Kapitel Fünfundzwanzig

Barako ging zurück ins Verlies und schickte die Wachen fort. »Haru ist unschuldig. Es ist bewiesen. Leutnant Doreni wird es Euch erklären.«

Sie wartete, bis sie gegangen und sie allein waren, dann ging sie zur Zelle, die Schlüssel in der Hand.

Doreni hatte angeboten, Haru freizulassen. »Er ist nur dort, weil ich darauf bestanden habe.«

Sie hatte abgelehnt. »Ihr und er werdet Euren Frieden miteinander machen müssen. Wie Ihr das tut, ist nicht meine Angelegenheit. Aber auch ich habe ihm Dinge zu sagen. Und sie haben mit Frieden nichts zu tun.«

Ohne ein weiteres Wort hatte Doreni ihr die Schlüssel ausgehändigt.

Jetzt schloss sie die Zellentür auf und warf sie so schwungvoll auf, dass sie gegen die Wand knallte. Haru zuckte zusammen. Er saß noch genauso da wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, als hätte er sich überhaupt nicht bewegt. Aus einem Abwehrreflex heraus hob er einen Arm und ließ ihn dann langsam wieder sinken, als er sah, wer da in der Tür seines Gefängnisses stand.

»Eure Unschuld wurde bewiesen«, sagte Barako kalt.

Haru erhob sich und die ersten Regungen kehrten in seine Gesichtszüge zurück. Es war, als ob seine Hoffnungen den Wetterzustand um die Burg der Morgenröte herum widerspiegelten. Der Gedanke gefiel Barako nicht.

»Doreni glaubt nicht mehr, dass ich der Oni bin?«, fragte Haru.

»Er weiß, dass Ihr es nicht seid. Wir alle wissen es.«

Von neuer Hoffnung erfüllt hellte sich seine Miene weiter auf. Die Art, wie er sie ansah, ließ sie mit den Zähnen knirschen. Er kam auf die Tür zu und blieb dann stehen, da sie sich nicht von der Stelle bewegte.

»Stimmt etwas nicht?«, wollte er wissen.

»Seid Ihr gar nicht neugierig, woher wir wissen, dass Ihr seid, wer Ihr zu sein behauptet?«

»Doch! Ich hatte angenommen, Ihr würdet es mir sagen. Ist bekannt, wer der Oni ist?«

»Der Oni ist fort. Es war Ochiba.« Sie erhob nicht die Stimme und sprach, wie sie fand, mit bewundernswerter Ruhe.

Haru trat zurück, als hätte sie den Hammer zum Schlag erhoben. »Ochiba … Ich verstehe nicht.«

Ich verstehe nicht. Vor Ärger zuckte ihr Gesicht. Schwache Worte von einem schwachen Menschen. Worte, hinter denen man sich versteckte. Wenn er nicht verstand, dann konnte er seine Schuld auch nicht fühlen. So ging es nicht. Ich werde Euch diesen Schild wegziehen. Ihr werdet Euch nicht in diese bequeme Unwissenheit zurückziehen. Nicht mehr. »Sie ist nie aus dem Turm in der Stadt der Hungrigen Nacht zurückgekehrt.« Bewusst nutzte Barako kurze, einfache Sätze. Sie wollte ihn dazu bringen, es zu begreifen. Diesen einen Ausdruck ihrer Wut gestattete sie sich. Es würde ihr nicht viel Befriedigung bereiten. Aber es wäre zumindest ein wenig Gerechtigkeit. Und sie selbst konnte sich das Ausmaß des Opfers, das Ochiba erbracht hatte, noch einmal vor Augen führen. »Sie ist hineingegangen, um Euch zu retten. Der Oni hat sie getötet und ihre Gestalt angenommen. Dann hat er Euch aus dem Turm gebracht.«

Haru erschauderte. »Das ist furchtbar.«

»Ja, das ist es. Sehr furchtbar. Der Oni hat uns alle getäuscht. Auch mich. Auf dem Heimweg dachte ich, dass ich darum kämpfe, das Leben der Person zu retten, die ich um alles in der Welt liebe. Stattdessen war es bereits zu spät.«

»Könnte Ochiba noch am Leben sein?«

»Nein.« Sie dachte an die Gräuel, die der Oni am Schluss Junji angetan hatte, was er ihm genommen hatte, um seine Gestalt wiederherzustellen. »Ochiba ist tot. Sie ist gestorben, weil der Oni Euch als Köder benutzt hat. Versteht Ihr? Dafür seid Ihr zu gebrauchen. Als Köder. Mit dem, was Ihr getan habt, habt Ihr dem Oni geholfen. Ochiba ist gestorben, weil Ihr ein Narr seid, und ihre Seele wird vom Jikogu verschlungen. Drücke ich mich klar genug aus? Begreift Ihr, was ich Euch sage?«

Haru war der Sohn der Daimyo. Barako sprach mit dem Sohn der Daimyo bewusst auf höchst kränkende Weise. Es bereitete ihr keine Freude, sondern lediglich eine Art unglücklicher Befriedigung. Wenn das, was sie gerade sagte, Folgen haben würde, war ihr das egal. Es zählte nur, dass sie die Lektion abschloss, die sie begonnen hatte, bevor sie zu ihrem Aufeinandertreffen mit dem Oni aufgebrochen war. Haru musste wissen, was er getan hatte.

Falls sie ihn mit ihren Worten beleidigt hatte, zeigte er es nicht. Er verzog nur immer wieder das Gesicht und stolperte rückwärts, als wollte er freiwillig in der Zelle bleiben. Als glaubte er selbst nicht mehr an seine eigene Unschuld.

Gut.

»Ich verstehe«, sagte Haru.

»Und wisst Ihr noch, was ich gesagt habe?«

»Dass Ihr mir nie verzeihen werdet.«

»Und das werde ich nicht. Niemals. Ein Narr mit Blut an den Händen ist ebenso verachtenswert wie ein Mörder. Ihr seid aus dieser Zelle befreit. Aber Eure Strafe fängt gerade erst an.«

»Verstanden«, flüsterte er.

Barako schüttelte Kopf. Ihn nur anzusehen widerte sie an. »Ochiba ist für dich gestorben«, zischte sie mit all dem Hass, den dieser Verlust in ihr hervorrief. »Damit ist ihr Opfer wertlos.« Haru zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. »Mit diesem Gedanken muss ich jetzt leben. Das wird mir immer durch den Kopf gehen, wenn ich dein wertloses Gesicht sehe.«

Das reichte. Sie wäre nie in der Lage, ihre gesamte Wut auszudrücken. Es brachte nichts, es weiter zu versuchen.

Barako ging wieder auf den Korridor vor den Gefängniszellen und machte Haru Platz. »Geht.«

»Barako«, begann er, »wenn ich doch nur …«

»Geht!«

Er hastete aus der Zelle, wandte den Blick von ihr ab und rannte beinahe den Gang entlang. Sie sah ihn an, wie sie eine Made ansehen würde.

Eine Weile blieb sie noch im dämmrigen Verlies, dann ging sie langsam zurück ins Obergeschoss und in ihr Gemach. Ein schwerer Stein lastete auf ihrer Brust. Es war derselbe, der auch Doreni in die Knie gezwungen hatte. Mit jedem Schritt wurde er größer. Seine Kälte und seine schmerzhaften Kanten erfüllten ihr ganzes Bewusstsein. Sie ging an Leuten vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Leute, die Dinge zu ihr sagten. Die versuchten, ihr zu danken. Sie ignorierte sie. Das Leben kehrte zurück auf die Burg der Morgenröte, das Leben und eine gewisse Normalität, und sie verabscheute es. Es gab sogar Ausdrücke von Freude. Wie war das überhaupt möglich? Wie konnte die Welt einfach weitergehen, wenn sie diesen riesigen, kalten Stein in ihrem Herzen trug, diesen schrecklichen, kalten Stein, diesen schweren, drückenden und kalten, kalten, kalten Stein? Das Leben, die Dankbarkeit, die Freude, nichts davon war real. Nicht wirklich. Es war alles nur eine dünne Fassade. Mit ihr hatte das nichts zu tun. Es hatte nichts mit der Wahrheit zu tun, denn es gab keinen Platz mehr für Freude in dieser Welt. Da war nur noch Platz für diesen Stein.

Als Barako ihr Gemach endlich erreichte, war der Stein so massiv, dass sie kaum noch laufen konnte. Auf der Schlafmatte sank sie auf die Knie. Sie fiel in sich zusammen, die Augen fest zugekniffen, den Mund geöffnet, und jetzt, hier, war es Zeit für den Stein, herauszukommen.

Zuerst erklang ein leises Stöhnen, dann ein Rasseln, während sie wieder einatmete, und noch einmal das Stöhnen, lauter diesmal, weil der Stein in ihrer Brust sich zu bewegen begann, seine Freiheit verlangte. Er zwang sie, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, denn wenn sie das nicht tat, würde sie sie umbringen. Das Stöhnen wurde zu einem Grollen, einem Knurren voller Hass auf eine Welt, die ihr Ochiba aus den dümmsten und ungerechtesten und nutzlosesten Gründen genommen hatte, die man sich denken konnte. Aber Barakos größter Hass galt nicht der Welt, nicht einmal Haru.

Er galt ihr selbst. Denn alles, was der Oni gesagt hatte, war wahr gewesen. Seine Worte hatten sie getroffen und ihr Herz blutete, aber sie hatte sich selbst die Wunden nicht eingestanden. Sie hatte sich von Ochibas Gedenken abgewandt, soweit es ihr möglich gewesen war, sonst hätte sie nicht kämpfen können. Auch für diesen Verrat hasste sie sich. Aber es war noch der geringste von ihnen. Er verblasste vor Fragen wie: Warum habe ich die Tarnung nicht durchschaut? Wie habe ich einen Oni für Ochiba halten können? Und, am schmerzlichsten von allen: Warum habe ich Ochiba nie gesagt, wie ich empfinde? Weil sie das Versprechen respektierte, das Ochiba ihrer Familie gemacht hatte. Ein Versprechen gegenüber Leuten, die über den Verlust ihrer sozialen Stellung enttäuscht gewesen waren. Und wo hatten diese Verpflichtungen Ochiba und sie hingeführt? Wegen ihres Pflichtgefühls und Respekts und des erdrückenden Gewichts ihrer Integrität blieben ihr jetzt nur noch Schmerz und Verlust.

Der nächste Atemzug würde groß werden, denn der Stein wollte nun ganz herauskommen. Und das tat er auch. Er zerriss sie innerlich, zerschmetterte ihr Herz zu Staub, riss ihr die Kehle wund. Und sie heulte auf, verlieh all ihrem Kummer eine Stimme, heulte, als wollte sie die Wände niederreißen, den Himmel zum Einsturz bringen.

Sie heulte, bis ihr die Stimme versagte. Dann rollte sie sich zusammen, enger und immer enger. Ihre Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Fingernägel blutige Wunden hinterließen, ihre Arme hielten sie so eng umschlungen, dass sie ihre Rüstung zerschmettern und ihr den Brustkorb brechen müssten, und dann noch fester, fester und fester, bis sie schließlich, nachdem sie sich tief in die Dunkelheit hinter ihren Augenlidern zurückgezogen hatte, zu Stein geworden war.

Doch dann.

Dann. In der Dunkelheit, hinter den Wänden aus Stein, in der eisernen Zelle ihrer Trauer vernahm sie eine Antwort auf ihren Schrei.

Barako.

Die Stimme sprach ohne Worte. Es war mehr als eine Stimme. Sie überbrückte eine weite Strecke, überbrückte den Tod. Es war mehr eine Berührung als eine Stimme, aber sie nahm sie als Stimme wahr, weil sie ihr so absolut vertraut war.

»Ochiba«, flüsterte Barako.

Die Stimme hatte auf ihren Schrei geantwortet, weil der Oni nicht nur die Wahrheit gesagt hatte, er hatte eine entscheidende, intime Wahrheit ausgesprochen. Er hatte das Band, das die beiden Frauen miteinander verband, genutzt, um Barakos Seele anzugreifen. Er hatte etwas genutzt, was er nicht gänzlich erfassen konnte.

Denn das Band war nicht gerissen. Es bestand noch. Es überdauerte den Tod. Barako spürte Ochiba, spürte die Verbindung. Sie durchdrang die Nacht, den Fels und sie hörte sie. Und sie hörte den Hilfeschrei.

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Haru hatte den Kimono gewechselt, sich gewaschen und sein Katana angelegt. Er machte sich Sorgen, dass sein Versuch, angemessen aufzutreten, ihm als Arroganz ausgelegt werden würde. Als der reduzierte, verwundete Rat tagte, wusste er nicht, wo er stehen sollte, wohin er sehen sollte, ob er sprechen sollte oder ob er dort überhaupt etwas zu suchen hatte.

Nein, das stimmte nicht. Es war richtig, dass er hier war. Auch wenn sein Instinkt ihm riet, sich vor Scham zu verkriechen, musste er dem widerstehen. Das Einzige, was Barako ihm nicht vorgeworfen hatte, war Feigheit. Es gab Gesichter, denen er sich stellen musste, nicht zuletzt Barakos. Dem Rat fernzubleiben wäre dem Versuch gleichgekommen, sich seiner Strafe zu entziehen. Möglicherweise war allen außer ihm selbst auch egal, was er tat. Nun gut. Seinen Selbstrespekt hatte er ohnehin so gut wie verloren. Der wenige Respekt, den er einst gehabt hatte, war ihm in der Stadt der Hungrigen Nacht abhandengekommen. Möglicherweise war ihm nichts weiter geblieben als die Fähigkeit, die Konsequenzen seines Tuns zu tragen. In dem Fall würde er sich daran festhalten.

Nicht nur die Zahl der Ratsmitglieder war geschrumpft, seit er zum letzten Mal an einer Sitzung teilgenommen hatte. Ochiba war fort. Junji war fort. Akemi saß in ihrem Sessel, als koste es sie enorme Anstrengung, nicht zusammenzubrechen. Sie war erschreckend gealtert. Dünner sah sie auch aus, die Knochen zeichneten sich unter der Haut ab. Sie wirkte dem Tode näher, als Haru je für möglich gehalten hätte.

Zähl sie ebenfalls zu deinen Opfern.

Und Doreni ebenfalls. Körperlich war er immer noch kraftvoll, doch gleichzeitig schien er leer, wie ausgehöhlt. Sein Gesicht war fahl und er sah die anderen Ratsmitglieder nicht mehr mit diesem einschüchternden, berechnenden Blick an, den Haru schon für Dorenis natürliches Auftreten gehalten hatte. Sein Blick war leer, durch den Schmerz abgestumpft.

Nur Barako wirkte so stark wie immer, doch ihr Auftreten war abweisend. Sie trug die volle Rüstung und wenn sie nicht gerade in Richtung eines Kohlebeckens oder einer Laterne blickte, war ihr Gesicht unter dem massiven, gehörnten Helm verborgen. Sie sah aus, als bestehe sie nur aus Rüstung, ein laufender Haufen Eisen. Auch zuvor war sie schon einschüchternd gewesen mit ihren Fähigkeiten und ihrer Kraft, eine Gestalt, der er nachgeeifert hatte.

Und die ich geliebt habe. Der Gedanke flackerte kurz auf, dann erlosch er, von Scham ausradiert.

Jetzt war Barako Furcht einflößend. Sie verkörperte die Abrechnung, unnachgiebig und gnadenlos. Ihre dunkle, lauernde Gestalt war so einschüchternd, dass man sie nicht ansehen konnte, aber zu mächtig, um sie zu ignorieren.

Auch wenn Haru nicht sehen konnte, wie Barakos Blick auf ihm ruhte, fühlte er es. Er fühlte ihren Ärger, fühlte, wie sie ihn verurteilte.

Bevor er es verhindern konnte, fragte Haru sich, wie viel grimmiger Barakos Wut wohl ausfiele, wenn sie die ganze Wahrheit kennen würde. Dann überlegte er, ob sie das nicht tat, und seine Stirn glühte vor Schuldgefühlen. Seine besessene Suche nach Ruhm, für die sie ihn völlig zu Recht verachtete, war nur seinem Wunsch entsprungen, sich ihrer würdig zu erweisen. Ochiba war gestorben, als sie versucht hatte, ihn zu retten, das stimmte. Aber Barako hatte Ochiba verloren, weil Haru sich eingebildet hatte, er könnte Barako für sich gewinnen.

Als er so darüber nachdachte, wuchs Harus Selbstekel so sehr, dass er sich wünschte, wieder in der Zelle zu sein.

Wenn er sich doch nur erinnern könnte, was im Turm geschehen war. Von dem Moment an, als er die Schwelle des Turms überquert hatte, bis zu dem Augenblick, als er hinausgestakst war, waren seine Erinnerungen wie ausgelöscht. Barako hatte recht. Das Einzige, was er erreicht hatte, war, als Köder zu dienen.

»Leutnant Barako«, sagte Akemi, »die Samurai der Burg der Morgenröte schulden Euch mehr, als wir je zurückzahlen können. Ich persönlich stehe sogar noch mehr in Eurer Schuld.«

»Ich habe nur meine Pflicht getan.« Barakos Ton ging haarscharf an einer Unverschämtheit vorbei.

Akemi bemerkte offenbar, dass sie das besser nicht weiterverfolgte. »Also, wo stehen wir jetzt? Das Unwetter ist vorbei, wir sehen die Sonne wieder und unsere Außenmauer ist seitdem nicht noch einmal angegriffen worden. Für mich sieht alles nach einem Sieg aus.«

»Ich habe den Oni verletzt«, erklärte Barako, »und zum Rückzug gezwungen. Mehr nicht. Ich habe ihn nicht vernichtet. Unser Kampf ist noch nicht vorbei.«

»Ihr glaubt, er könnte zurückkehren?«

»Ja, sobald er sich erholt und wiederhergestellt hat.«

»Wir sollten einen Außenposten am Eingang des Höhlensystems errichten, das zur Stadt der Hungrigen Nacht führt«, überlegte Doreni. »Und wir sollten darüber nachdenken, den Eingang zum Einsturz zu bringen.«

»An den Toren zur Stadt der Hungrigen Nacht sollte es immer einen Wachposten geben«, stimmte Akemi ihm zu.

»Ja, langfristig«, meinte Barako. »Zuerst müssen wir diesen Krieg gewinnen, sonst stehen wir genauso da wie vor dem ersten Angriff der Schneeskelette. Der Oni kennt die Burg, unsere Schwächen und er kennt uns. Er wird zurückkehren. Und mit wessen Gesicht dieses Mal? Mit wessen Gesichtern? Wie soll man sich gegen das Misstrauen wappnen? Der Oni hat es letztes Mal fast geschafft, uns dazu zu bringen, uns gegenseitig zu seinem Vergnügen zu töten. Diese Freude wird er sich sicher auch beim nächsten Mal nicht entgehen lassen wollen.«

»Diesmal sind wir vorgewarnt«, sagte Haru und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan. Was für eine dumme Bemerkung.

»Das waren wir letztes Mal auch.« Barako sprach wieder wie in der Zelle, als spräche sie mit einem sehr dummen Kind. »Wir wussten, dass ein Oni in der Burg war. Wir hatten den Verdacht, dass er sich als einer von uns verkleidet hat. Wir dachten, Ihr wärt es.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich weiß. Vergesst, was ich gesagt habe. Ihr habt recht. Der Oni muss zurück ins Jigoku geschickt werden.« Dummkopf. Er schwor sich, bei dieser Ratssitzung nichts mehr zu sagen.

»Unsere Verluste waren unglaublich hoch«, wandte Akemi ein. »Da schlagt ihr doch nicht etwa eine weitere Expedition zur Stadt der Hungrigen Nacht vor, Leutnant Barako?«

»Wir haben keine Wahl.« Barako schien seiner Mutter ihr Zögern nicht ganz abzunehmen.

»Damit würden wir die Burg angreifbar machen«, beharrte die Daimyo.

»Angreifbar ist sie ohnehin. Wir haben keine Wahl«, wiederholte Barako.

»Nein, haben wir nicht«, sagte Akemi sehr leise.

Und das wusstest du ganz genau, dachte Haru. Dass seine Mutter so widerwillig war, lag nicht an Vernunftgründen. Sie war einfach ausgelaugt. Sie hatte sich dem Wunschdenken hingegeben, dass dieser Albtraum wirklich irgendwie zu Ende sein könnte.

»Noch einmal eine ganze Kompanie?«, fragte Akemi.

»Ja.«

»Und wenn sie fällt, was wird dann aus der Burg der Morgenröte?«

»Sie wird nicht fallen. Der Großteil der Kompanie wird, wie beim letzten Mal, das Stadttor halten. Ich nehme nur einen Trupp mit in die Stadt. Den Weg kenne ich.«

Akemi sah nicht beruhigt aus. »Ihr kennt den Weg zum Turm, aber Ihr wisst nicht, was sich darin befindet. Das ist die Festung des Oni.«

»Richtig«, bestätigte Barako. »An der Stelle gehen wir das größte Risiko ein. Und das nötigste.«

»Und wenn der Trupp nicht zurückkehrt?«

»Dann müssen wir die anderen Burgen rufen und um Hilfe bitten, um Verstärkung.«

»Was sollen wir ihnen sagen?«, fragte Akemi.

»Dass sie nicht dieselben Fehler machen sollen, die wir gemacht haben.«

»Verstärkung zu rufen kostet Zeit.«

»Und genau deswegen müssen wir jetzt handeln«, drängte Barako, »und zu den Ahnen um den Sieg beten.«

»Es könnte eine andere Möglichkeit geben«, sagte Doreni leise. »Selbst wenn wir den Oni besiegen, bleibt die Stadt der Hungrigen Nacht immer eine Bedrohung.«

»Sicher.« Barako klang verwirrt.

»Warum versiegeln wir sie dann nicht jetzt sofort?«

»Habt Ihr nicht zugehört? Der Oni wird zurückkehren.«

»Doch, ich habe zugehört. Ja, er wird zurückkehren. Zumindest wird er das versuchen. Und wenn seine körperliche Gestalt zerstört ist, dann wird früher oder später etwas anderes diesem verfluchten Ort entspringen. Ich denke, wir sollten die Stadt der Hungrigen Nacht genauso behandeln wie die Schattenlande. Dort fallen wir auch nicht ein und hoffen, all das Böse, das sie enthalten, besiegen zu können. Wir haben eine Mauer gebaut, um sie fernzuhalten. Das sollten wir mit der Stadt auch tun.«

»Vielleicht ist das besser, als eine gesamte Kompanie oder mehr zu riskieren«, stimmte Akemi ihm zu.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens sagte Barako: »Ich glaube, wir dürfen diese aktive Bedrohung nicht ignorieren, und der Oni ist eine aktive Bedrohung. Derzeit halte ich es nicht für ausreichend, die Höhle zum Einsturz zu bringen und einen Außenposten zu errichten. Aber wenn Ihr darauf besteht, Herrin Akemi, dann lasst mich wenigstens einen einzelnen Trupp zur Stadt führen, damit ich versuchen kann, den Oni zu vernichten.«

»Und wenn ich Nein sage, setzt Ihr Euch dann darüber hinweg?«

»Ich würde allein gehen«, erklärte Barako.

Alle starrten sie an. Ein derartiger Leichtsinn passte überhaupt nicht zu ihr.

»Warum?«, fragte Akemi entgeistert.

»Weil Ochibas Seele dort gequält wird und ich lasse sie nicht im Stich.«

»Woher wisst Ihr das?«, hakte Doreni nach.

»Sie hat mir eine Botschaft gesandt.«

»Habt Ihr darüber nachgedacht, dass auch das das Werk des Oni sein könnte?«

»Ja. Ich glaube es nicht, aber ja, habe ich. Und wenn der Oni mich dort hinlocken will, dann soll er das tun. Soll er mich zu sich holen. Wenn er denkt, er ist noch nicht fertig mit mir, dann wird er herausfinden, dass ich mit ihm auch lange noch nicht fertig bin.«

Langsam breitete sich ein Lächeln auf Dorenis Gesicht aus. Es war ein trauriges Lächeln, aber echt und begierig. »Ja. Oh ja. Ich werde mit Euch gehen. Der Tod meiner Frau und meiner Kinder soll gerächt werden.« Er zuckte mit den Schultern, als ihm wohl klar wurde, dass dieser Beschluss wenig mit dem politischen Kalkül gemein hatte, das er sonst immer gezeigt hatte. »Ich habe sonst kein Vermächtnis«, sagte er leise.

»Auch ich muss mitgehen«, entschied Haru.

Akemi erschauerte. Barako drehte sich mit einem Ruck zu ihm um. Er konnte jetzt die Augen unter ihrem Helm sehen. Ihr Hass schien ihn zu verbrennen. Ein solcher Tod wäre ihm willkommen gewesen. Aber er gab nicht nach. »Bitte«, sagte er. »Ich habe kein Recht, Euch darum zu bitten, aber ich bitte trotzdem. Ich muss mitgehen. Ich muss helfen.«

»Ihr?«, meinte Barako. »Helfen?«

»Ich muss versuchen, meine Fehler wiedergutzumachen.«

»Das ist nicht möglich.«

Da hatte sie recht, aber versuchen musste er es trotzdem. Also probierte er es mit einem anderen Ansatz. »Wenn es nicht der Oni ist, der Euch gerufen hat, dann wird er darum kämpfen, Euch fernzuhalten.«

»Damit rechne ich ebenfalls.«

»Mich hatte er schon einmal in seinen Fängen. Glaubt Ihr nicht, es könnte dem Oni gefallen, mich zurückzubekommen?«

In Barakos finstere Miene mischte sich ein berechnender Ausdruck. »Sprecht weiter.«

»Der Oni hat mich als Köder benutzt. Jetzt solltet Ihr dasselbe tun.«

»Haru«, flehte Akemi leise.

»Ich führe ihn in Versuchung. Glaubt Ihr nicht, dem Oni würde der Gedanke an den Sieg gefallen, den er durch meine Vernichtung erringt? Nehmt mich mit und meine Anwesenheit öffnet Euch den Zugang zum Turm.«

Akemi war in ihrem Sessel zusammengesunken und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Alles, was sie befürchtet hatte und dessen sie nur knapp entgangen war, drohte ihr nun erneut. Es tat Haru leid, seiner Mutter so wehzutun. Aber er wusste auch, dass seine Entscheidung endgültig war. Es war sein Schicksal, so wie Barakos ihr unumstößliches Vorhaben war, Ochibas Seele zu retten.

Doreni legte ihm eine Hand auf die Schulter. »In Eurem Streben nach Verdammnis zeigt Ihr eine bemerkenswerte Symmetrie. Ihr hättet Dichter werden sollen.«

Mein Schicksal ist noch nicht entschieden. Und ich bin auch nicht derjenige, der die Entscheidung trifft.

Schweigend wartete Haru darauf, dass Barako ihr Urteil fällte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern.

Schließlich sagte sie nur: »Wir brechen im Morgengrauen auf.«