Haru verzog das Gesicht und sprintete vorwärts. Der Händler, Eikei und Hino würden jeden Moment den Abhang hinunterfallen. Haru erkannte, dass sein Versagen immer weitreichender wurde. Er hatte die Karawane nicht rechtzeitig nach Morgenröte gebracht. Er konnte die Burg nicht vor Wintereinbruch erreichen. Seine Schützlinge waren hilflos dem Unwetter ausgeliefert. Und nun auch noch weitere Bushi zu verlieren …
Nicht so. Nicht so. Nicht so.
Er eilte den Abhang hinunter, ohne auf die Gefahr für sein eigenes Leben zu achten. Eikei war bewusstlos. Das Pferd wieherte panisch. Hino schrie vor Schmerz auf, so viel Anstrengung kostete es sie, den Absturz aufzuhalten, aber sie hielt durch.
Haru zog sein Katana und sprang die letzten Meter. Mit einer Hand ergriff er Eikeis linken Arm am Leder seiner Ashigaru-Rüstung. Mit der anderen hieb er die Zügel durch.
Schreiend verschwand das Pferd hinter der Felskante. Eikeis Schwung zog sie beide vorwärts und Haru stemmte sich gegen den Abhang. Schnee sammelte sich zu seinen Füßen. In dem verzweifelten Versuch, sich abzusichern, stieß er seine Klinge in den Untergrund. Endlich kam er zum Stillstand.
Eikeis Beine baumelten bereits über dem Abgrund. Das Gewicht kugelte Haru fast den Arm aus. Er konnte sich nicht rühren. Wenn er es versuchte, würde er entweder den Halt um Eikeis Arm verlieren oder mit ihm in die Tiefe stürzen. Seine Finger verkrampften sich bereits.
Dann hasteten Ishiko und Hino zu ihm und ergriffen Eikei. Zusammen zogen sie ihn wieder hoch, trugen ihn an die Spitze der Karawane und legten ihn in Chens Wagen.
Der Wind blies sogar noch stärker. Von den Bergen und dem Pass war keine Spur mehr zu sehen. Von hier aus sah Haru auch nicht mehr das Ende der Karawane.
»Was soll nur aus uns werden?«, fragte Chen »Was machen wir nur? Was machen wir nur?« Vor Angst vergaß er offenbar jeden Respekt.
Gemurmel und Schluchzer erklangen im Wagen dahinter. Mehr konnte Haru durch den starken Wind nicht hören. Das musste er auch nicht. Die Stimmung in der Karawane war eindeutig.
Hino wandte sich ihm zu und wartete auf Anweisungen, bevor sie sich wieder an ihren Platz begab.
»Hört auf zu jammern!«, fuhr er Chen an. »Habt Ihr denn gar keine Ehre?«
»Es ist so kalt. Wir sehen nichts mehr.«
»Das ist Schnee. Es ist nur ein Schneesturm, nicht die Dunkelheit der Schattenlande.«
»Aber was sollen wir nur tun?«
»Was wir auch vorher getan haben: Wir ziehen weiter. Würdet Ihr lieber hierbleiben? Dann bleibt und sterbt, wenn Ihr mögt. So wäre ich Euch wenigstens los.«
Chen schüttelte den Kopf. »Bitte vergebt mir, Leutnant Haru.« Endlich erinnerte der Kaufmann sich an seinen Stand.
Haru ignorierte ihn und sagte an Hino gewandt: »Sagt Fujiki, dass wir weiterziehen.« Der letzte seiner Bushi bildete das Schlusslicht der Karawane. »Wir dürften höchstens eine Meile vom Pass entfernt sein.«
Die Karawane zog weiter. Obwohl der Pass hinter dem dichten Vorhang aus Schnee verborgen lag, konnte Haru auf dem Bergpfad noch einige Meter weit sehen. Der Weg vor ihm war frei, auch wenn es ein Weg ins Ungewisse war. Der Wind hämmerte ihm in den Rücken und trieb den Schnee gegen seine Rüstung. Dieser fiel jetzt beinahe horizontal und Windstöße ließen ihn im Kreis tanzen. Es dämmerte.
Die Karawane kroch nur noch dahin, weil die Pferde Schwierigkeiten hatten, die Karren durch den tiefen Schnee zu ziehen. Haru hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ein Augenblick war wie der andere, es gab nur noch sein Pferd, das durch das endlose Weiß stapfte, nichts war zu sehen als das gleiche schmale Stückchen vom Pfad. Das Weiß wurde dichter und dichter. Wind und Schnee waren eins und begruben Licht und Hoffnung unter sich. Der gleichmäßige Rhythmus ihrer Schritte war hypnotisch. Das Weiß, ein Weiß, das Dunkelheit mit sich brachte, schloss sie ein, wie eine Faust, wie ein Fluch, wie ein Hohn.
Ich bin der Winter, schien der Wind ihm entgegenzuheulen. Du und deine Träume, deinen Ruf wiederherzustellen, bedeuten gar nichts. Dir werde ich es zeigen. Ich bringe das Nichts, und in dieses Nichts werde ich dich werfen.
Die Kälte nagte an ihm wie ein Hund an einem Knochen. Sie drang durch die Nähte seiner Rüstung bis unter seine Haut. Sie ließ sein Blut gefrieren, nistete sich tief in ihm ein und würde niemals mehr weichen. Er kauerte sich zusammen und zog sich in sich zurück auf der Suche nach Wärme, die es nicht mehr gab.
»Wir müssen anhalten«, sagte Ishiko.
Haru blinzelte, als er aus seiner Trance gerissen wurde, und brachte sein Pferd zum Stehen. Das Knarren der Räder hinter ihm verstummte.
»Es ist zu gefährlich«, fügte Ishiko hinzu.
Haru war so in Gedanken versunken gewesen, dass er immer nur die nächsten paar Schritte Schnee vor seinen Füßen gesehen hatte. Dadurch hatte er gar nicht bemerkt, was jetzt sein ganzes Blickfeld ausfüllte. Er unterdrückte ein Schaudern. Ishiko hatte recht, es war gefährlich. Inzwischen war es allzu leicht, vom Weg abzukommen und den Abhang hinunterzustürzen. Warum war er weitergeritten? Was hatte er sich dabei gedacht?
Er saß ab und ließ den Blick über die weiße Fläche schweifen, suchte nach irgendwelchen Hinweisen auf die Landschaft, dem geringsten Umriss eines Berges. Er sah gar nichts. Die Welt hatte ihn verlassen. Um ihn herum war nur Leere. Der tiefe Abgrund wartete hungrig auf Haru und seine Schutzbefohlenen. Der Boden, auf dem sie standen, war plötzlich zu einer kleinen Insel geworden und ein falscher Schritt wäre fatal. Plötzlich kämpfte er gegen das Schwindelgefühl an, gegen die Anziehungskraft, die der Abgrund ausübte.
Bring sie zu mir. Stürz dich mit offenen Armen hinunter. Etwas anderes bleibt dir nicht.
Haru schüttelte den Kopf, um diese aus der Verzweiflung geborenen Flausen zu vertreiben. Ja, Ishiko hatte recht. Sie mussten anhalten. Aber sie durften nicht anhalten.
»Wir können hier nicht bleiben«, sagte er. »Das würde den sicheren Tod bedeuten.«
»Blind diesen Felskamm entlangzustolpern, ebenfalls.«
»Da hast du recht. Also müssen wir das Risiko begrenzen.« Er wusste jetzt, was er zu tun hatte, und eine seltsame Leichtigkeit ergriff ihn. Er schluckte das wahnsinnige Kichern hinunter und verdrängte das Gefühl der Erleichterung, dass die Karawane dem Tod so nah war. Denn nun wusste er, wie er alle retten konnte. Er hatte noch immer keine Ahnung, wie sie Morgenröte sicher erreichen sollten. Er wusste nicht einmal, ob sie den heutigen Tag überleben würden. Aber er sah einen Ausweg aus ihrer gegenwärtigen Situation.
Das reichte ihm. Es wäre ein Sieg und es würde beweisen, dass er anführen konnte. Es wäre ein Lichtschimmer in der Dunkelheit seines Versagens und es würde ihn wärmen.
»Holt Seile«, wies er Ishiko an. »Wenn Ihr nicht genug Seile findet, bindet Stoffbahnen zusammen. Alles, womit man die einzelnen Mitglieder der Karawane aneinanderbinden kann. Wir werden gemeinsam weiterziehen, ganz vorsichtig, ein Schritt nach dem anderen. Ich werde an der Spitze reiten. Wenn einer von uns danebentritt und fällt, werden die anderen ihn aufhalten.«
Und dann?
Diese Frage stellte Ishiko nicht. Sie hörte seine Anweisung und machte sich daran, sie umzusetzen.
Und dann?
Die Worte waren Harus ganz persönlicher Fluch. Er beeilte sich, seinen Plan in die Tat umzusetzen, und versuchte, der Frage davonzulaufen.
Mit ihren vor Kälte steifen Fingern dauerte es mehr als eine Stunde, alle Karren aneinanderzubinden. Niemand ritt jetzt mehr und die Händler befestigten ein Handgelenk an dem Pferd oder Wagen, neben dem sie liefen. Es würde funktionieren, dachte Haru. Gemeinsam war die Karawane stark. Eine einzelne Person konnte einen Fehler machen. Jetzt waren sie sicher und jeder war sich der Gefahr bewusst und würde aufpassen.
Als sie endlich bereit waren, wieder aufzubrechen, war die Kälte nahezu unerträglich. Wann immer er sein Gesicht in den Wind hielt, empfand Haru das Unwetter als einen scharfen Schmerz. Seine Haut war taub, schmerzte aber trotzdem. Der Schnee lag knietief und jeder Schritt wurde zu einem Kraftakt.
»Wir folgen Euch auf dem Fuße, Leutnant Haru«, sagte Ishiko.
Er brummte. Diesmal war er sicher, ihre unterschwellige Botschaft verstanden zu haben: Führe uns nicht über die Klippe. Er setzte sich in Bewegung. Führe sie. Führe sie gut. Sie folgen dir auf dem Fuße. Zeig ihnen, dass du ihr Vertrauen verdienst.
Es ging quälend langsam vorwärts. Haru bedachte jeden Schritt sorgfältig. Hinter ihm formte sich ein Trampelpfad, der besser und sicherer wurde, je mehr Leute darüberliefen und den Schnee festtraten. Für ihn jedoch gab es nur die weiße Leere, blendendes Weiß, stechendes Weiß, Weiß, das hypnotisierte und die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwimmen ließ. Bevor er einen Schritt tat, wusste er nicht, ob er noch in die richtige Richtung ging. Ihm blieb nur die Hoffnung, und davon auch nicht besonders viel.
Dennoch stolperte er weiter. Ishiko nahm er nur noch als gelegentlichen Zug am Seil wahr, das er um die Hüfte gebunden hatte. Wenn er sich zu ihr umwandte, waren der Wind und der Schnee so beißend, dass er sie kaum erkennen konnte. Auch Chen war nur noch ein stolpernder Schemen. Der Rest der Karawane war ein Schatten vor einer weißen Wand.
Bald würde er befehlen müssen, die Fackeln zu entzünden. Hoffentlich erreichten sie den Pass, solange es noch hell genug war, ohne sie voranzukommen. Ohne einen Schutz vor dem Wind würde das Unwetter jede offene Flamme sofort auslöschen und er bezweifelte, dass sie genug Laternen dabeihatten, um der gesamten Karawane den Weg auszuleuchten.
Den Weg? Welchen Weg?
Langsam voran, der Taubheit und Kälte und Blindheit und dem Ende des Tages entgegen. Haru war allein auf dem Felskamm, allein, während der Wind pfiff und alles um ihn herum weiß war, weiß und noch mehr weiß. Und er war froh, allein zu sein. Er wollte allein sein. Je näher das letzte Versagen, der Tod, lauerte, desto mehr wünschte er, sich von der Karawane abzuschotten. Aber auch wenn seine Schutzbefohlenen nur mehr die Schemen von Geistern waren, konnte er spüren, wie sie ihn stumm verurteilten. Ishiko, Hino und Fujiki. Auch Chen und seine Leute, obwohl die kein Recht hatten, über ihn zu urteilen. Niemand hatte ein Wort gesagt und er konnte ihre Gesichter nicht sehen. Aber das machte nichts. Er konnte ihre Missbilligung spüren. Sie lastete schwer auf seinen Schultern, ließ ihn tiefer in den Schnee sinken, machte es ihm schwerer, die Beine zu heben und einen weiteren Schritt zu tun.
Bald würde der Tag enden. Die Dunkelheit würde kommen und sie würden gar nicht mehr weiterkönnen. Dann würde der Tod kommen und mit ihm verlöre er nicht nur den letzten Rest seines Rufs. Seine letzte Chance wäre vertan, der Krieger und Beistand zu sein, der er seiner Familie sein sollte. Bei seiner Ankunft im Meido hätte er nichts vorzuweisen als Schande. Seinen Rang als Leutnant hatte er nur der Tatsache zu verdanken, dass er der Erbe der Daimyo war. Seine Leistungen auf dem Schlachtfeld waren bestenfalls mittelmäßig gewesen, schlimmstenfalls eine Schande. In dieser Beziehung war er selbst sein strengster Kritiker. Niemand hatte ihn vor zehn Jahren für den Tod seines Vaters verantwortlich gemacht, als die Kakeguchi einen Angriff auf die Mauer zurückgeschlagen hatten. Aber er wusste, dass es so war. Seine Strategie war schwach gewesen, die Goblins weit in der Überzahl und sein Vater Genichi war ihm zu Hilfe geeilt, obwohl er selbst nicht ausreichend Männer gehabt hatte.
Nein, niemand hatte ihm die Schuld gegeben. Aber seitdem waren seine Streitkräfte nur noch in der Reserve eingesetzt worden oder als Unterstützung für Ochiba, die Anführerin der Wache der Burg der Morgenröte, oder um Leutnant Barako beizustehen. Es war, als hätte Akemi den beiden befohlen, für den Rest seines Lebens auf dem Schlachtfeld als seine Aufpasser zu dienen.
Und das Schlimmste daran war, dass er dafür dankbar war.
Das Licht wurde immer schwächer. Einmal, zweimal, ein drittes und schließlich ein viertes Mal trat er über den Abgrund, so langsam und vorsichtig er auch ging. Der Schnee gab unter seinen Füßen nach und er rutschte weg. Ishiko fing ihn auf und als auch sie einmal ins Rutschen geriet, gab das Gewicht von Chens Karren ihnen Halt. Haru war in der Lage, zurück in Sicherheit zu klettern. Auf diese Weise wurde die Weisheit seines Plans unter Beweis gestellt, aber seine Würde litt darunter.
Er hatte sich ein Tuch um den Helm gewickelt, aber es konnte auch nicht verhindern, dass sich an seinen Wimpern Eis bildete und ihm die Augen zuzufrieren drohten. Er musste sich ständig das Gesicht reiben, um das Eis zu brechen. Davon tränten ihm die Augen und das Ganze begann von vorn. Er war in einem ewigen Kreis von Wiederholungen derselben schmerzhaften, sinnlosen Prozedur gefangen. Vielleicht war er ja bereits gestorben. Vielleicht war das ja das, was ihn im Meido erwartete.
Der Klang des Windes änderte sich. Der Schnee vor ihm tanzte noch wilder. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, durch das tosende Unwetter hindurch etwas zu erkennen. Und dann sah er es. Zu seiner Linken ragte eine Felswand auf. Und zu seiner Rechten ebenfalls.
Sie hatten den Bergpass erreicht.
»Wir sind da!« Er musste brüllen, damit Ishiko ihn hörte. Vor lauter Siegestaumel wollte er lachen. Er musste sich selbst daran erinnern, dass er noch nicht gewonnen hatte. Morgenröte war noch viele Meilen entfernt. Die Karawane war den Elementen nicht mehr so ausgesetzt wie auf dem Bergkamm, das war alles.
Dennoch grinste er vor Erleichterung. Er hatte den Sieg über eine gefährliche Situation errungen. Das reichte ihm.
Hörte er hinter sich dankbare Rufe? Oder ließ seine Vorstellungskraft ihn im Pfeifen des Windes nur hören, was er gern hören wollte? Er entschied, dass es Rufe waren. Er konnte nicht der Einzige sein, der sich an diese Illusion von Sicherheit klammerte.
Er lief jetzt schneller, kämpfte zunächst noch gegen den Zug des Seils an, bis allmählich die übrigen Samurai und Händler ebenfalls schneller wurden, da sie nicht mehr der unmittelbaren Gefahr ausgesetzt waren, von der Klippe zu fallen.
»Rechts halten«, rief er Ishiko zu. Der Pass lag in einer schmalen Felsspalte zwischen den Bergen. Der Grund des Passes war eine tiefe Schlucht, aber der Pfad lag auf einer weiten Hochebene, die sich im Westen aus den Bergen heraus erhob. Zu seiner Linken, das wusste Haru, obwohl er es nicht sehen konnte, ging es in die Schlucht hinab. Aber rechts war der Boden eben und ging dann in eine Felswand über. Diese würde sie sicher durch den Pass geleiten.
Und dann?
Es dauerte noch ein paar Minuten, bevor er über diese Frage erneut nachdenken musste, also verbannte er sie aus seinen Gedanken.
Hier im Pass blies der Wind noch stärker, als schreie er vor Wut über die Beute, die ihm auf dem offenen Felskamm entkommen war. Auch der Schnee war hier tiefer und sammelte sich bereits zu Verwehungen an den Felsen. Doch diese Beschwernisse schienen ein geringer Preis dafür, dass er die hohe schwarze Wand jetzt deutlich sehen konnte. Haru näherte sich ihr, bis er die Hand ausstrecken und den Granit berühren konnte. Immer noch sah er nur wenige Meter weit, aber vorerst war die größte Gefahr gebannt.
Dennoch beschloss er, die Seile erst einmal beizubehalten. Falls jemand zu weit hinter der Karawane zurückfiel oder vom Weg abkam, konnte er sich leicht verlaufen. Besonders, wenn noch mehr Schnee fiel.
»Wie lauten Eure Befehle, Leutnant Haru?«, fragte Ishiko.
Und dann? Sie zwang ihn, mehr als nur den nächsten Schritt zu planen. Das passte ihm nicht, aber sie hatte recht. Das hatte sie fast immer, zu seinem Glück.
»Vorwärts. Immer vorwärts.« Fürs Erste.
»Ich bin dankbar für Eure Führung«, sagte sie voller Respekt und ohne eine Spur von Ironie in der Stimme. »Es ist ein Glück für uns, dass Ihr bereits einen Plan habt, wie wir die exponierten Pfade meistern können, die noch vor uns liegen.«
Natürlich mussten sie noch weitere Felskämme überwinden. Das wusste er nur zu gut. Aber in seiner Sehnsucht nach einem Sieg, egal wie unbedeutend, hatte er seine Aufmerksamkeit nur auf den Moment gerichtet. Es war, als könne er über die Zukunft gar nicht mehr vernünftig nachdenken. Aber das musste er oder sie alle würden sterben. Es lag ein weiterer Felskamm zwischen diesem Ort und Morgenröte und dieser war sogar noch länger als der, den sie gerade hinter sich gelassen hatten. Ehe die Karawane ihn erreichte, wäre die Nacht endgültig hereingebrochen. Sie konnten ihn unmöglich überwinden.
Haru merkte, dass er immer noch davon träumte, die Burg ohne Zwischenhalt zu erreichen. Die Angst davor, was es bedeutete, Schutz für die Nacht zu suchen, hatte ihn dazu gebracht, die Möglichkeit nicht einmal in Betracht zu ziehen.
Denk nach. Das musst du oder du vernachlässigst deine Pflicht.
Ich weiß, ich weiß. Wir können nicht weiter. Das ist eine Tatsache.
»Wir suchen hier Schutz«, entschied Haru »warten auf morgen früh und hoffen, dass der Sturm bis dahin so weit nachgelassen hat, dass wir weitergehen können.« Und dass der Schnee dann nicht drei Meter hoch liegt und wir im Pass festsitzen.
Hier gab es keinen Unterschlupf. Die Felswand war glatt und ohne Höhlen oder Vorsprünge. Während er weiterging, zermarterte Haru sich das Hirn, was vor ihnen lag, und versuchte, sich an die genaue Form des Berges zu erinnern. Das musst du doch wissen. Du bist so oft durch diesen Pass gewandert. Aber seine Erinnerung gab keine Details preis, da es für ihn nie notwendig gewesen war, davon Notiz zu nehmen. Er konnte die Klippen genauso wenig vor seinem geistigen Auge sehen wie mit seinen tatsächlichen Augen.
Beinahe hätte er Ishiko gefragt, ob sie wusste, was vor ihnen lag, aber er bremste sich. Mit der Frage würde er zugeben, dass er nicht wusste, was er tat, und ihre Antwort würde ohnehin keinen Unterschied machen. Der Wind pfiff durch den Pass, als wolle er sich dafür rächen, dass die Karawane vom Bergkamm entkommen war. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Sie mussten weiter, bis sie Schutz fanden, oder sie starben.
Vorwärts durch immer tiefere Schneewehen. Vorwärts durch das immer schwächere Licht, dem Tod immer näher. Haru versuchte, schneller zu gehen, aber die Karren blieben im Schnee stecken. Alle waren erschöpft und froren. Haru konnte kaum noch die Beine heben. Der Wind trug das Stöhnen und Wimmern der Händler zu ihm, den Chor seines Versagens.
Eine tiefere Note begleitete den Refrain, ein tiefes, langes, scharfes Knacken. Dann ein Grollen, ein Donner, der nicht vorüberging, sondern immer lauter wurde.
»Lawine!«, schrie Haru. »Schnell!«
Die Kaufleute nahmen den Schrei auf und wiederholten ihn entlang der Karawane.
Er konnte unmöglich sagen, aus welcher Richtung die Lawine kam. Im Pass warf der Berg alle Geräusche hin und her, bis alle Richtungen bedeutungslos schienen. Der Donner grollte von überallher. Wenn der Schnee über die Karawane hereinbrach, waren sie alle verloren.
Haru schob sich durch den Schnee vorwärts und betete, dass er in drei Metern, oder den nächsten drei Metern oder den nächsten drei Metern, irgendeine Art von Schutz fand. Ein Felsvorsprung würde ihm reichen. Alles, was nicht nur senkrechte Felsenwand war.
Das Grollen der Lawine wuchs zu einem Furcht einflößenden Donnern. Die Berge brüllten vor Wut und schrien sein Versagen geradezu hinaus. Es gab keinen Schutz. Keine Hoffnung.
Dann schwoll der Donner ab. Der Wind heulte erneut auf, pfiff schneidend durch den Pass und wirbelte den Schnee auf. Wo die Lawine abging, konnte Haru nicht erkennen. Hauptsache, nicht hier.
Er drängte darauf, weiterzugehen. Der Karawane war noch etwas Zeit geschenkt worden. Er hatte eine neue Chance darauf, seine Schutzbefohlenen zu retten. Noch einmal stolperte er einige Meter und noch einmal. Die Felswand ragte unverändert steil und ohne Vorsprünge vor ihm auf, aber er konnte so wenig davon erkennen, dass er immer die Hoffnung hatte, wenn er nur ein klein wenig weiter ging, einen Unterschlupf zu finden.
Da. Da! War da nicht ein Unterschied? Wich der Felsen zurück? War dieser dunkle Schatten eine Felsspalte?
Nur für einen kurzen Moment riss der Schleier und er konnte fast hundert Meter weit sehen, bevor der Schnee wieder alles vor ihm verbarg. Es könnte auch eine Sinnestäuschung gewesen sein.
Haru kämpfte sich weiter durch den metertiefen Schnee. Dort war ein Unterschlupf. Es musste einfach einer sein. Er versuchte, ihn mit reiner Willenskraft heraufzubeschwören.
Wieder erklang der krachende Donner, gefolgt von diesem Brüllen, wie der Schrei eines schrecklichen Tieres. Der Lärm des Echos übertönte sogar den Gesang des Windes.
Diesmal brauchte Haru die Lawine nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie kein Erbarmen mit ihnen haben würde. »Ich sehe einen Unterschlupf!«, rief er. Es spielte keine Rolle, ob das der Wahrheit entsprach. Falls er recht hatte, gab es ihnen allen Hoffnung. Falls nicht, würde niemand überleben, um ihn für seine Lüge zur Rechenschaft zu ziehen.
Es brüllte und brüllte, lauter, immer lauter. Der weiße Tod brauste heran.
Er rannte und zerrte am Seil, als könne er die gesamte Karawane hinter sich herziehen. Seine Lungen waren wie aus Stein. Atmen allein war so schmerzhaft, dass er unmöglich sprechen konnte. Der Schmerz von Angst und Hoffnung saß sogar noch tiefer. Er spürte einen Ruck, als auch Ishiko rannte. Es war nicht nötig, ihr eine Warnung zuzurufen. Die ganze Karawane hatte begriffen, dass das Schicksal sich gegen sie gewandt hatte. Die Kaufleute und ihre Pferde waren vermutlich in Panik. Sie konnten nirgendwo hinlaufen außer in seinen Traum von einem Unterschlupf, einem Traum, der sich aufgelöst hatte, sobald er ihn gesehen hatte.
Sie konnten nirgendwo hinlaufen, aber laufen war alles, was sie jetzt noch tun konnten.
Haru lief. Er rannte durch die weiße Dunkelheit, bis das Brüllen auf sie alle niedersank.