DIE BIBLIOTHEK AM PARK
Frau Sperling suchte ihren Staubwedel überall. Wo kann er nur sein, fragte sie sich, ich weiß doch genau, dass ich ihn hier hingelegt habe.
Der Aufseher gab keine Antwort, denn er studierte endlich die Brandschutzordnung, wie Frau Sperling es ihm wiederholt aufgetragen hatte.
Ihr Sohn versuchte, die Ratte aus dem Käfig zu locken. Einige Passanten wollten helfen und redeten dem Tier gut zu. Aber die Ratte hatte es sich im rosafarbenen Handtuch, mit dem der Sohn das Käfiginnere gepolstert hatte, bequem gemacht. Sie dachte nicht daran, so schnell wieder herauszukommen. Was erwartete sie schon da draußen?
Zufällig hatte die demente Mutter den Weg zur Bibliothek gefunden. Sie glotzte durch die Glastür, aber Frau von Schleiß saß auf ihrer Lieblingsbank im Park und gönnte sich zwei Stück Puddingplunder. Die kleine Fini starrte sie an und plapperte. Ihre Augen waren groß und blau, ihre blonden Haare zerzaust, ihre Knie bluteten. Frau von Schleiß liebte den Sommer genauso sehr wie alle anderen.
Noch vor ihrer üblichen Zeit verabschiedete sich Gertrud freudestrahlend und erzählte dem Aufseher, dass es heute endlich wieder so weit sei. Ihr Betreuer Herr Guth veranstalte seine wöchentliche Gitarrenstunde, die sie so sehr liebe. Er erlaube ihr, den Verstärker voll aufzudrehen, bis sie den Bass unter der Haut zu spüren bekäme, schwärmte Gertrud. Herr Guth träume davon, mit ihr und Stefanie eine richtige Band zu gründen, erzählte sie und kicherte bei dem Gedanken an Stefanie, die verrückte Texte schrie, die irgendwie genial seien, wie Herr Guth unermüdlich bekundete.
Ein Hund bellte, weil er roch, dass da eine dreckige Ratte im Käfig war. Sein Frauchen zischte: SCH!
Die kleine Fini trat Frau von Schleiß gegen’s Schienbein. Als diese ihr einen Bissen Puddingplunder anbot, rannte sie davon. Frau von Schleiß winkte Frau Sperlings Sohn, der zwischen den Büschen ein stilles Plätzchen suchte. Ein Angler zog einen mächtigen Fisch aus dem viereckigen Teich, der das Zentrum der Parkanlage bildete. Die Fontäne schoss an Sonn- und Feiertagen weißen Schaum in beträchtliche Höhe. Frau Sperling trat auf die Straße hinaus und rief: Ingrid, deine Mutter, deine Mutter! Der Angler warf den stolzen Fang ins Wasser zurück. Die kleine Fini sagte: Schade. Die demente Mutter nahm Platz im Büro ihrer Tochter und beobachtete auf dem schwarzen Monitor ihr Spiegelbild. Sie drehte ihren Kopf hin und her und behielt sich dabei im Auge. Gertrud summte eine Melodie. Sie nahm ihre Luftgitarre hart ran, aber manche Griffe wollten ihr einfach nicht gelingen.
Durch das Fenster beobachtete die demente Mutter Frau von Schleiß, wusste aber nicht, dass es ihre Tochter war. Sie murmelte, ach Ingrid, wusste aber nicht, wer Ingrid war.
Zur selben Zeit sah Frau Sperling vom Bürgersteig aus nach ihrem Sohn, der bäuchlings auf der Wiese lag und angesichts der sperrangelweit offenen Käfigtür einen Kussmund und schmatzende Geräusche machte, die weithin zu hören waren. Wie froh ich doch bin, ihn nicht mehr im Bauch zu tragen, dachte Frau Sperling und prüfte mit einem Blick über die Schulter, ob ihr Hintern noch knackig war.
Der Aufseher studierte die Anweisungen zur Handhabung schwieriger Probleme, während ihm der irakische General, der seit geraumer Zeit in der Bibliothek »herumspukte« – so drückte es Frau Sperling aus –, in gebrochenem Deutsch von den Schwierigkeiten des Alters in einem fremden Land berichtete: Du bist Niemand, kennst Niemanden, bist längst gestorben, doch das Leben dauert und dauert und findet kein Ende.
Georg kämmte sich die Haare mit seinem neuen Herrenkamm aus Hornimitat, zupfte sich in einem Ruck drei lange Härchen aus der Nase, schmierte sich die Hände mit Melkfett ein, warf seinen schweren Schlüsselbund in die Luft und fing ihn wieder auf, dann war er bereit für einen spontanen Besuch in der Bibliothek.
Gertrud schmunzelte verlegen, als Herr Guth sagte, sie solle mal so richtig aus sich herausgehen. Sie ließ die Gitarre fallen und raufte sich die Haare. Sie hoffte, es richtig zu machen, aber immer zog Stefanie alle Aufmerksamkeit auf sich.
Stefanie wusste mit ihrer Weiblichkeit umzugehen, dass einem angst und bange wurde.
Der Angler fing denselben Fisch ein zweites Mal, er erkannte ihn eindeutig wieder. So ein Pechvogel aber auch, sprach er voller Verblüffung, löste den Fisch vom Haken, packte die Schwanzflosse und schleuderte ihn einem anderen Angler vor die Pose. Während sich der Fisch wie ein Propeller um die eigene Achse drehte, glitzerte sein Schuppenkleid im Sonnenschein. Einige Passanten behielten diesen Anblick als etwas Besonderes in Erinnerung.
Frau von Schleiß leckte sich die Finger sauber, schloss die Augen und atmete viele Male tief durch.
Die Ratte rührte sich noch immer nicht.
Die demente Mutter versuchte ihre Tochter anzurufen, aber die Leitung war besetzt.
Frau Sperling fiel endlich ein, wo sie den Staubwedel gelassen hatte. Ich dummes Schaf, fluchte sie so leise, dass nur sie selbst es hörte. Inzwischen war ihr die Lust, Staub zu wedeln, vergangen. Sie verspürte starken Hunger, wusste aber, dass das nur ihre alte Fresssucht war.
Herr Guth spielte ein herausragendes Solo auf den Drums, sodass Gertrud Hören und Sehen verging. Stefanie legte ihr die Hände über die Ohren und drückte Gertrud an sich wie ein Neugeborenes. Sie schrie: »Den Mund zu öffnen heißt, sich den Miasmen auszusetzen. Kein Mund also! Kein Mund, keine Zunge, keine Zähne, kein Kehlkopf, kein Schlund, kein Magen, kein Bauch, kein After.«
Für einen Augenblick fiel der dementen Mutter auf, dass dies nicht ihr eigenes, sondern ein fremdes Zimmer war, und sie nicht in ihrem Bett lag, sondern auf einem schwarzen Bürostuhl saß. Wo bin ich nun wieder hineingeraten, fragte sie sich noch, da aber vergaß sie sich selbst.
Die Fresssucht soll eine innere Leere füllen, wiederholte Frau Sperling, um ihren Hunger zu überwinden, die Fresssucht soll eine innere Leere füllen. Besser half es, auf einem Stück Holz zu kauen: einem Zahnstocher, einem Buntstift, einem Essstäbchen, einem Birkenzweig, einem Lineal. Als Alternative funktionierten auch: ein Strohhalm, ein Kabel, eine Karteikarte, ein Korken, ein Kugelschreiber. Wenn gar nichts zur Hand war, nahm sie ihren Gürtel zwischen die Zähne.
Als der Angler den Fisch zum dritten Mal am Haken hatte, wurde es ihm zu bunt. Mit einem Stein, der wirklich gut in der Hand lag, schlug er dem Fisch den Kopf ein. Mit seinem alten Taschenmesser schlitze er den Bauch auf: Der ganze Mist fiel heraus. So ist das also, dachte die kleine Fini, hob die Innereien auf und legte sie zu Füßen Frau von Schleiß’ nieder. Pfui, pfui!, rief ihr der Angler hinterher, aber Fini ließ sich nicht beirren. Frau von Schleiß schob ihre gewaltige Sonnenbrille in die Stirn, beugte sich über das Häuflein an Innerei und las eine Zeit lang die Zukunft.
Frau Sperlings Sohn hatte indessen begonnen, unter den Büschen eine Mulde zu scharren. Er kam gut voran. Da traf ihn ein Geistesblitz: Er zog sich all seine Kleidung bis auf die Unterhose aus, um damit der Ratte ein Nest zu bauen. Ein wenig fröstelte ihn, aber er war ja keine Mimose.
Schließlich kreuzte Georg auf, gut gelaunt betrat er das Büro, fand aber nur die demente Mutter vor, die sich in einem Zustand vollständiger Starre befand. Er zog sich einen Stuhl heran, um diesen unscheinbaren Menschen zu ergründen.
Im Park spielte sich Folgendes ab: Auf dem Teich schwamm ein Enterich, der einen Hahnenkopf mit rotem Bart und einer Art Helm trug. Einigen Parkbesuchern war er sofort aufgefallen, auch der kleinen Fini und Frau von Schleiß, die über diesem Anblick die Zukunft Zukunft sein ließ. Instinktiv spürten die beiden, dass sie diesem Tier zu Dank verpflichtet waren.
Als der Sohn sich eingestand, dass die Ratte längst durch eine geheime Falltür entkommen war, riss er das rosafarbene Handtuch aus dem Käfig, wickelte es sich fest um den Kopf und ließ sich in die geräumige Mulde sinken. Mit beiden Armen schob er die links und rechts aufgetürmte Erde über seinem Geschlecht, seinem Bauch, seiner Brust und seinem Gesicht zu einem Haufen zusammen. Er flüsterte einige letzte Worte, obwohl er wusste, dass das Leben weiterging.
Frau Sperling kam lachend von der Toilette getippelt. Sie hatte stark und gnadenlos geblutet, was sie immens beruhigte. Sie hatte immer Angst davor, schwanger zu sein: Sie wollte nicht noch so ein nichtsnutziges Kind.
Georg war derweil im schwarzen Loch, das sich im Kopf der dementen Mutter geöffnet hatte, restlos verschwunden. Von diesem anderen Ort aus rief er nach Frau Sperling, seinem Schatz, die ihn natürlich nicht hören konnte.
Der Angler warf den Fisch in die nächstgelegene Biomülltonne und überlegte, worauf er an diesem sonnigen Tag wirklich Appetit hatte.
Die kleine Fini erkannte ihre Mutter erst im letzten Augenblick. Stefanie ergriff Finis Hand, seufzte bedeutungsschwer und stellte ihr den neuen Vati vor. Herrn Guth gelang es problemlos, das Mädchen als sein eigen Fleisch und Blut zu akzeptieren. Als vollständige Kleinfamilie würden sie den heutigen Tag, den morgigen und die vielen, vielen Tage, die noch folgen würden, beschließen, stellte er triumphierend fest.
Während alles vom Kopf der dementen Mutter aufgesogen wurde, schritt Frau Sperling auf den Teich zu, sie rief: Ingrid, Ingrid, aber Frau von Schleiß fütterte den Enterich mit den letzten Krümeln ihres Puddingplunders. Frau Sperling wollte über das Wasser gehen, doch sank schon nach wenigen Metern hüfttief ein; ich hätte es wissen müssen, murmelte sie und watete angestrengt zum Ufer zurück. Da aber tat sich unter ihren Füßen eine Erdspalte auf, vielleicht war es auch der Kopf der dementen Mutter, der immer gieriger um sich griff. Oder stürzte sie, fragte sich Frau Sperling, in das aufgerissene Maul eines Urzeitkrebses, der im Morast die Zeitalter überdauert hatte? Sollten wirklich unterirdische Welten existieren, in denen wir Sonnenmenschen Arbeitssklaven, bestenfalls Bedienstete waren? Vielleicht ging im selben Moment die alte Welt unter und eine neue auf? Oder war es endlich das ersehnte Wurmloch, durch das sie in eine bessere Welt fallen würde, grübelte Frau Sperling und versuchte, die Augen offen zu halten.