr unbeirrt fort. »Etwas später kamen die Pfadfinder, bis in die Neunzigerjahre hinein, anschließend stand es eine Weile leer.«
»Und dann?«
»Verschiedene Firmen interessierten sich dafür, aber im Grunde …«
»Jeder hatte Angst vor dem Geist.«
Austin lachte. Im Vorbeigehen hielt er bei einem kleinen Schuppen an, griff nach einer Metallstange, die an der Wand lehnte, und ging weiter. Er bemerkte Gabes Blick und grinste. »Ich habe keinen Schlüssel.«
»Du willst mir jetzt aber nicht sagen …«
Sie hatten die Haustür erreicht, Austin setzte die Brechstange an und hebelte die Tür mit einem gezielten Ruck auf. Sie schwang unheilvoll quietschend nach innen auf.
»Austin!«, rief Gabe entsetzt.
»Komm schon. Hätte ich lieber ein Fenster einwerfen sollen?«, fragte Austin und stellte das Brecheisen in die Ecke. Dann griff er nach Gabes Hand und zog ihn ins Innere des Hauses. Er war noch nicht oft hier gewesen, und der abgestandene, staubige Geruch drang ihm sofort in die Nase und ließ ihn niesen.
»Austin, wir sollten von hier verschwinden«, sagte Gabe mit gedämpfter Stimme. Er hatte ihm seine Hand bisher noch nicht entzogen, was wirklich fantastisch war. Austin entschied, dass er sie noch ein wenig länger halten wollte.
»Was siehst du, Gabe?«
»Ich sehe uns, wie wir demnächst im Gefängnis landen wegen Einbruchs und Sachbeschädigung.«
Austin lachte. »Denk weiter. Denk größer, kluger Mann.« Er machte eine halbe Drehung und sah sich in der Empfangshalle mit der hohen Decke um. »Was. Siehst. Du?«
»Austin, du machst mir Angst«, sagte Gabe, klang aber überhaupt nicht so. Stattdessen bildeten sich in seinen Augenwinkeln kleine Falten, die ihn noch attraktiver machten, als er anfing zu lächeln.
Gabe kam seiner Aufforderung nach, löste seinen Blick von ihm und sah sich in der Halle um. Vereinzelte Sofas, die mit weißen Tüchern abgedeckt waren, standen herum, zahlreiche Türen führten von hier aus in angrenzende Zimmer, oben gab es eine Galerie, die tiefer in das riesige Gebäude führte.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Klär mich auf.«
Austin ließ Gabes Hand los, griff in seine Hosentasche und holte einen zusammengefalteten Zettel hervor. Sein Herz klopfte wild, als er ihn auffaltete und Gabe entgegenhielt. »Lies vor.«
Gabe runzelte die Stirn. Er trat näher und griff nach dem Schriftstück, wollte es ihm aber augenblicklich zurückgeben. »Das ist ein Schreiben von einem Anwalt, ich sollte nicht …«
Austin schob ihm den Zettel wieder entgegen. »Lies es vor. Laut.«
»Aber …«
Austin verdrehte die Augen. »Kannst du tun, worum ich dich bitte? Ich will, dass du vorliest.«
Gabe starrte ihn einen Moment lang an, dann senkte er den Blick auf das Schreiben. Austin wusste im Grunde schon, was darin stand, denn er hatte schon heute Mittag mit seinem Anwalt gesprochen, doch er wollte die Worte von Gabe hören.
Mitten in einem Satz ließ er das Blatt sinken und sah ihn fassungslos an. »Du hast das Camp gekauft?«
Austin lachte leise. Er bewegte sich durch den Raum, während sich Gabes Worte in ihm manifestierten. Oh ja. Er hatte das Anwesen, zu dem nicht nur das verspukte Haus, sondern auch alle Nebengebäude und die Anlegestelle am See gehörten, gekauft.
Er nickte und sah Gabe an. »Lies weiter.«
Gabe fuhr fort. Es handelte sich um ein formelles Schreiben seines Anwaltes, der ihm mitteilte, dass der Kauf abgeschlossen und er der neue Besitzer des gesamten Anwesens war, doch für Austin klang jedes Wort so besonders und spannend, als würde er aus einem Abenteuerroman vorgelesen bekommen.
Schließlich endete Gabe und richtete seinen Blick auf Austin. »Du bist also gerade in dein eigenes Haus eingebrochen?«
»Ich kann hier tun und lassen, was ich will«, erwiderte er grinsend. Er durchschritt die Empfangshalle. Die Holzlatten knarzten unter seinem Gewicht. »Das hier wird ein Sportcamp für Kinder. Der Fokus liegt natürlich auf American Football.«
»Natürlich«, erwiderte Gabe. »Und wer leitet es?«
Austin warf Gabe einen ungläubigen Blick zu, dann deutete er mit einer übertriebenen Geste auf sich. »Wer ist besser dafür geeignet als ich?«
»Du? Wow. Das … das ist wirklich großartig. Ich hatte keine Ahnung, dass du hierherziehen willst, ich dachte, du bist nur zum Urlaub machen hier.«
»Ich habe das Anwesen schon vor ein paar Jahren entdeckt, als ich Ethan besucht habe. Und irgendwie … naja, es stand immer noch leer und ich bin gerade ein bisschen gelangweilt, also …«
Gabe lachte. »Du kaufst ein Feriencamp, weil dir gerade langweilig ist?«
Austin wusste nicht, ob er beleidigt sein sollte, denn natürlich gab es noch andere Gründe. Es bot ein wunderbares Versteck und tatsächlich viel Ablenkung, und wenn er irgendwann weiterziehen würde, konnte er es immer noch verkaufen.
Im Grunde war er sich nicht mal sicher, ob er das Sportcamp jemals eröffnen wollte, denn damit hing sehr viel Verantwortung zusammen. Eltern würden ihm ihre Kinder anvertrauen, damit er sie wichtige Lektionen lehren konnte, auf dem Footballfeld und auch abseits davon. Ehrlicherweise war er sich nicht sicher, ob er dem gerecht werden konnte. Wann immer er darüber nachdachte, füllte sich ein Ballon aus Angst, der sich immer weiter in seinem Magen aufpumpte und irgendwann zerplatzen würde. Auch jetzt spürte er ihn. Ganz tief drinnen.
»Ich glaube, das ist so ziemlich die coolste Idee, die ich jemals gehört habe«, durchbrach Gabe seine aufkommende Panik. Austin stieß den Atem aus und statt Angst breiteten sich nun Erleichterung und auch ein bisschen Stolz in ihm aus.
»Wirklich?«
»Wirklich, Austin. Aber … bedeutet das, dass du sesshaft wirst?«
Austin fuhr sich mit der Hand über den Nacken, Nervosität ließ seine Haut prickeln. »Ja, also … irgendwie schon, glaube ich. Erstmal.«
»Wow. Das sind ganz schön viele Veränderungen, oder?« Gabe legte den Kopf schief und lächelte. »Kommst du klar damit?«
Wie konnte er es wissen? Wie zur Hölle konnte ein fast vollkommen fremder Mann solche Dinge erfassen, die er sich selbst nicht mal eingestehen wollte?
»Nachdem ich die Verträge unterzeichnet hatte, habe ich erstmal gekotzt«, gestand er.
Gabe lächelte. »So schlimm?«
»Es ist eine riesige Verantwortung. Ich meine … sieh dich um. Dieses Haus ist eine Bruchbude, es muss von Grund auf saniert werden und ich habe da diese verrückte Idee, es selbst zu machen. Und irgendwann werden Kinder hier drin stehen und sich auf eine Woche voller Abenteuer freuen. Ich mach mir fast in die Hosen.«
»Warum tust du es dann? Ich … offen gestanden habe ich dich nicht als sesshaften Mann gesehen. Ich dachte eher, dass du jetzt, wo du nicht mehr an eine Mannschaft und einen Spielplan gebunden bist, deine Freiheit genießt und … du weißt schon.«
»Wild in der Gegend herumvögle? Das verliert mit der Zeit seinen Reiz, glaub mir«, sagte Austin leise. »Offen gestanden …« Er holte tief Luft, weil seine Brust auf einmal eng wurde und ihm das Atmen erschwerte.
»Was?«, hakte Gabe nach.
Austin starrte Gabe an. Es gab viele Dinge, die er ihm sagen könnte. Dass er Angst davor hatte, allein zu sein. Dass ihm manchmal so langweilig war, dass er befürchtete, Mist zu bauen und am Ende nur einer dieser ehemaligen Sportstars zu sein, die ihr gesamtes Geld versoffen und in Drogen gesteckt hatten. So jemand wollte er nicht sein, und wenn er ein Camp kaufen musste, um das zu verhindern, dann war es wohl so.
Austin sagte kein Wort, stattdessen ging er auf Gabe zu, griff nach dem Brief seines Anwalts, zerknüllte ihn und warf ihn quer durch den Raum, ehe er seine Hüften umfasste und ihn gegen die Wand schob, wo er ihn küsste.