Gabe
Am dritten Tag bemerkte Gabe das deutlich sinkende Interesse an seiner Person, was vor allem damit zusammenzuhängen schien, dass er sich nicht weiter in Austins Gegenwart gezeigt hatte.
Die Medien nahmen dies als Anlass, Gabe einen neuen Namen zu verpassen. Er war nun der Mann der Stunde
. Austins Mann der Stunde. Er hatte es gefühlt nicht länger als eine Stunde geschafft, sich an seiner Seite zu halten, was das Medieninteresse zwar abflauen ließ, aber auch dafür sorgte, dass sich richtiggehende Fanclubs bildeten, die Austin und ihn imaginär miteinander verkuppelten, Pärchenbilder bastelten oder sich auf die Seite von einem von ihnen schlugen, was alles sehr merkwürdig war.
Dass es keine neuen Fotos in den Nachrichten von ihm gab, lag auch zum großen Teil an Quentin Simmons, der sich als sein Retter in der Not herausgestellt hatte. Nicht, dass er es forciert hatte, im Grunde hatte er einfach nur seinen Job gemacht, und dafür war Gabe ihm mehr als dankbar. Mit unerschütterlicher
Strenge hatte er nach und nach Crystal Lake vom Reporter-Abschaum gereinigt, sodass nur noch die diskretesten von ihnen übrig waren, die mit stoischer Geduld darauf warteten, ein Interview mit Gabe oder Austin – oder im besten Fall mit ihnen beiden – zu ergattern, dabei aber keine Grenzen jedweder Art überschritten. Sie waren in der Nähe, hielten sich bereit, waren ansonsten aber komplett unauffällig, weshalb Gabe abwinkte, als Quentin ihn fragte, ob er einen Grund finden sollte, um sie auch noch loszuwerden.
Gabe hasste es noch immer, dass er mit den Bildern durch die Presse gezogen war, es war peinlich und sehr unangenehm, aber das war vermutlich der Preis, den man zahlen musste, wenn man sich mit einer bekannten Person einließ – abgesehen vom Offensichtlichen.
Austin wollte ihn nicht. Gabe war für ihn nicht mehr als ein Fick gewesen, der sich im Nachhinein als sehr unangenehm herausgestellt hatte. Austin hatte sich klar positioniert und daran gab es eigentlich nichts auszusetzen. Trotzdem machte es Gabe mehr aus, als es sollte. Es verletzte ihn, weil er Austin nicht auf irgendeiner Party kennengelernt und sich hatte abschleppen lassen. Nein, er hatte wirklich eine Freundschaft zu ihm aufgebaut. Sie hatten Sport miteinander getrieben, sich kennengelernt, Austin hatte ihn nach Hause gebracht, als er zu betrunken gewesen war, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Und dann hatten sie zusammen auf dem Highway gestanden und geweint.
Auch wenn Austin nie wieder ein Wort darüber verloren hatte, Gabe erinnerte sich noch heute an seine Tränen, die sich mit dem Regen und dem Wind vermischt hatten, sodass sie beinahe unsichtbar waren. Und diese Tränen waren der einzige Grund, warum Gabe keinen Groll gegen Austin hegen konnte. Weil auch er seine Geschichte mit sich trug. Wie auch immer die lauten mochte, aber auch Austin war hierhergekommen, um vor
etwas davonzulaufen. Er war nicht weniger verloren als Gabe, und vielleicht erkannte er das nur, weil er im Moment praktisch der Spezialist aller verlorener Menschen war.
Gabe schenkte Quentin Kaffee nach, was der mit einem Nicken quittierte. Vorgestern waren sie sich zufällig beim Joggen begegnet und hatten den Rest ihrer Runde gemeinsam beendet. Es war nicht unangenehm gewesen, aber so locker und entspannt wie mit Austin war es auch nicht. Quentin war ein Cop, der seinen Beruf sehr ernst nahm. Er lächelte nur selten, gab knappe Antworten und wirkte immer wie aus dem Ei gepellt. Die Kratzspuren an seinem Hals, direkt über seinem Hemdkragen, wollten nicht recht zu seinem tadellosen Auftreten passen, doch Gabe würde den Teufel tun und Quentin danach fragen.
Ein Lauf, kostenloser Kaffee bis an sein Lebensende und Gabes unendliche Dankbarkeit waren alles, was sie miteinander verband. Kurze Zeit später verließ Quentin mit einem Nicken das Diner.
Er räumte auf, weil seine Schicht bald zu Ende war, und fragte sich, was er mit dem Rest der Zeit anfangen sollte, als die Tür aufging und vier Personen den Raum mit ihrer Präsenz ausfüllten.
Ethan und Jake waren so ziemlich die nettesten Menschen, die er jemals kennengelernt hatte. Ruhig und entspannt, schwer ineinander verliebt und einfach mitten im Leben. Gabe konnte nicht mal ansatzweise ausdrücken, wie sehr er die beiden beneidete für das, was sie miteinander hatten, dass sie einander sicher sein konnten, dass sie sich nicht vor Lügen und Täuschungen fürchten mussten.
Mac kam aus dem Büro gelaufen und stürmte schwanzwedelnd auf Harlow zu. Das Mädchen war im Laufe der Jahre zu einer jungen, wunderschönen Frau herangewachsen, die jetzt in die Hocke ging und seinen Hund mit Streicheleinheiten und süßen Worten überschüttete,
während Gabe Ethan, Jake und Leo umarmte und in Crystal Lake willkommen hieß. Die vier waren eine Familie. Ein eingeschworenes Team, eine Gemeinschaft.
Neid. Purer Neid breitete sich in Gabe aus, den er unterdrückte.
»Ihr seht großartig aus«, sagte er stattdessen. Sie waren sich schon öfter begegnet, wann immer er Lionel in Crystal Lake besucht hatte, und es hatte sich so etwas wie eine lose Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Seine Brüder waren große Fans von Ethan und sein Vater liebte Jakes Holzarbeiten. Letztes Jahr waren Gabe und Andrew sogar mal für ein Wochenende zusammen mit Ethan, Jake, Lionel und Donna campen gegangen. Ein nettes Wochenende, mit toller Stimmung und viel Lärm in den Zelten. Obwohl sie sich nicht mehr als einmal im Jahr sahen und nur lockeren Kontakt über Handynachrichten hielten, fühlte er sich ihnen verbunden, und dass sie hier waren war ein wahnsinnig gutes Gefühl. Etwas weniger Einsamkeit, nachdem er seine eigene Familie darum gebeten hatte, ihm ein paar Tage Ruhe zu gönnen. Seine Eltern und Geschwister hatten nach der Veröffentlichung der kompromittierenden Fotos bereits in den Startlöchern gestanden, ihn wieder zu sich nach Hause zu holen, wo er in Sicherheit war vor fiesen Paparazzi, doch es war ihm gelungen, ihnen das auszureden. Er würde nicht endlos Zeit haben, sich vor ihnen zu verstecken. Irgendwann würden sie wissen wollen, was vor sich ging, aber solange er ihnen vorgaukeln konnte, dass alles in Ordnung war, blieb ihm noch Zeit.
Anders war es mit Andrew, der ihm immer und immer wieder schrieb und anrief. Gabe hatte seine Nummer bereits stummgeschaltet, doch Andrew gab nicht auf, seit der Fotos war er sogar penetranter als je zuvor, was es wirklich schwer machte, ihn zu vergessen.
»Setzt euch. Wollt ihr Kaffee?«
»Literweise«, seufzte Harlow auf und ging hinter den Tresen. Er kannte sie nicht anders. Leo und sie halfen Lionel häufig im Marriotts
. Jetzt, wo sie aufs College gingen, natürlich nicht mehr so oft, doch sie waren in diesem Diner großgeworden und das merkte man ihnen an.
In kürzester Zeit hatte jeder von ihnen eine Tasse Kaffee vor sich stehen. Ethan, Jake und die Kids berichteten von ihren Abenteuern in Europa, beschrieben ihm den Eiffelturm in aller Genauigkeit, genauso wie die London Bridge und die Grenadier Guards, die vor dem Buckingham Palace Wache hielten. Als Harlow Europa als pittoresk bezeichnete, musste Gabe lächeln, während Ethan und Jake einander unauffällig anstupsten.
»Hast du was dagegen, wenn ich mir Mac für einen Spaziergang ausleihe, um mit ihm anzugeben?«
Gabe zögerte. Er wusste, dass Harlow gut mit Mac umgehen konnte, trotzdem war sein Hund nicht immer einfach zu händeln und er wollte keinen Ärger verursachen.
»Bitte?«, bettelte Harlow und schob die Unterlippe vor. »Ich werde ihn nicht von der Leine lassen.«
»Komm schon, sie ist nicht mehr zwölf«, schaltete sich jetzt auch Jake ein.
»Er wird später Hunger haben.«
»Dann werde ich ihn schon lange zurückgebracht haben. Versprochen.«
»In Ordnung«, gab Gabe nach. Loszulassen fiel ihm einfach nicht leicht. Er streichelte Mac und legte ihm sein Halsband und die Leine an, ehe Harlow und er von dannen zogen.
»Das ist dir echt schwer gefallen«, sagte Ethan grinsend.
»Wirklich witzig«, brummte Gabe.
Leo verabschiedete sich kurz darauf, um seine Freunde zu treffen, sodass Gabe mit Jake und Ethan allein zurückblieb. Er hätte ahnen müssen, dass ihn das in eine unangenehme Lage bringen könnte, denn dann hätte er nämlich auch einen Abflug
gemacht. Jetzt aber sah er zwischen ihnen beiden hin und her. Sie musterten ihn aufmerksam und abwartend.
»Was?«, fragte er schließlich.
»Austin und du. Bist du verrückt?« Ethan schüttelte den Kopf. »Nach allem, was du von ihm weißt, lässt ausgerechnet du dich mit Austin ein.«
»Was soll denn das heißen? Ausgerechnet ich
?«, fragte Gabe pikiert, weil es aus Ethans Mund wie eine Beleidigung klang.
»Was Ethan so eloquent ausdrücken will, ist die Tatsache, dass Austin bekannt dafür ist, Bindungen jeglicher Art auszuweichen, während du …«
»Während ich?«, fragte Gabe seufzend nach. Er würde nicht aus diesem anstehenden Verhör rauskommen, so einfach war das, da konnte er auch gleich in die Offensive gehen.
»Während du der Inbegriff eines Beziehungsmenschen bist, der gerade mitten in einer Krise steckt.«
»Ich stecke in keiner Krise!«
»Du hast gerade erst erfahren, dass dein Langzeitpartner dich nach Strich und Faden betrogen hat. Du bist ein ganzes Krisengebiet, voller Tretminen und Stacheldraht. Niemand anderes außer Austin hätte es geschafft, in deine Nähe zu kommen. Du bist durcheinander und willst einfach nur vergessen. Und unter uns: Dafür ist Austin perfekt, er wird dich alles vergessen lassen, schätze ich.« Jake lächelte ihn an.
»Und woher willst du das bitte wissen?«, fragte Ethan mit interessiertem Seitenblick nach.
Jake lachte nur und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Gabe presste die Lippen aufeinander. Er war kein verdammtes Krisengebiet. Er hatte vielleicht ein bisschen Schlagseite bekommen, in den letzten Wochen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er einfach so auf alles und jeden hereinfiel. Das hätte er Jake und Ethan sagen können, tat es aber nicht, weil er sich Austin gegenüber verpflichtet
fühlte. Ethan und Jake hatten nicht seine Tränen gesehen. Sie hatten nicht gesehen, wie er seine Hand gehalten und ihm Trost gespendet hatte. Wie er einfach für ihn da gewesen war, obwohl sie sich kaum gekannt hatten. Austin mochte seinen Ruf haben, doch Gabe hatte das Gefühl, dass er einen vollkommen anderen Menschen kennengelernt hatte, der sorgsam, fast unsichtbar unter seinem Image verborgen lag.
Ob das idiotisch war? Ob er dabei war, direkt in die nächste Falle zu treten? Gabe wusste es nicht, er wusste nur, was er fühlte.
»Austin und ich hatten Sex. Eine Sache, die eigentlich nur uns beide betrifft, nur dass jeder zu glauben scheint, er hätte ein Mitspracherecht, was nicht der Fall ist«, sagte Gabe fest. »Wir beide sind erwachsen und können miteinander tun, was auch immer wir wollen – bevorzugt natürlich nicht vor den Augen aller Us-Weekly-Leser.«
Jake lächelte. »Ich wusste, dass du eine gute Antwort bereit hast.«
»Er ist Lehrer. Er kann gut reden. Er ist klug«, gab Ethan zurück und leerte seinen Kaffee. »Gut, du hast den Test bestanden.«
Gabe kniff die Augen zusammen. »Den Test? Was denn bitte für einen Test?«
»Wir wollten nur überprüfen, ob du dich bereits in dein Schneckenhaus zurückgezogen hast, aber das ist nicht der Fall. Ich begrüße das sehr, denn das macht die ganze Sache leichter.«
»Welche Sache?« Gabe konnte das Misstrauen nicht ganz aus seiner Stimme heraushalten.
»Die Austin-Sache.«
»Die wütende Austin-Sache«, ergänzte Jake grinsend.
Gabe schüttelte den Kopf und hob die Hand. »Hört auf damit, wie eine Person zu sprechen. Das ist unheimlich. Das habe ich
nie mit Andrew gemacht.«
»Das aber auch nur, weil …«
Dieses Mal hob Jake seine Hand und brachte Ethan damit zum Schweigen. »Wir werden nicht mehr über Andrew sprechen. Wir haben schon vorher beschlossen, dass wir ihm beide Beine brechen müssen, wenn er jemals wieder einen Fuß nach Crystal Lake setzt …«
»… oder Hand an dich anlegt«, beendete Ethan Jakes Satz.
»Oder das.«
Gabe musste unwillkürlich lächeln. »Danke«, sagte er. Es war rührend, dass so viele Menschen hinter ihm standen, dass sie auch jetzt noch da waren, wo Andrew weg war. Das machte es ein klein wenig erträglicher.
»Zurück zu der Austin-Sache.«
»Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass sein Name auch mit A anfängt?«, fragte Ethan und legte den Kopf schief. »Das ist kein gutes Omen.«
»Eth. Halt die Klappe«, sagte Jake seufzend. »Er ist auf dem See. Und du musst ihn erlösen.«
»Erlösen wovon?«
»Von seiner Wut.«
»Also, eigentlich hat er mir klar zu verstehen gegeben, dass er mich nicht mehr sehen will. «
Ethan grinste. »Natürlich hat er das. So funktioniert sein Kopf. Ein Fick und weiter.«
»Und warum sollte der Fick mit mir eine Ausnahme bilden?«
»Tut es einfach. Vertrau mir. Geh zu ihm und sprich mit ihm. Auch wenn er sich dir gegenüber wie ein Arschloch verhalten hat.«
»Ich habe heute die Spätschicht, ich kann nicht einfach verschwinden.«
»Oh, wenn das so ist, dann springen Jake und ich gern für dich ein«, sagte Ethan vergnügt. Er rutschte von seinem Hocker und kam um den Tresen herum. »Wir wünschen dir einen
wundervollen, ergiebigen
Abend.« Er grinste dreckig und Gabe verdrehte die Augen.
»Beachte ihn nicht weiter«, sagte Jake jetzt und klopfte ihm auf die Schulter. »Er kann auch wie ein Erwachsener reden und denken, aber heute hat er das bereits fünf Minuten getan.«
»Warte nur, bis wir allein sind und ich dir die Vorratskammer zeige«, drohte Ethan.
»Du siehst, wir haben viel zu tun«, sagte Jake und grinste nun genauso anzüglich wie Ethan. Die beiden passten wirklich hervorragend zueinander.
»Mac hat später Hunger, ich kann nicht einfach so verschwinden.«
Jake und Ethan schmunzelten, dann streckte Ethan die Hand aus. »Schlüssel?«
Gabe seufzte, händigte ihn ihm aber aus. »Du musst es einweichen. Mindestens fünfzehn Minuten, damit ist es verträglicher.«
»In Bier?«
Gabe wollte schon etwas erwidern, aber Jake schüttelte nur den Kopf. »Wir kommen klar und passen gut auf deinen Augenstern auf.«
Nur halb beruhigt ging Gabe auf die Tür zu, als Jakes Stimme ihn zurückhielt. »Er ist mit dem Kajak unterwegs. Hinten bei den Klippen«, raunte er ihm zu.
Warum wunderte Gabe das nicht?
Er nickte, dann verließ er das Diner und machte sich auf den Weg zum Bootsverleih.