23. Kapitel
Austin
Von der Sprechstundenhilfe hatte er sich eine Zigarette geschnorrt. Dann noch eine, und schließlich hatte er ihr zwanzig Dollar für die ganze Schachtel gegeben. Seine Lunge schmerzte von der ungewohnten Beanspruchung, und so hatte er irgendwann doch aufgehört zu rauchen. Jetzt klammerte er sich an dem Päckchen fest und drehte es hin und her, damit seine Finger etwas zu tun hatten.
Er war allein hier draußen, saß auf der Treppe vor der Tierklinik und starrte in die kühle Nachtluft. Stunde um Stunde verging, während sie darauf warteten, dass Mac die Notoperation überstanden hatte.
Drinnen bei Gabe waren Ethan, Jake, Leo und Harlow, weshalb Austin draußen blieb. Er schämte sich. Dafür, dass er so die Fassung verloren hatte, dafür, dass er Gabe im Stich gelassen hatte.
Und er fühlte sich bestätigt in jeder Lüge, jeder Täuschung, die er jemals vorgebracht hatte. Es war eben doch richtig , wie er lebte, denn er war eine Last für jeden normalen Menschen.
Am liebsten würde er verschwinden und sich im Camp einigeln, aber das konnte er Gabe – und Mac - nicht antun. Er würde bleiben, bis der Arzt aus dem OP kam.
»Willst du nicht zu uns reinkommen?«, fragte Jake, der aus der Tür getreten war und sich jetzt neben ihn auf die oberste Treppenstufe setzte. Sein Blick blieb für einen Moment an der Zigarettenschachtel hängen, dann sah er über den Parkplatz hinweg in die Ferne.
»Wie geht es Gabe?«
»Du könntest reinkommen und dir selbst ein Bild davon machen. Ich glaube, es würde ihm helfen, wenn du jetzt an seiner Seite wärst.«
Austin schluckte. Wenn Jake die Wahrheit wüsste, würde er so etwas nicht sagen. Er war so knapp davor gewesen, aufzufliegen, das konnte er nicht nochmal riskieren.
»Ihr seid bei ihm, das genügt.«
Jake lachte leise und ließ den Kopf hängen. »Oh, Austin.«
»Was?«
»Nichts. Ich hoffe nur, dass ihr beide das hinkriegt.«
»Gabe reist nächste Woche ab«, erwiderte Austin.
»Denkst du, er würde bleiben, wenn du ihn darum bitten würdest?«
Austin dachte über seine Frage nach, sein Herz schlug schneller. Ja, Gabe würde bei ihm bleiben, wenn er ihn darum bitten würde. Er würde ihm mit Sicherheit eine Chance geben, weil Gabe so war. Ein Gefühlsmensch, voller Liebe und Zärtlichkeit für ihn.
»Das spielt keine Rolle.«
»Jake!« Das war Ethan und Jake erhob sich sofort. Er sah zu Austin hinunter. »Komm mit. Bestimmt ist der Arzt da.«
Austin eilte hinter Jake ins Wartezimmer, entdeckte Ethan, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und ziemlich angespannt aussah. Harlows Augen waren gerötet, sie hatte sich in ihre Strickjacke gewickelt, und ihre Haare zu einem wilden Dutt hochgebunden. Eine Hand war mit Gabes verschlungen. Dessen Blick war fest auf den Arzt gerichtet, der gerade in dunkelblauer Operationskleidung aus einer Tür trat. Er sah sie ernst der Reihe nach an, dann nickte er.
»Mac lebt. Und er wird wieder.«
Ein kollektives Raunen ging durch den Raum, Erleichterung breitete sich aus. Auch Austins Schultern sackten herab und er atmete tief durch. Er sah zu Gabe hinüber, der sich noch immer nicht geregt hatte. Ein kleiner, glitzernder Tropfen fiel zu Boden. Austin konnte sich nicht zurückhalten, er kniete sich vor ihm nieder und nahm seine Hand. »Er kommt durch, Gabe. Siehst du? Ich habe es dir gesagt.«
Gabe sah auf und nickte. Er sah so erschüttert und traurig aus, dass Austin ihn am liebsten umarmt und geküsst hätte, doch er beschränkte sich darauf, seine Hand zu drücken, dann trat er wieder zurück.
Der Arzt wurde mit tausend Fragen gelöchert, die er geduldig beantwortete. Austin blieb noch einen Moment, ehe er zurücktrat und sich leise entfernte. Gabe hatte die anderen. Mac lebte. Er würde klarkommen. Es gab keinen Grund, noch länger zu bleiben.
Austin verzichtete darauf, ein Taxi zu rufen. Ein Spaziergang würde ihm ganz gut tun. Leider hatte er anscheinend vergessen, wie abgelegen Crystal Lake lag. Er hatte vorhin nicht wirklich auf den Weg geachtet und wusste nicht, wo er sich befand, sodass er irgendwann das Navigationsprogramm startete und sich von der Stimme aus dem Gerät führen ließ.
Er musste zwei oder drei Meilen gelaufen sein, als sich ihm ein Auto von hinten näherte. Die Scheinwerfer tauchten ihn und die Straße in ein gelbliches Licht. Der Wagen verringerte die Geschwindigkeit, bis er im Schritttempo neben ihm herfuhr. Austin sah hinüber und entdeckte Officer Simmons in seinem Polizeiauto.
Himmel, dieser Typ war auch immer zur Stelle, wenn er ihn gerade am wenigsten gebrauchen konnte.
Das Fenster der Beifahrerseite glitt hinunter. »Hatten Sie eine Panne? Ich habe kein Auto gesehen und …«
»Nein, alles gut. Ich gehe nur spazieren«, sagte Austin und ging weiter.
»Bis nach Crystal Lake sind es noch sieben Meilen«, sagte Officer Simmons. Quentin. Pah. Gabe hatte ihn Quentin genannt.
»Sieben Meilen sind in Ordnung. Gerade richtig.«
»Sind Sie verletzt?«
Austin runzelte die Stirn. »Nein.«
»An ihrem T-Shirt ist Blut.«
Austin sah an sich hinunter und entdeckte den Fleck. Wahrscheinlich hatte Gabe ihn vorhin irgendwann berührt. Er wusste es nicht. Seine Erinnerungen waren zu einem einzigen Klumpen zusammengeschmolzen.
»Mir geht es gut«, sagte er. »Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen. Während eines Spiels habe ich weit mehr als sieben Meilen gemacht.«
»Okay. Dann gute Nacht.« Simmons fuhr an und Austin seufzte schon erleichtert auf, als der Wagen ein paar Meter weiter erneut stoppte. Austin zügelte seine Ungeduld und sah wieder durch das noch immer offene Beifahrerfenster. »Sonst noch etwas?«
»Steigen Sie schon ein.«
»Ich …«
»Ich dulde es nicht, dass irgendwelche Leute mitten in der Nacht durch die Wälder streifen. Am Ende muss ich Sie noch suchen, und damit werde ich weitaus mehr Arbeit haben als jetzt den Chauffeur zu spielen.«
»Werden Sie mich wieder festnehmen?«
Simmons lächelte schmallippig. »Nur, wenn Sie Drogen in ihrer Hosentasche haben.«
»Nein. Heute nicht«, sagte Austin. Es war ein müder Witz, der keinen von ihnen lächeln ließ. Er setzte sich neben Simmons in den Wagen und schnallte sich an, dann fuhr der Polizist los. Der Polizeifunk war leise gestellt und durchbrach immer wieder knackend die Stille, die zwischen ihnen herrschte.
»Sie waren auch am Unfallort?«, fragte Simmons irgendwann.
Austin warf ihm einen Blick zu. »Ja.«
»Wie geht es dem Hund?«
»Er wurde operiert. Sein Bein ist gebrochen, aber der Arzt sagt, dass er durchkommen wird.«
»Das ist gut. Sehr gut«, sagte Simmons. Er tippte mit den Fingerspitzen auf die Oberseite des Lenkrads zu einem Takt, den nur er selbst hörte, und hielt den Blick auf die Straße gerichtet. An der Außenseite seines Armes entdeckte Austin ein paar Kratzer.
»Haben Sie eine Katze?«, fragte Austin unwillkürlich.
»Wie bitte?« Simmons runzelte die Stirn.
Austin deutete auf die Kratzspuren. »Sieht nach einer aggressiven Katze aus.«
Simmons drehte den Arm und betrachtete die Wunden, dann nickte er. »Ja. Furchtbares Ding«, murmelte er nur. Er lehnte sich vor und erhöhte die Lautstärke des Radios, als wollte er sich nicht länger unterhalten. Austin dachte über den schweigsamen, überkorrekten Polizisten nach, weil das einfacher war, als immer und immer wieder an Gabe zu denken.
»Es war keine Katze, oder?«, fragte er irgendwann. Himmel, er musste ins Bett. Er war übermüdet und das ganze Adrenalin in seinem Körper so langsam aufgebraucht, sodass er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war. Warum unterhielt er sich mit einem Cop über die Kratzer einer Katze? Warum interessierte er sich überhaupt dafür?
»Nein«, durchbrach Simmons seine Gedanken, »nicht dieses Mal.« Er sah ihn nicht an und sagte auch nichts mehr weiter, doch Austin fühlte sich seltsam verstanden.