Kapitel Zwanzig

Aber sie musste schlafen. Egal wie viel Barako ihren Samurai abverlangte, sie brauchte Schlaf. Die wenigen Minuten, die sie sich in Ochibas Gemach erlaubt hatte, waren nicht genug gewesen. Solange die Sonne nicht schien, wurde der Tag von den Schichten der Wache bestimmt und ein ganzer Zyklus war ohne einen Angriff vergangen. Das war ein Sieg. Die Einäscherungszeremonie für die Toten fand im Schrein im Erdgeschoss statt, der allen Kami geweiht war, und sie wurde nicht gestört. Auch das war ein Sieg. Doreni schien zufrieden mit dem, was er erreicht hatte, und gestattete sich, offiziell um seinen Sohn zu trauern.

Dass er zumindest vorerst nichts weiter versuchte, um Akemis Position zu schwächen, war in Barakos Augen ein weiterer Sieg.

Sie nahm gerade, was sie kriegen konnte, so wenig es auch erschien, und war dankbar dafür.

Und auch wenn es ihr nach wie vor schwerfiel, die Verantwortung des Kommandos abzugeben, selbst für ein paar Stunden, war sie auch dankbar dafür, dass es ihr gelungen war, sich etwas Zeit zum Schlafen zu nehmen. So konnte es nicht weitergehen. Doreni war für den Augenblick zufriedengestellt, weil Haru bewacht wurde. Er hatte schon zuvor geruht und so konnte sie die Verteidigung der Burg an ihn übergeben. Immer wieder gab es Angriffe der Schneeskelette, aber sie kamen nur gelegentlich und konnten leicht abgewehrt werden. Die Patrouillen waren gut organisiert.

Doch all das hatte sie schon einmal gedacht. Als sie neben Ochiba gesessen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Verteidigung stand, so gut es eben möglich war, und dass es für eine Weile nichts mehr für sie zu tun gab. Sie hatte sich geirrt.

War es diesmal anders? Fühlte sie so etwas wie Sicherheit, jetzt, da Haru weggesperrt war? War sie so sehr davon überzeugt, dass er der Oni war?

Nein, das bin ich nicht. Ich glaube nicht, dass er es ist. Ich bin nur nicht vollkommen sicher, dass er es nicht ist.

Warum glaubte sie dann, dass sie jetzt schlafen könnte? Wenn Haru nicht der Oni war, dann lief das Monster frei herum und umkreiste die Burg unerreichbar und unsichtbar, bis es zu spät war. Die Patrouillen konnten nicht überall sein. Und ein ganzer Trupp war möglicherweise nicht stark genug, das Ungeheuer zu besiegen. Also warum sollte sie schlafen?

Weil ich es muss. Ich bin am Ende.

In ihrem Gemach legte Barako sich auf ihre Schlafmatte. Binnen Sekunden war sie eingeschlafen.

Kein panischer Lärm weckte sie. Sie erwachte irgendwann von selbst und wusste, dass sie mehrere Stunden geschlafen hatte, denn sie fühlte sich tatsächlich ausgeruht. Die Erschöpfung würde erst vollständig von ihr abfallen, wenn dieser Krieg zu Ende war, aber sie war bereit, erneut den Kampf aufzunehmen.

Während sie aufstand, wurde sie allmählich nervös. Sie legte die Rüstung an und nahm ihren Hammer. Aufmerksam lauschte sie den Geräuschen der Burg, während sie sich eilig fertig machte. Sie war überzeugt, dass sie sich direkt in einen Kampf stürzen musste. Aber der Korridor war ruhig. Nicht weit entfernt hörte sie das Fußgetrappel einer Patrouille, die erst vor Kurzem an ihrer Tür vorbeigekommen sein musste. Sie hörte das Gemurmel und Geraschel des alltäglichen Lebens auf der Burg, wie das Rauschen von Blut in den Adern des Gebäudes, ein Zeichen von Gesundheit. Immer noch heulte der Wind um die Mauern. Aber als sie aus ihren Räumen trat, wurde sie von keiner Brise umweht. Zumindest auf dieser Etage war kein Fenster zerbrochen.

Trotzdem wuchs ihre Nervosität, ohne Grund und ohne Anlass.

Den Hammer in der Hand ging sie leise los auf ihre ganz eigene Patrouille. Es war die Stunde des Affen, spät am Nachmittag – eine bedeutungslose Zeiteinteilung in einer Welt der ewigen Nacht. Aber die Leute verhielten sich immer noch so, als wäre der Tag wichtig, als böte er eine Art Sicherheit, die die Nachtstunden ihnen nicht geben konnten.

Jetzt empfand sie eine solche Sicherheit nicht. Die Zuversicht, die sie hatte schlafen lassen, war verschwunden. Etwas bahnte sich an. Die Vorahnung lag in der Luft und zog sich um Barakos Schädel zusammen. Ihr Puls hämmerte.

Und dann war das Hämmern außerhalb ihres Körpers, außerhalb der Burg, wurde zum Dröhnen und Knirschen von gewaltigen Schlägen, die Holz und Mörtel zertrümmerten. Der Aufprall ließ Wände und Böden erbeben. Es war schwer zu sagen, woher die Schläge kamen. Barako rannte den Gang hinunter und versuchte, die Quelle ausfindig zu machen. Sie schien irgendwo in dieser Etage zu liegen, aber die Schläge dröhnten weit und breit und vermischten sich mit dem Heulen des Windes. Zweimal knirschte es noch, mehr Holz splitterte. Barako glaubte, einen Schrei zu hören, aber er war so schnell vorbei, dass es auch der Wind hätte sein können. Schließlich hörten die Schläge auf.

Barako blieb stehen und lauschte. Die Patrouille, die sie zuvor gehört hatte, bog um die Ecke. Die erschrockenen Gesichter der Samurai spiegelten wider, wie sie sich fühlte. Sie waren in der Nähe des Eingangs zur Bibliothek und Junji kam heraus. Er hatte den verwirrten Gesichtsausdruck von jemandem, den man aus dem Schlaf gerissen hatte. Seit die beiden Samurai der Hiruma getötet worden waren, hatte Barako ihn kaum zu Gesicht bekommen. Junji war in seine Schriftrollen vertieft gewesen und hatte eine Möglichkeit gesucht, den Oni zu bekämpfen. Als sie ihm erzählt hatte, dass sie Haru eingesperrt hatten, hatte er lediglich kurz genickt und sich dann wieder seinen Schriftrollen gewidmet. Irgendwann musste er vor Erschöpfung eingeschlafen sein, aber jetzt war er hellwach.

»Was war das?«, fragte er.

Barako schüttelte den Kopf. Sie lauschte noch und wartete darauf, dass das Dröhnen wieder einsetzte. Und das tat es. Jetzt war es weiter entfernt. Ein anderer Teil der Burg wurde angegriffen.

»Ich glaube, das ist über uns«, sagte eine der Wachen.

Die zweite Etage. Wo sich die Gemächer der Daimyo befanden. Wo Haru war.

Barako sprintete zur Treppe und das Adrenalin verlieh ihr trotz der schweren Rüstung die nötige Geschwindigkeit. Der Trupp und Junji folgten auf dem Fuße. Sie flog geradezu die Treppe hinauf. Die Geräusche der Schläge und des splitternden Holzes wurden lauter.

Die Schiebetür zu den Räumen der Daimyo stand weit offen. Von drinnen kam Geschrei. Mit zum Schlag erhobenem Hammer stürmte Barako hinein. Die Wachen, die draußen postiert gewesen waren, versuchten gemeinsam mit denen, die Haru bewacht hatten, die Tür aufzubrechen. Etwas hatte sich in der schweren Schiebetür verklemmt. Akemi kniete vor ihnen und schrie ihnen mit vor Angst heiserer Stimme zu, sich zu beeilen. Die Schläge und das Splittern kamen aus dem Inneren des Schreins, genau wie Harus Hilfeschreie.

Barako warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Das Holz knackte, aber die Tür gab kaum einen Zentimeter nach. Die Wachen traten zurück, um ihr mehr Raum zu geben. Sie war als Einzige mit einem Hammer bewaffnet. Wieder und wieder schwang sie ihn und zertrümmerte das lackierte Holz. Nach einigen Treffern stellte sie fest, dass der obere Teil der Tür offenbar leichter zu durchbrechen war, als würde etwas sehr Schweres den unteren Teil blockieren.

Das Krachen hinter der Tür verstummte. Das Unwetter heulte im Inneren des Schreins. Dann schrie auch Haru auf. Vom Mut der Verzweifelten war in seiner Stimme nichts zu hören. Schließlich war er ruhig und nur noch der Sturm war hinter der Tür zu hören.

Barako schlug auf die Tür ein, bis das Holz nachgab. Als sie es einmal geschafft hatte, wurde das Loch schnell größer und war schließlich groß genug, dass sie hindurchklettern konnte. Sie verstaute den Hammer wieder auf dem Rücken, griff nach der unteren Kante des Lochs und zog sich hindurch.

Der Schrein war ein quadratischer Raum von etwa zehn Metern Kantenlänge. Haru hatte sich in einer Ecke zusammengekauert. Der Schrein war total zerstört. Altar und Idole waren von herabfallenden Holzbalken zerschmettert worden. In der Burgmauer war ein fast drei Meter breites Loch, das bis zur Decke des Raums reichte. Ein Brocken aus Mörtel und Holz war gegen den unteren Teil der Zugangstür des Schreins gefallen, hatte sie in ihrem Rahmen verkeilt und hielt sie geschlossen. Alle Heiligkeit war aus dem Schrein gewichen. Er war nur noch ein Trümmerhaufen.

Mit schreckensbleichem Gesicht starrte Haru auf das Loch in der Wand und das, was sich dort im Wind drehte.

Die Leiche von Hiruma Mioko baumelte dort. Eine Hand war von langen Holzsplittern aufgespießt und in den oberen Rand des Lochs geklemmt worden. Barako hatte Schwierigkeiten, Dorenis Tochter zu erkennen. Ihre Haut war runzelig und ihr Körper hing so schlaff herab, dass es aussah, als würde er schmelzen. Einige lange, schreckliche Sekunden lang starrte Barako sie nur verständnislos an. Alles verschwamm vor ihren Augen, als wäre sie wieder in der Stadt der Hungrigen Nacht mit ihrer Architektur, die sich dem Blick entzog.

Und dann begriff sie. Sie sah, was der Oni Mioko angetan hatte. Er hatte sie gehäutet, so wie den Kopf ihres Bruders oder die zwei Wachen, aber mit einem Unterschied. Ihr hatte er die Haut ab- und dann wieder aufgezogen.

Verkehrtherum.

Das Haar an Miokos Hinterkopf ragte aus den leeren Augenhöhlen ihres Gesichts.

Herr Hida, wach über uns. Herr Hida, verleih mir Kraft. Herr Hida, verlass uns nicht!

Barako liefen Schauer über den Rücken. Ein eisiges Loch öffnete sich in ihrer Brust, als hätte der Anblick alle Emotionen aus ihr vertrieben.

Sie sah Haru an und hielt sich vorerst von ihm fern. Er war von Staub und Splittern bedeckt und zitterte im kalten Wind, der hereinwehte. Allerdings schien er unverletzt. Offenbar spürte er ihren Blick, denn er riss den seinen von der Leiche los und sah sie an. In seinem Gesicht lag ein Flehen um Hilfe, um Trost, um Vergebung. Um irgendetwas.

Aber sie hatte ihm nichts zu geben. Nicht in diesem Augenblick. Und vielleicht auch nie. Sie wusste nicht einmal, ob sie ihm den Schmerz, den sie sah, abkaufen konnte.

Barako nahm den Hammer von ihrem Rücken. Wachsam, stets bereit, ihm den Schädel einzuschlagen, wandte sie sich von Haru ab und näherte sich dem Loch in der Wand. Sie betrachtete die zersplitterten Kanten und sah, wo Holz und Mörtel mit mächtigen Hieben eingeschlagen worden waren.

Und sie sah, wo die Mauer nach außen eingeschlagen war.