Kapitel Vierzehn

Die Stunde des Hahns wurde vom Unwetter beherrscht. Barako und allen anderen kam es so vor, als würde es nie wieder irgendetwas anderes geben als dieses Unwetter. Es hatte die Welt endgültig verschlungen.

Barako und Doreni gingen wieder zur Treppe des Wachturms und stiegen hinab. Dann begaben sie sich auf den langen Weg zu ihren Quartieren, um sich zu bewaffnen. Selbst im Inneren des Turms erreichte sie der Wind. Er war so stark, dass er durch jede Mauerritze kroch. Mit einem Klagelaut wehte er die Stufen hinab, streifte Barako und berührte sie mit eiskalten Zähnen im Nacken.

»Als Haru neulich nachts zur Stadt aufgebrochen ist, bin ich nicht aufgewacht«, sagte Doreni. »Als damals das Unwetter kam …«

»Da war es nicht so plötzlich«, beantwortete Barako die unausgesprochene Frage. »Schnell, das schon. Aber nicht übernatürlich.«

»Zumindest nicht so, dass wir es gemerkt hätten.«

»Stimmt.«

Und jenes Unwetter war nicht annähernd so heftig gewesen wie dieses. Die ersten heulenden Windstöße hatten alle Fackeln an der Nordwand mit einem Mal ausgeblasen. Die Laterne im Ostturm war in die Nacht hinausgeweht worden. Die Wachen hatten noch immer Schwierigkeiten, Fackeln zu entzünden und am Brennen zu halten.

Barako und Doreni waren am Fuß der Stufen angekommen, öffneten die Tür und starrten hinaus in ein schwarzes Nichts, durchzogen von feinen Silberstreifen.

»Das andere Unwetter war nie so finster«, stellte Doreni fest.

»Der Sturm musste uns nur lange genug hier festhalten, dass Haru die Stadt der Hungrigen Nacht erreichen konnte«, antwortete Barako.

»Ihr glaubt, auch dieses Unwetter war keines natürlichen Ursprungs?«

»Damals habe ich das noch nicht gedacht, aber jetzt fürchte ich, es könnte so gewesen sein. Dies hier jedenfalls versucht, die Mauern niederzureißen. Es will uns vernichten.«

»Und es könnte Erfolg haben«, meinte Doreni. »Wir könnten in dieser Dunkelheit vom Weg abkommen und erfrieren, bevor wir überhaupt das Hauptgebäude erreichen.«

»Wir haben keine Wahl«, antwortete Barako.

»Nein, wohl nicht. Ahnen, wacht über uns und führt uns auf unserem Weg«, betete Doreni.

Sie rannten los. Barako vertraute auf ihren Orientierungssinn. Sie wusste, wo der Eingang vom Turm aus lag. Sie brauchte nur in einer geraden Linie zu laufen.

Und genau das denkt jedes Opfer eines Schneesturms.

Sie hatte sich von der Wache eine Laterne geschnappt, die sie vor sich hielt, als sie aus dem Turm trat. Die Laterne erhellte nicht mehr als ein paar Schritte vor ihr. Sie konnte nur hoffen, dass das reichen würde, um einer geraden Linie folgen zu können.

Der Wind fegte mit solcher Macht durch den Burghof, als hätte er die Mauern bereits niedergerissen. Barako stemmte sich dagegen. Die Kälte schnitt ihr in Wangen und Stirn. Ihre Ohren brannten. Eis bildete sich an ihren Wimpern. Wenn sie einatmete, drang die Kälte in ihre Lungen ein und stahl ihr sogar die innere Wärme.

Doreni und sie stolperten vorwärts. Vor jedem Schritt drehte Barako sich um, um sich zu vergewissern, dass sie noch geradeaus lief. Aber sie konnte immer nur einen einzelnen Schritt hinter sich sehen und dazu den undeutlichen Schemen Dorenis. Er war nicht mehr als ein sich bewegender Schatten, obwohl er vielleicht einen Meter entfernt war.

Die Dunkelheit umgab sie, brüllte sie an, warf sie von einer Seite auf die andere. Sie wollte sie verloren und erfroren und tot sehen. Sie verschlang Raum und Zeit. Barako fühlte sich, als könnte sie für immer durch das Nichts laufen. Der Schnee peitschte ihr ins Gesicht wie ein Schauer von Nadeln. Immer wieder zwang er sie, die Augen zu schließen. Sie musste anhalten und sich die Lider mit den Fingern wieder öffnen.

Ihr ganzer Körper war taub und ihre Hände waren steif und ungeschickt, als sie zu ihrer Überraschung und Erleichterung eine gemauerte Wand erreichte. Sie konnte so wenig sehen, dass sie nicht sagen konnte, wo sie waren.

»Ist das das Hauptgebäude?«, fragte Doreni.

»Keine Ahnung.«

Sie tasteten sich an der Wand entlang und als sie eine Tür erreichten, merkte Barako, wie sehr sie trotz all ihrer Bemühungen vom Weg abgekommen waren.

»Das sind die Quartiere der Kaufleute«, stellte sie fest und stieß die Tür auf.

Vom Wind verfolgt eilten sie hinein und schlossen die Tür hinter sich. Laternen warfen helles Licht auf die versammelten Menschen. Die Kaufleute hatten sich in zwei große Gruppen gespalten. Eine drängte sich in angstvoller Faszination an den Fenstern, die andere kauerte sich in der Mitte der Halle zusammen. Ein Stimmengewirr aus gemurmelten Gebeten und Schluchzern empfing Barako. Chen löste sich aus der Gruppe in der Mitte und eilte zu den beiden Bushi.

»Rettet uns, Gebieter!«, flehte er.

Doreni schob ihn von sich. »Was winselt Ihr da? Die Burg ist nicht gefallen. Seht Ihr irgendwelche Angreifer?«

»Aber das Unwetter …«

Barako klopfte sich den Schnee von der Kleidung und rieb sich die Hände, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Sie konnte mehr Verständnis für die Kaufleute aufbringen als Doreni, aber sie hatten nicht die Zeit, sich um sie und ihre Ängste zu kümmern. »Die Burg ist gut geschützt. Wir haben Vorräte. Wenn Ihr denkt, dass wir ein Unwetter nicht überstehen können, beleidigt Ihr uns.«

Chen trat zurück und senkte beschämt den Kopf. »Bitte, bitte, verzeiht mir. Ich wollte Euch nicht …«

»Nein, natürlich wolltet Ihr das nicht«, schnitt Doreni ihm barsch das Wort ab. Dann überließen Barako und er die Kaufleute ihren Ängsten und Klagen.

Die beiden Leutnants eilten den Korridor hinunter, der an den Quartieren der Kaufleute vorbeiführte. Am anderen Ende befand sich ein Lagerhaus und von dessen Außentür war es nicht weit zu einem der Dienstboteneingänge des Haupthauses. Sogar diese Tür, so nah sie auch war, war in dem Unwetter nicht zu sehen, aber Barako konnte das Gebäude als Schemen ausmachen. Dieses Mal konnten sie sich nicht verlaufen.

Doreni und sie eilten wieder in die Eiseskälte hinaus und hinüber zum Hauptgebäude. Sie fanden den Eingang einigermaßen schnell und liefen zu ihren Quartieren im Obergeschoss.

»Wie lange haben wir für den Weg gebraucht?«, wollte Doreni wissen.

Barako schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht. »Zu lange.« Da war sie sich sicher. »Wir gehen als Erstes zu den Kasernen. Alle Bushi, ohne Ausnahme, müssen an die Mauern. Ihr befehligt die Verteidigung der Südseite.«

»Ihr glaubt, das Unwetter ist nur der Beginn?«

»Ja. Könnte es eine bessere Deckung für einen Angriff geben?«

»Ihr habt recht. Und die Seiten?« Gewöhnlich stand während einer Belagerung ein Offizier an jeder Seite der Burg. Aber Ochiba war bewusstlos. »Können wir Haru vertrauen? Ist er in der Verfassung, zu kämpfen?«

Barako dachte kurz nach. In dieser Dunkelheit, finsterer als die finsterste Nacht, würde es schwierig werden, sich entlang der Mauern zu verständigen. Der Wind war so laut, dass er jeden Befehl in die Schneewehen davontragen würde. Laternensignale wären höchstens ein paar Dutzend Meter weit zu sehen. Die Verteidigung der Mauern, selbst derjenigen, die von einem Offizier befehligt wurden, hing von den Taten der einzelnen Samurai ab, die auf die Bedrohungen in ihrer unmittelbaren Nähe reagierten. Sie mussten auf die Ausbildung und Talente ihrer Krieger vertrauen. Und das tat Barako. Sie alle waren Samurai des Krabben-Klans. Von Geburt an waren ihre Leben von dem einen, übermächtigen Gedanken beherrscht, Rokugan gegen die Schattenlande zu verteidigen.

»Wir werden Boten brauchen, die Nachrichten weitergeben«, sagte sie.

»Vermutlich«, stimmte Doreni zu. »In Wahrheit werden wir jedoch voneinander abgeschnitten sein.«

»Ja, das werden wir.«

»Und Haru?«

»Er ist noch schwach und kann uns auf den Zinnen nicht viel helfen. Er soll sich im Inneren der Burg nützlich machen.« Falls er überhaupt einen Nutzen haben kann.

»Er kann die Daimyo verteidigen, oder eher sie ihn.«

Barako zuckte mit den Schultern. Insgeheim gab sie Doreni recht, aber Haru war derzeit immer noch der Erbe von Morgenröte. Sie würde ihn nicht vor einem Hiruma schlechtreden. Nicht vor seinem Prozess.

Sie ließ Doreni stehen, legte ihre Rüstung an und bewaffnete sich. Dann ging sie zu den Kasernen hinüber, um ihre Befehle zu erteilen. Anschließend begab sie sich wieder zur Nordwand, diesmal mit ihrem gesamten Trupp. Die Krieger hatten genug Laternen dabei, dass sie das Tor auch in dem Unwetter fanden, und sie stiegen die Stufen zum Ostturm hinauf, bis sie den Durchgang zur Mauer erreichten. Sie führte ihre Kompanie auf den Wehrgang und befahl, die Verteidigungsanlagen gegen Belagerungen vorzubereiten. Dann befahl sie ihren Samurai, so weit auszuschwärmen, wie sie konnten, ohne den Kontakt zum Nebenmann zu verlieren.

»Vorsicht vor der Dunkelheit«, warnte sie. »Sie wird versuchen, den Angriff des Feindes zu verbergen.«

Daizu stand neben ihr. Unter seinem Helm blitzte der blutverschmierte Verband um sein verwundetes Ohr hervor. Mit einem Arm schirmte er seine Augen ab. Der Schnee prasselte gegen seinen Kampfhandschuh. »Ich fürchte, wir sehen erst etwas, wenn es uns schon erreicht hat.«

»Wahrscheinlich. Aber auch wenn der Feind für uns unsichtbar bleibt, wir stellen uns ihm. Wir lassen uns nicht überraschen.«

»Könnte dieser Sturm schon der Angriff sein? Wenn er niemals endet, wäre das schlimm genug. Was, wenn die Zeit angehalten wurde wie in der Stadt der Hungrigen Nacht?«

Dann sind wir verloren. Dieser schreckliche Gedanke war ihr auch schon gekommen. Wenn das gerade geschah, dann gab es keine Hoffnung mehr. Die Menschen von Morgenröte würden verhungern. Die Stadt der Hungrigen Nacht hätte nichts weiter zu tun, als sie unter der Kälte und dem Schnee und der Dunkelheit zu begraben. »Ich glaube nicht, dass uns das bevorsteht.« Sie musste ihren eigenen Worten glauben, wenn sie nicht verzweifeln wollte. »Morgenröte hat bereits zwei Unwetter überstanden. Beide haben wieder aufgehört.«

»Sind sie beide von der Stadt der Hungrigen Nacht gesandt worden?«

»Der Zeitpunkt, besonders des zweiten, passt zu gut, um Zufall zu sein. Und jetzt das hier. Vielleicht wächst der Einfluss, den die Stadt außerhalb ihrer Mauern haben kann. Möglicherweise haben wir sie stärker gemacht. Aber wenn sie unendliche Macht hätte, wären wir bereits tot. Wir hätten unsere Flucht aus der Stadt nicht überlebt. Die Stadt der Hungrigen Nacht hat Grenzen. Dieses Unwetter wird enden. Das Gefährliche daran ist also die Gelegenheit, die es dem Feind bietet. Es wird einen Angriff geben, Daizu, und zwar bald.«

Die Wache zog sich quälend langsam dahin. Barako fühlte sich tatsächlich, als hätte die zeitlose Ewigkeit, die in der Stadt der Hungrigen Nacht herrschte, auch Morgenröte befallen. Sie musste den Befehl erteilen und langsam entlang des Wehrgangs weitergeben lassen, dass die Soldaten schichtweise Schutz suchen sollten. Sie würde ihre Samurai nicht erfrieren lassen, während sie darauf warteten, dass der Feind sich blicken ließ. Auch sich selbst zwang sie gelegentlich, hineinzugehen und sich am Feuer des Wachhäuschens aufzuwärmen. In die zornige, weiß wirbelnde Dunkelheit hinauszustarren war ebenso hypnotisch wie betäubend. Alles Mögliche konnte sie erkennen in den wilden Mustern des Schnees. Und bei der elenden Kälte fiel es schwer, wachsam zu bleiben. Ihr Pflichtgefühl hielt sie aufrecht. Pflichtgefühl gegenüber der Daimyo und der Burg.

Und gegenüber Ochiba. Barako würde dafür sorgen, dass ihr nichts passierte.

Sie verlor jegliches Zeitgefühl. Die Nacht war hereingebrochen, soviel wusste sie. Aber sie wusste nicht, wie spät es war. Wahrscheinlich noch nicht Morgen. Doch solange das Unwetter tobte, waren Tag und Nacht bedeutungslos. Alles lag in Dunkelheit.

Kurz nachdem sie sich zum zweiten Mal aufgewärmt hatte, hörte sie etwas. Es war kaum zu vernehmen und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es sich nicht eingebildet hatte. Das Heulen des Windes schwoll an und ließ nach, aber es hörte nie ganz auf und es unterdrückte alle anderen Geräusche. Dennoch meinte sie, aus nördlicher Richtung etwas zu hören, das der Sturm zu ihr herüberwehte.

Barako griff sich eine Laterne, hielt sie hoch und schwenkte sie, um allen, die es sehen konnten, ein Zeichen zu geben, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte, jenseits des Wehrgangs etwas zu erkennen, und spähte angestrengt in die Schwärze hinaus, die sich wie ein Leichentuch über alles gelegt hatte.

Das Geräusch wurde deutlicher. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Es klang wie brechendes Eis. Der Rhythmus erinnerte sie an das Knochengeklapper in der Stadt der Hungrigen Nacht.

Sie lehnte sich über die Zinnen. Den Boden unter sich konnte sie schon nicht mehr erkennen.

»Ich brauche eine Fackel!«, rief sie.

Eine Wache entzündete eine von dem Stapel, den sie im Schutz der Wände zusammengetragen hatten. Es war ihnen nicht gelungen, irgendwelche Fackeln in diesem Sturm länger als ein paar Minuten am Brennen zu halten, also hielten sie sie in Reserve. Daizu nahm die Fackel und brachte sie Barako.

»Werft sie dort hinunter«, sagte sie und zeigte auf den Boden.

Daizu schleuderte die Fackel über die Zinnen. Sie drehte sich in der Luft und landete im Schnee. Die Flammen flackerten wild, als würden sie bald erlöschen. Sie hielten lange genug, dass Barako den Ursprung des Geräuschs erkennen konnte.

Am Fuß der Mauer bewegte sich etwas in den fast zwei Meter tiefen Schneewehen. Der Schnee waberte und brach auf. Pulverschnee stob in die Höhe. Knochenhände durchstießen die Oberfläche, streiften über den Schnee und hievten mit einiger Anstrengung ganze Körper heraus.

Als befände sich dort unten ein weißer Friedhof, auf dem ein Fluch lag, gebar der Boden Skelette aus Schnee.

Barako befahl, mehr Fackeln hinunterwerfen zu lassen, da die erste kaum noch glomm.

In ihrem Bemühen, als Erste auf den Beinen und an der Mauer zu sein, krochen die Skelette übereinander hinweg. Sie heulten wie ihre Gegenstücke in der Stadt der Hungrigen Nacht, aber es gab einen Unterschied zwischen den Schreien. Diese klangen sogar noch weniger menschlich. Stattdessen lag etwas vom Heulen des Windes darin. Auch wenn die Geister der Verdammten in diesen Gestalten wohnen mochten, ihre Körper bestanden aus Schnee, geformt vom Sturm.

»Möge Herr Hida uns beschützen«, flüsterte Daizu.

»Er verleiht uns Stärke«, sagte Barako. Hass und Entschlossenheit ließen gar keinen Platz für Angst. »Für Schutz sind wir zuständig.« Sie erhob die Stimme. »Der Feind ist hier! Weitergeben! Weitergeben!«

Mit Eisklingen in den Händen stürmten die Skelette auf die Mauern ein. Sie hielten sich daran fest, klebten regelrecht daran. Sie begannen den Aufstieg. Eis formte sich um ihre Hände und Füße, fror sie an der Mauer fest und zerbarst dann, wenn sie den Arm oder das Bein bewegten. So viele von ihnen stiegen aus der Nacht empor. Darum hatte Barako ihre Bewegungen hören können. Eine Armee wurde geboren.

Barako dachte an die endlosen Schneeflächen jenseits der Burgmauern. Diese Armee könnte unendlich groß werden.

Dann werden wir sie für immer bekämpfen, wenn es sein muss.

Ihre Rufe wurden rechts und links aufgegriffen und die Warnung von Samurai zu Samurai weitergetragen. Die Bushi an den äußeren Enden ihrer Kompanie rannten zu den anderen Mauern und verbreiteten die Meldung weiter.

Barako hob ihren Hammer und wartete auf das erste der Schneeskelette. Sie fragte sich, ob an den anderen Mauern der Angriff bereits begonnen hatte. Dieser Feind konnte sich an allen Seiten der Burg bilden und überall gleichzeitig angreifen.

Überall …?

Entlang der Mauern wurden Fackeln und Laternen gezündet, die den Aufstieg der Skelette beleuchteten. Die Ungeheuer waren unnachgiebig, aber auch langsam, wie eine Kletterpflanze. Einige Augenblicke blieben ihr noch.

Barako rannte zur anderen Seite der Mauer und ließ auch in den Burghof einige Fackeln werfen. Der Boden dort war unberührt, ein regloses graues Feld im flackernden Licht. Nichts brach auf, nichts bewegte sich. Nichts erhob sich, um die Bewohner der Burg abzuschlachten.

Daizu war mitgekommen, um nachzusehen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich dieselbe Erleichterung ab, die sie fühlte, trotz der Armee von Schreckgestalten, die die Mauern heraufkrochen. »Sie haben ihre Grenzen«, sagte er.

»Und was Grenzen kennt, ist nicht unbesiegbar«, erklärte Barako.

»Aber warum fungieren unsere Mauern wie eine Barriere? Warum werden wir nicht ebenso von innen angegriffen wie von außen?«

»Diese Burg ist von Generationen von Bewohnern gesegnet worden. Der Boden ist durch unseren Schrein geweiht.« Barako drehte sich wieder zur Außenseite um. »Oder vielleicht hat es andere Gründe. Wichtig ist nur, dass die Verderbtheit sich noch nicht ins Innere von Morgenröte ausgebreitet hat.«

Die ersten Skelette hatten die Oberkante der Zinnen erreicht. Barako schwang den Hammer und traf den ersten Kletterer am Kopf, als er sich gerade auf die Mauer hinaufziehen wollte. Der Schlag pulverisierte das Ungeheuer. Es löste sich auf und Pulverschnee wurde in die Dunkelheit geweht.

»Sie sind schwach und zerbrechlich!«, rief Barako. »Wenn ihr sie trefft, verschwinden sie!«

Sie konnte nur wenige Meter weit in jede Richtung sehen, aber sie hörte die Rufe von weiter weg und das Waffengeklirr. Skelette heulten auf und wurden reihenweise zerschlagen. Barako bewegte sich vor und zurück und zerschmetterte jede Kreatur, die den Zinnen zu nah kam. Mit jedem Treffer verschwand ein Skelett. Einige von ihnen zerplatzten so nah an ihrem Ziel, dass Barako plötzlich durch Schneewolken rennen musste. Einige Minuten lang hoffte sie schon, dass sie den Feind davon abhalten könnten, ihre Verteidigung zu durchbrechen. Aber das Aufbrechen des Schnees war weiterhin zu hören. Die Armee der Untoten formierte sich weiter. Die Kreaturen stapften in Richtung Mauer und begannen ihren Aufstieg. Es waren zu viele und sie hatten nicht genügend Samurai, um jede Lücke auf den Wehrgängen zu schließen.

Die Skelette erreichten die Oberkante der Mauer.

Das erste wurde besiegt, sobald es angekommen war. Doch weitere folgten. Der Nachschub von unten war stetig wie die aufsteigende Flut. Und obwohl sie zerbrechlich waren, waren sie gefährlich. Zu Barakos Rechter schlug Tanako ihr Katana durch ein Skelett, das über die Zinnen kletterte. Die Schneewolke nahm Tanako für einen Moment die Sicht und so drehte sie sich nicht rechtzeitig um, als ein weiteres Ungeheuer sie von hinten anfiel. Sein eisiges Beil traf sie im Nacken und sie fiel zu Boden, der Kopf halb abgeschlagen. Aus der Wunde schoss Blut in einer dunklen Fontäne, die beinahe augenblicklich zu Eis gefror.

Sekunden später vernichtete Barako das zweite Skelett, indem sie ihre Waffe in einem weiten Bogen schwang und sich dann umdrehte, um ein drittes Ungeheuer in der Brust zu treffen, das sie zu überraschen versuchte. Sie schaltete zwei weitere aus, die noch an der Mauer kletterten, dann eilte sie Daizu zu Hilfe, der nun einige Meter der Mauer mehr zu sichern hatte. Ihre Gedanken konzentrierten sich darauf, jeweils für den nächsten Herzschlag das zu tun, was der Kampf erforderte.

Die Belagerung erreichte eine Pattsituation. Die Samurai wehrten die Skelette ab, aber es kamen immer weitere. Ihr Heulen klang wie Hohn. Längst konnte man sie sie nicht mehr zählen. Sie wurden nicht müde. Die Verteidiger schon. Und mit jedem gefallenen Samurai wurde die Verteidigung ausgedünnt und der Kampf verzweifelter.

Dann trafen die Boten von den anderen Mauern ein. Die Skelette griffen Morgenröte von allen vier Seiten an.

»Zumindest können wir die Stellung halten.« Daizu zerschmetterte einen weiteren Schädel und sprang zurück, um nicht von der eiskalten Explosion aus Schnee getroffen zu werden.

»Die Stellung zu halten reicht nicht.« Barako sprang hin und her und schlug ohne Unterlass mit ihrem Hammer zu. Sie mussten mehr tun, als die Ungeheuer nur zu zerschlagen. Sie mussten sie früher aufhalten. Falls möglich, mussten sie sie davon abhalten, sich überhaupt erst zu formen.

Ihr Hass auf die Skelette brannte so heiß in ihr, ihr war, als müsste allein das schon ausreichen, sie aus dieser Entfernung zu schmelzen.

Aber wenn sie die Skelette noch etwas aufhalten könnten, bis ihr Gegenangriff stand …

»Die Kessel sind bereit, Leutnant!«, rief Umsau.

Es hatte länger gedauert, als ihr lieb war, die Kessel zu erhitzen. Es war schwer gewesen, die Feuer darunter zu entzünden, und noch schwerer, sie nicht wieder ausgehen zu lassen. Entsprechend hatte es lange gedauert, zu lange, bis das Wasser kochte. Aber jetzt waren sie bereit.