Kapitel Sechzehn

Das Unwetter wütete weiter und es war unmöglich, den Felsstreifen überall freizuhalten. Der Schnee deckte ihn wieder zu. Aber die Skelette kehrten nicht zurück, zumindest vorerst nicht. Barako gab die Anweisungen, die Kessel bereit und das Wasser kochend zu halten, um für einen neuen Angriff gerüstet zu sein.

»Es tut mir leid, dass Eure Wache noch nicht vorbei ist«, sagte sie zu den Kriegern, die sie für die erste Schicht nach der Schlacht eingeteilt hatte. »Ihr werdet so bald wie möglich abgelöst werden. Wir alle werden nur wenig Ruhe finden, solange das Unwetter anhält.«

»Dies ist die erste Wache nach dem Sieg«, antwortete eine der Samurai, Sakimi. »Das erleichtert uns diese Bürde.«

Barako legte der Bushi einen Kampfhandschuh auf die Schulter. »Ihr erfüllt mich mit Stolz, Schwester. Wohlgesprochen.«

Sie führte den Rest der Kompanie zurück ins Gebäude. Das Unwetter war so heftig und finster wie zuvor, aber eine Reihe von Laternen war zwischen dem Tor und dem Eingang aufgestellt worden und leuchtete ihnen den Weg. Während die Soldaten zu den Kasernen abbogen und hofften, zumindest etwas Schlaf zu finden, stapfte Barako zur Haupthalle. Dort kam sie kurz vor Doreni an. Er trug den Helm unter dem Arm und ging langsam. Vor Erschöpfung war sein Gesicht fahl. Doch als er Barako sah, lächelte er.

»Eine gute Schlacht«, sagte er.

»Ich weiß nicht, ob ich es so bezeichnen würde.« Sie freute sich, ihn zu sehen, ein ganz neues Gefühl. Vermutlich würde es nicht lange anhalten.

»Jede Schlacht, die mit einem Sieg endet, ist für mich gut.«

Barako dachte an Daizu und die anderen Samurai, die sie hatte sterben sehen. »Ich wünschte, ich könnte es ebenso sehen.«

»Es ist der einzige Weg, den ich kenne, um die Verzweiflung einzudämmen.«

Sie nickte und öffnete die Tür zur Haupthalle. Akemi war allein.

»Wenn Ihr nicht auf der Mauer seid, dann bringt Ihr gute Neuigkeiten, hoffe ich«, begrüßte sie die Daimyo.

»Morgenröte ist sicher, vorerst«, sagte Barako.

»Obwohl dieses unnatürliche Unwetter immer noch anhält.«

»Ja, das tut es.«

»Und kein Ende in Sicht«, ergänzte Doreni.

»Also ist die Belagerung noch nicht vorbei«, schloss Akemi. »Uns ist höchstens eine Pause vergönnt.«

»So sieht es aus«, sagte Barako. »Ich fürchte, es endet erst, wenn die Macht, die die Stadt der Hungrigen Nacht regiert, besiegt ist.«

»Schlagt Ihr vor, durch dieses Wetter dort hinzumarschieren?«

»Nein, das wäre unmöglich. Vorhin haben Leutnant Doreni und ich uns bereits auf dem Weg vom Tor zum Hauptgebäude verlaufen. Solange diese Dunkelheit anhält, müssen wir hierbleiben.« Hattet Ihr gehofft, ich würde vorschlagen aufzubrechen und so die Dummheit Eures Sohnes zu wiederholen? Ihr solltet mich besser kennen. Die Daimyo musste das Gefühl haben, dass ihr die Herrschaft über Morgenröte entglitt, wenn der Gedanke, dass Barako so leichtsinnig sein könnte, ihr auch nur einen Augenblick lang gekommen war.

»Also tun wir gar nichts?«, fragte Akemi.

»Auch mich schmerzt es, untätig zu sein«, sagte Doreni. »Aber Leutnant Barako hat recht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als im Schutz von Morgenröte zu bleiben.«

»Bis die Burg fällt?«

»Es besteht Hoffnung, dass es nicht dazu kommen wird«, erklärte Barako.

»Eine solche Hoffnung würde ich sehr begrüßen.«

»Das Böse, das uns belagert, ist sehr mächtig. Es ist jedoch nicht allmächtig. Die Zahl der Skelettkrieger schien zunächst kein Ende zu nehmen. Doch sie war schließlich begrenzt. Ebenso denke ich nicht, dass dieses Unwetter für immer anhalten kann. Das Wesen, das es verursacht, wird sich ausruhen müssen. Sogar in der Stadt der Hungrigen Nacht selbst waren seine Fähigkeiten begrenzt. Wenn wir hier ausharren und die Mauern verteidigen, wird der Feind sich irgendwann zurückziehen müssen. Das Unwetter wird enden und dann sind wir dran, sie zu belagern.«

»Offensichtlich haben wir keine andere Wahl, als genau das zu tun«, stellte Akemi fest. »So sehr ich mir auch wünschte, dass die Dinge anders lägen.«

»Das ist nicht der richtige Moment, voreilig zu handeln«, mahnte Barako.

»Das ist es wohl nie«, antwortete Akemi mit trauriger Stimme.

»Wo ist Haru?«, wollte Doreni wissen.

»Er ruht sich aus. Er war noch zu schwach, um mit mir zusammen die gesamte Belagerung auszuharren.«

»Und Chuai? Ich habe ihn angewiesen, Euch nicht allein zu lassen.«

Bewacht den Wächter, dachte Barako. Sie hatte keinen Zweifel, dass er Chuai befohlen hatte, Haru im Auge zu behalten.

»Ich habe ihn weggeschickt«, erwiderte Akemi. »Ich wollte allein sein.«

»Bei allem Respekt«, sagte Barako, »aber war das klug?«

»Wenn ich angegriffen worden wäre, dann wäre die Lage ohnehin sehr viel ernster gewesen, als dass ein oder zwei Leibwächter damit hätten fertig werden können.«

Wie um Akemis Antwort Lügen zu strafen, durchschnitt ein spitzer Schrei die Haupthalle. Er war lang gezogen und hallte voller Schmerz und Schrecken von den Wänden der Burg wider. Die Stimme war so schmerzverzerrt, dass Barako sie nicht erkannte. Der Schrei hielt lange an, die Anspannung war größer als das Bedürfnis des Opfers, Atem zu holen. Er endete in einem gurgelnden Stöhnen. Die letzten Momente hatten einen schrecklichen, feuchten Unterton.

»Bei der Stärke des Herrn Hida«, keuchte Akemi, »was war das?«

»Ich glaube, es kam von oben«, stellte Barako fest. Es war nicht Ochibas Stimme. Oh, Ihr Ahnen, lasst es nicht Ochibas Stimme gewesen sein.

Alle drei verließen die Halle. Akemi eilte hinter Barako her, wobei ihr Stock mit jedem Schritt scharf auf dem Boden klackerte. Doreni bildete das Schlusslicht. Sie nahmen die Treppe hinter der Haupthalle. Die Gänge waren voller verängstigter Bediensteter und Barako schickte sie zurück an ihre Posten.

Im Obergeschoss sah sie zuerst in Ochibas Zimmer nach, das der Treppe am nächsten lang. Der Hauptmann war unversehrt und nach wie vor bewusstlos. Danke, Herr Hida. Die nächste Tür führte zur Bibliothek. Barako trat ein und sah Junji neben dem Eingang stehen. Er wirkte wie ein Mann, der das Schlimmste befürchtet hatte und wusste, dass es eingetreten war.

»Wisst Ihr, wer so geschrien hat?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»War es hier in der Nähe?«, wollte Doreni wissen.

»Über uns.«

»Seid Ihr sicher?«

»Nein«, antwortete Junji. »Der Schrei schien von überall zu kommen. Aber ich glaube nicht, dass das Opfer in der Nähe war.«

»Es war so laut«, murmelte Akemi erschrocken. »So voller Schmerz …«

Junji kam mit ihnen, als sie zur nächsten Schiebetür weitergingen. Doreni schwieg, aber Barako spürte, wie seine Anspannung stieg. Das Quartier, das seine Familie und er bewohnten, lag hinter dieser Tür.

Barako ließ ihm den Vortritt. Er klopfte erst an die Tür seines Gemachs und rief leise nach seiner Frau. Kurz darauf zog Rekai die Tür auf. Sie war blass und hatte die Augen weit aufgerissen. »Was war das?«, fragte sie ängstlich.

»Wir wissen es noch nicht«, antwortete Doreni ihr. »Bleib hier. Ich bin gleich zurück.«

Das nächste Zimmer gehörte Mioko und auch sie war in Sicherheit. Und dann kamen sie zu Chuais Raum.

Auf Dorenis Klopfen kam keine Antwort. Der Blick, den er Barako zuwarf, bevor er die Tür aufschob, war voller Sorge. Das Zimmer war leer.

»Vielleicht ist er auf der Mauer«, sagte Barako. Aber da ist er nicht. Du weißt, dass er da nicht ist. Denn das wäre eine zu glückliche Fügung.

»Seine Pflicht war, die Daimyo zu schützen«, beharrte Doreni. »Er hätte hier auf neue Befehle gewartet, nachdem sie ihn weggeschickt hat.«

Barako wollte gerade vorschlagen, dass Chuai auf seinem Weg hierher vielleicht aufgehalten worden war, aber sie schluckte die Worte hinunter. Solche Versicherungen waren leer und halfen niemandem.

Sie stiegen zur nächsten Etage hinauf.

»Ich wüsste nicht, was er hier zu suchen hätte«, sagte Doreni.

»Dann ist er vielleicht auch nicht hier«, entgegnete Barako und verfluchte sich sogleich selbst dafür. Das heißt doch nichts. Falls dieser Schrei von Chuai gekommen ist, dann heißt es gar nichts, dass er sich nicht auf dieser Etage aufhalten sollte.

Die Räume hier waren dunkler. Nur wenige Laternen brannten. Irgendwo stand ein Fenster offen und ließ den Wind in die Burg. Er heulte vor sich hin, ließ Fensterläden klappern und blies Schnee über den Fußboden. Die Tür zu Akemis Gemächern stand offen, das Zimmer war dunkel und kalt. Junji entzündete eine Laterne und trat ein. Raureif versilberte die Möbel. Es war niemand hier.

Der Wind streifte und umschwärmte sie, stahl Barako das letzte bisschen Wärme. Von Vorahnungen getrieben ging sie den Gang entlang, der an den Gemächern der Daimyo vorbei zum Schrein in der südwestlichen Ecke der zweiten Etage führte. Sie hielt den Hammer fest umklammert, obwohl sie insgeheim sicher war, dass sie ihre Waffe nicht brauchen würde. Es gab hier keinen Kampf. Dort, wo sie hingingen, war alles bereits vorbei.

Sie roch das Blut schon, bevor sie es sah.

Chuais Körper lehnte an der Wand neben dem Eingang zum Schrein. Daneben stand eine Statue des Herrn Hida.

Chuais Gesicht hing wie ein zerrissener Handschuh über dem Kopf des Kami.