KAPITEL 5
Wir verloren das Spiel mit einem Tor Differenz. Ein Tor. Das bedeutete, dass es mehrere Wochen lang schwer sein würde, eine einzige Person in ganz Tremonton zu finden, die nicht sauer auf mich war. Coach Hershey, die Mädchen aus der Mannschaft, ihre Familien, Freundinnen, Freunde, Cousinen, Hundesitter – es war, als hätte ich sie alle persönlich sitzen gelassen. In einem Ort wie Tremonton lief es darauf hinaus, dass ich mein Wechselgeld an der Tankstelle in Cents zurückbekam und mir jemand im Fastfood-Restaurant auf den Hamburger spuckte. Zumindest war ich mir dessen relativ sicher.
Das wahre Problem war, dass die Jungs vorher schon das Football-Spiel verloren hatten, daher war die Stimmung sowieso schon aufgeheizt. Ich kam als Sündenbock gerade gelegen. Dabei machte es nichts, dass jeder Durchschnittsidiot Hockey für vollkommen nebensächlich hielt – in ihren Augen waren wir nur ein paar Mädels, die in kurzen Röckchen auf dem Spielfeld rumliefen und im Prinzip nichts weiter als Cheerleader mit Stock und Mundschutz waren. Nein, plötzlich war mein »schockierender Mangel an Einsatz für die Primrose Highschool« schuld an der ganzen Homecoming-Blamage.
Genau das hatte Coach Hershey gesagt. Schockierender Mangel an Einsatz.
Sie hatte allen Grund, stinksauer zu sein, und das war sie auch. Gleich am Freitagmorgen hatte sie mich davon unterrichtet, dass sie die Spielführung überdacht habe und dass Nadia Pinsky ab sofort bis zum Ende der Saison das Team leiten werde. Ausgerechnet Nadia Pinsky.
Savannah und Sebastian waren auch sauer. Nicht wegen des Spiels, aber wegen des Homecoming-Balls. Als ich Nick angerufen und alles erklärt hatte, hatte er eher erleichtert geklungen, aber Savannah war genervt, wahrscheinlich, weil ich verpasst hatte, wie sie zur Homecoming-Prinzessin gekürt worden war. Und Sebastian war sauer, weil Savannah auf mich sauer war.
Wer noch? Ach ja, Grandma. Meiner Woche Hausarrest folgte eine ganze Zeit, in der sie mich spüren ließ, wie sehr sie mein Verhalten verurteilte. Sie sprach einfach nicht mit mir.
Dad war die einzige Ausnahme. Er war nicht wütend auf mich, aber nur, weil er nicht wusste, was ich angestellt hatte und weil er zu krank war, als dass er die Spannung bemerkt hätte, die in der Luft lag. Er hatte sich auf dem Rückflug eine Erkältung eingefangen, und die legten ihn gewöhnlich für ein paar Wochen flach. Es hatte irgendwas mit seinen ungewöhnlich kleinen Nebenhöhlen zu tun, wie er behauptete.
Drei Wochen nach dem Homecoming-Ball sprachen Charly und ich immer noch nicht miteinander. Zuerst war ich einfach zu wütend gewesen, um einen einigermaßen höflichen Ton anschlagen zu können, sodass es schlauer war, gar nicht miteinander zu sprechen, wenn Dad dabei war. Doch irgendwann verhärtete sich die Stille zwischen uns und wurde undurchdringbar. Die paar Worte, die wir wechselten, hatten keinerlei Bedeutung.
»Gib mir mal die Milch«, murmelte ich eines Abends, während wir aufgewärmten Eintopf aßen. Wir waren allein zu Hause. Grandma war bei ihrem Bibelkreis, und Dad besuchte einen Vortrag über Zitrusfrüchte im Zentrum für Gartenbau in Tremonton. (Er war fest entschlossen, unserem Limettenbaum in diesem Jahr wenigstens eine Limette abzuringen.)
Sie sah nicht einmal auf.
»Ich hab gesagt, du sollst mir die verdammte Milch geben!«
»Wow, verdammt? Hör sich das mal einer an.« Sie schubste die Milchkanne ein paar Zentimeter zu mir herüber. »Amelia, die Rebellin.«
Ich stand auf, ging zu ihrem Ende des Tisches und riss die Kanne so schnell hoch, dass Milch auf ihre Zeitschrift schwappte, die aufgeblättert auf dem Tisch lag.
»Hör auf! Was soll das?« Sie nahm die Zeitschrift hoch, schüttelte sie hin und her und legte sie dann wieder auf den Tisch. »Hast du das echt gerade absichtlich gemacht?«
Schütte ihr die Milch über den Kopf.
Mein Herz raste. Sie hatte es verdient. Ich hatte die Nase voll von ihrem mürrischen und gekränkten Gehabe, nur weil sie nicht für das Musical vorsprechen durfte. Als hätte sie nicht selbst daran Schuld gehabt. Sie wischte die Milchtropfen mit dem Ärmel von der Seite und funkelte mich an.
Schütte ihr die Milch über den Kopf.
Sie hatte es mehr als nur verdient – sie hatte es nötig. Charly war in den letzten drei Wochen zu etwas zusammengeschrumpft, das überhaupt nicht wie sie war. Sie sah nicht einmal mehr wie sie selbst aus. Ihre Haare waren fettig und ungepflegt und sie hatte Pickel bekommen. Es schien, als war sie zu sehr damit beschäftigt, eingeschnappt zu sein, und hatte keine Zeit, sich um grundlegende Hygiene zu kümmern. Also bitte. Und an der Schule, wo sie zumindest ihre sozialen Kontakte hätte pflegen können, war sie Dean gegenüber reizbar und regelrecht gemein zu Liam und Asha, seit die Theaterproben begonnen hatten. Ich verstand einfach nicht, warum sie ihr trotzdem noch alle hinterherliefen. Ein ordentliches Milchbad würde sie vielleicht wieder zur Besinnung bringen oder sie zumindest dazu zwingen, eine Dusche zu nehmen und ihr Gesicht zu waschen.
Schütte ihr die Milch über den Kopf.
Obwohl mich meine innere Stimme geradezu anfeuerte, es zu tun, brachte ich es einfach nicht fertig. Außerdem hätte sie sich mit Sicherheit gerächt, denn der Streit zwischen uns hatte sich inzwischen derart festgefahren, dass wir einander längst hassten. Wir führten unseren Kleinkrieg nach festen Regeln. In der ersten Woche hatten wir uns noch wie verrückt miteinander gestritten – zwar hatten wir uns nie richtig geprügelt oder an den Haaren gezogen, aber ich hatte mir die Kehle wund geschrien und zweimal hatten wir einander hin und her geschubst. Außerdem waren Bücher und Schuhe durch die Gegend geflogen. Aber selbst das war jetzt vorbei. Wir schrien nicht mehr, schmissen auch nichts mehr durch die Gegend und gossen schon gar nicht Milch aufeinander.
Ich schenkte mir ein Glas Milch ein und stellte die Kanne dann außer Reichweite auf den Tisch. Sicherheitshalber.
Wenn sie sich bloß einkriegen würde, dann könnten wir wieder normal miteinander umgehen. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Ich war immer noch wütend, aber drei Wochen waren eine lange Zeit.
»Und, kommst du heute Abend vorbei?«, fragte Savannah.
Ich klemmte das Telefon gegen das andere Ohr und griff nach dem Abtropfsieb.
»Ich kann nicht. Heute Abend ist das Konzert mit dem Schulchor, schon vergessen?«
»Ach so, ja. Tut mir leid. Das hätte ich wahrscheinlich wissen müssen. Soll ich kommen?«
Ich überlegte eine Sekunde. Es wäre schön, wenn sie käme, aber sie klang nicht gerade, als ob sie Lust hatte. Außerdem kamen Dad und Grandma schon. »Nö. Ich singe ja kein Solo.«
»Zumindest nicht absichtlich.«
»Haha.« Sie hatte natürlich recht. Mein oberstes Ziel bestand darin, nicht gehört zu werden. Dr. Kinzer hatte mich die ganze Zeit ermahnt – Mit den anderen verschmelzen, Amelia, verschmelzen! –, aber was sie tatsächlich damit gemeint hatte, war: Tu einfach nur so, als ob du singst, Amelia, tu einfach nur so! Wahrscheinlich wäre sie furchtbar erleichtert, wenn ich nicht auftauchen würde.
»Wir werden euch vermissen«, sagte Savannah. »Kein Horrorfilm-Marathon ist komplett ohne die Mercer-Schwestern. Hey, kommt Charly trotzdem oder geht sie mit zum Konzert?«
Ich zwang mich dazu aufzulachen. Charly kam nicht zu meinem Konzert. Ihr Hausarrest war seit zwei Wochen vorüber, aber es hatte sich nichts geändert. Wir sprachen immer noch nicht miteinander, oder zumindest nicht freundlich.
Sechs Wochen. So lange hatte es nicht dauern sollen.
»Du weißt doch, wie sehr Charly Horrorfilme hasst«, erwiderte ich und schnappte mir einen Pfannenwender, um die braun werdenden Hamburger umzudrehen. »Wenn ich sie nicht mitschleife, kommt sie nicht.«
»Aber wer soll sonst aus vollem Hals kreischen und alle Brownies auffuttern?«
»Das wirst du wohl selbst übernehmen müssen.« Seit Savannah sich erfolgreich in ihr Ballkleid gezwängt hatte, hatte sie die Möhren gegen Schokolade ausgetauscht, die fast zu ihrem neuen Grundnahrungsmittel geworden war. Ich fand, sie sah genauso aus wie vorher, nur weniger orange. »Ich muss jetzt Schluss machen. Ich koche gerade das Abendessen, und Grandma kommt jeden Augenblick zurück.«
»Oh Gott.«
Savannah hatte vor Grandma Angst, seit wir elf waren. Meine Großmutter hatte sie damals einmal angeschrien, als sie bei uns übernachtet hatte und wir in der Küche ein Teddybär-Picknick veranstaltet hatten. Zu Grandmas Verteidigung muss man sagen, dass es drei Uhr morgens war und wir ein schreckliches Chaos angerichtet hatten, aber der Vorfall hatte die Beziehung zwischen Savannah und meiner Grandma unwiderruflich zerstört. Ich hatte die letzten sechs Jahre damit zugebracht, Savannah davon zu überzeugen, dass Grandma gar nicht so schlimm war, aber sie glaubte mir nicht.
»Bis dann«, sagte ich.
»Tschüss.«
Ich legte auf und nahm die Tomatensauce aus dem Kühlschrank.
Jemand klingelte an der Tür. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte den braunen UPS-Lieferwagen.
»Mach die Tür auf!«, brüllte ich.
Keine Antwort, bloß das Gelächter aus dem Fernsehen. Amerikas lustigste Amateurvideos, wieder mal. Charly konnte einfach nicht genug davon kriegen, obwohl jede einzelne Episode genau wie die nächste war. Mal ganz abgesehen davon, dass die Sendung vor allem von pubertierenden Jungs geliebt wurde. Also wirklich, wie oft konnte sie sich die gleichen Nahaufnahmen eines Hinterteils ansehen und es immer noch urkomisch finden?
»Mach die Tür auf!«, schrie ich noch lauter. »UPS ist hier. Die brauchen vielleicht eine Unterschrift.«
»Mach es selbst!«, rief sie zurück.
»Wie bitte?«
»Du bist näher dran.«
Ich warf den Kochlöffel in die Spüle, sodass Tomatensoße durch die Gegend spritzte, und stampfte zur Haustür. Ich funkelte den idiotischen Kurier in seiner idiotischen braunen Uniform an, gab meine Unterschrift für das Päckchen und marschierte dann zu Charly, die sich auf dem Sofa fläzte.
»Wie wär’s, wenn du mal ausnahmsweise deinen Hintern heben und mir helfen würdest? Ich koche gerade dein Abendessen.«
»Nicht mein Abendessen«, entgegnete sie und wühlte in der Barbecue-Chips-Tüte. Eine Handvoll orangefarbener Krümel kam zum Vorschein. »Was auch immer du kochst, es stinkt nach Kotze.«
»Das tut es nicht. Es gibt Hamburger.«
»Hamburger, in die du vorher gekotzt hast? Der Geruch allein reicht, dass mir schlecht wird«, antwortete sie und leckte sich die salzige Würze von den Fingern. Ihre Zunge hatte sich orange gefärbt.
»Dann iss es eben nicht. Geh wie jeden Abend auf dein Zimmer und lass mich mit den alten Leuten allein.«
»Vielen Dank für die Erlaubnis. Und du kannst zurück in die Küche gehen und dein Kotzessen kochen.«
Ihre Augen waren wieder auf den Bildschirm gerichtet.
»Nein, mir reicht’s jetzt. Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, Mom hätte sich für dich geschämt. Aber das ist jetzt sechs Wochen her. Komm endlich drüber hinweg!«
Sie verdrehte die Augen. Man hätte das Weiß aus zehn Meter Entfernung sehen können.
Ich atmete tief durch die Nase ein und versuchte, mich etwas zu beruhigen, ohne dabei auszusehen, als ob ich mich beruhigen müsste. Aber es machte keinen Unterschied. Sie starrte immer noch auf den Fernseher.
»So ist gut, Amelia. Atme tief durch. Vielleicht hilft es dir dabei, das Universum zu kontrollieren.«
»Warum benimmst du dich so?«, fragte ich.
»Weil ich nicht meine Sendung verpassen will, um für dich den Butler zu geben.«
»Du weißt genau, was ich meine.«
Ihr Gesicht blieb steinhart. Sie griff nach der Fernbedienung, richtete sie demonstrativ auf den Fernseher und erhöhte die Lautstärke um drei Balken.
Ohne lange nachzudenken, durchquerte ich das Wohnzimmer, riss ihr die Fernbedienung aus der Hand und warf sie zu Boden. Sie hüpfte über das Parkett und rutschte dann in genau dem Augenblick unter Dads Sessel, als der Rauchmelder aufheulte. Charly brüllte eine ganze Reihe von Kraftausdrücken, für die Grandma ihr garantiert den Mund mit Seife ausgewaschen hätte, während ich in die Küche sprintete und die Pfanne vom Herd zog. Aber es war zu spät. Das Essen war bereits halb verbrannt.
Ich schaffte es nicht, die Hamburger vor Grandmas Rückkehr wegzuwerfen, sodass wir sie essen mussten. Angebranntes, gummiartiges Fleisch in einer wässrigen Tomatensoße mit klebrigen Spaghetti.
Nur Dad blieb von dieser Mahlzeit und der furchtbaren Atmosphäre am Tisch verschont. Er hatte angerufen, weil jemand zur Kirche gekommen war und dringend reden wollte. Er sagte immer, dass das der schwierigste Teil seiner Arbeit sei: Jederzeit bereit sein zu müssen, um jemandem in einer Krise zur Seite zu stehen.
Das Konzert des Schulchors war ein Erfolg, zumindest für Dr. Kinzers Standard. Niemand vergaß die Texte oder verpasste den Einsatz und niemand (was bedeutete: ich) machte sich damit lächerlich, zu laut und schief zu singen.
Ich stand links hinten in der letzten Reihe auf einer Bank und hatte einen unverstellten Blick auf Will. Er saß in der zweiten Reihe und sah irgendwie idiotisch aus in seinem schwarzen Hemd mit blauer Krawatte und dem dämlichen Grinsen auf den Lippen. Ich hatte immer dafür gesorgt, dass er nicht so rumlief. Luciana hatte ein Solo bei einem der Lieder, und das wollte er ganz offensichtlich auf keinen Fall verpassen.
Außerdem sah ich Grandma. Der Stuhl neben ihr blieb leer, er war für Dad reserviert gewesen. Charly war natürlich nicht mitgekommen. Grandma lächelte mich an. Für einen Augenblick vergaß ich, wie sauer ich auf sie war, und lächelte zurück. Charly konnte ruhig das Abendessen verderben und mich weiter hassen, und Dad konnte sich verspäten, weil er unbedingt jemandes Seele retten musste, aber Grandma war immer für mich da.
An diesem Abend lag ich im Bett und starrte auf meinen Computerbildschirm. Ich war einfach zu müde, um aufzustehen und ihn auszustellen. Mein Bildschirmschoner war auf Diashow eingestellt und ich sah zu, wie die letzten beiden Jahre (seit ich meine eigene Digitalkamera bekommen hatte) an mir vorüberflimmerten. Ein Foto von Dad und Charly, die auf dem Santa Rosa Strand nach Muscheln suchten. Eins von Grandma, wie sie letztes Halloween Charlys Haare flocht. Charly war als Wikinger gegangen, komplett mit Zöpfen, Helm und Schwert.
Beim nächsten Foto musste ich ganz unvermittelt laut lachen. Das Bild war vom letzten Sommer, und Charly hielt einen Donut in der Hand und hatte Puderzucker auf dem ganzen Gesicht. Sie trug ein Hemdchen mit Spaghettiträgern und eine abgeschnittene Jeans, die ziemlich ausgefranst war. Sie stand neben ihrem Fahrrad und hielt den rechten Arm hoch, als wäre sie im Begriff, den Donut auf die Kamera zu werfen.
Das Bild hatte ich gemacht, bevor sie ihre Golfclubbräune bekommen und sich mit den Schwachköpfen in Baldwin angefreundet hatte. Damals hatten wir nichts Besseres zu tun gehabt, als rumzualbern und mit den Rädern zu Dunkin’ Donuts zu fahren. Nur Sekunden später hatte sie den Einfall gehabt, Donuts von Tremontons einziger Überführung zu werfen. Ich hatte ihr die Schachtel schnell aus der Hand gerissen und war davongeradelt, ehe sie uns beiden Ärger einhandeln konnte.
Ich erkannte dieses Mädchen nicht mehr.
Das nächste Foto war eine Nahaufnahme von Will und mir auf der Jugenddisco der Kirchengemeinde. Er hasste tanzen, ging aber trotzdem immer mit mir hin, weil er wusste, wie gern ich dort war. Er tanzte nur bei den langsamen Songs mit mir und flüsterte mir dann die ganze Zeit über schwachsinnige Witze ins Ohr. Ich liebte diese schwachsinnigen Witze. Ich stand auf und stellte den Bildschirm aus.
»Schläfst du?«
Ich blinzelte. Charlys Stimme war in meinen Traum gedrungen und hatte mich rausgerissen.
Der Schein des Mondes spendete gerade genug Licht, dass ich ihren Umriss ausmachen konnte, während sie mein Zimmer durchquerte.
»Ja.«
Sie krabbelte ungeschickt über mich hinweg und ließ sich zwischen mir und der Wand auf mein Bett fallen. Die Matratze wackelte wie ein Trampolin und die Springfedern quietschten. Ich war noch zu schläfrig und wunderte mich deshalb nicht, dass sie einfach so in mein Zimmer spaziert und in mein Bett gekrabbelt war und mit mir sprach, wie sie es sonst immer getan hatte.
»Was willst du?«, fragte ich. Ich klang unfreundlicher, als ich es gewollt hatte. Schließlich bedeutete das etwas, oder nicht? Dass sie zu mir gekommen war, um zu reden.
»Weiß nicht.«
Wir lagen einfach nur da, hörten unserem Atem zu und starrten auf die leuchtenden Sternsticker an der Decke. Sie hingen jetzt seit sieben Jahren dort. Wir hatten sie gemeinsam aufgeklebt, bevor Charly in das gegenüberliegende Zimmer umgezogen war. Für sie waren keine Sticker mehr übrig gewesen, weshalb jetzt alle über meinem Bett klebten.
Eine Minute war vergangen, vielleicht auch zwei, aber es kam mir eher wie zwanzig vor. »Ich muss dir was sagen«, begann sie endlich. »Aber du musst es raten, damit ich nur Ja oder Nein sagen muss.«
»Warum?«
»Darum.«
»Das ist keine Antwort.«
»Weil ich es nicht laut aussprechen will.«
»Aber wie soll ich es denn dann erraten?«
Sie hielt inne. Ich spürte, dass sie neben mir ihre Arme überkreuzte. »Mit mir stimmt was nicht.«
»Heißt das, du bist krank?«
»Ja. Nein.«
»Entscheide dich für eins von beiden.«
»Nicht offiziell.«
»Aber du glaubst, dass du eine Krankheit hast?«
»Schön wär’s.«
»Gut zu wissen, dass du immer noch einen Sinn fürs Dramatische hast.«
Ich musterte sie. Selbst in der Dunkelheit sah man, dass sie blass war, fast gräulich, und ihre Wangen waren so hohl, dass tiefe Schatten unter ihnen lagen. Sie sah hager aus. Vielleicht nahm sie Drogen. Liam und Asha rauchten Marihuana, und es hätte mich nicht weiter gewundert, wenn diese Idioten aus Baldwin Crystal Meth nähmen. Nur hatte Charly sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie traf sich mit niemandem mehr.
Es war meine Aufgabe, sie danach zu fragen. Das wusste ich. Sie hatte mich ja sogar darum gebeten, aber ich wollte es einfach nicht aussprechen, weil sie dann womöglich antworten würde.
»Charly, nimmst du Drogen?« Ich kniff die Augen fest zu.
»Nein.«
»Lügst du mich auch nicht an?«
»Nein.«
Danke, Gott. »Warum bist du dann so furchtbar blass?«
»Weil ich mich seit zwei Wochen jeden Tag übergeben habe.«
Bulimie. Das Wort explodierte wie eine Bombe in meinen Gedanken. Ich hatte es nicht bemerkt – wieso hatte ich nichts bemerkt? Sie sah nicht dünner aus und sie aß eine Menge Müll, aber das war nicht neu. Süßigkeiten, Plätzchen, Chips – sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie sich mit ungesunder Nahrung vollstopfte. Wie konnte ich verpasst haben, dass sie alles wieder erbrochen hatte?
Es ergab keinen Sinn. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die auf ihr Gewicht achteten. Wie zum Beispiel Savannah, die nur Salat ohne Dressing und Cola light bestellte und genau wusste, wie viele Kalorien bei dreißig Minuten Fitnesstraining verbrannt wurden. Charly war einfach von Natur aus dünn.
Ich war die schlechteste Schwester auf der ganzen Welt.
Mir fiel Thalia French ein. Sie war das Paradebeispiel an der Primrose Highschool, wenn es um Essstörungen ging. Thalia stand im Chor in der Reihe vor mir, sodass ich ihre knöchrigen Arme, die Flamingo-Beinchen und riesengroß wirkenden Augen sehen konnte, wenn sie sich zur Seite drehte. Ihr Kinn schien zu groß für ihr Gesicht, und die Haut hing ihr irgendwie lose um den Mund.
Ich musterte Charly erneut, die immer noch an die Decke starrte. Sie sah überhaupt nicht wie Thalia aus. Noch nicht. Ich wollte sie anschreien, sie an den Armen nehmen und ordentlich durchschütteln, aber ich riss mich zusammen. Sie war gekommen, damit ich ihr half. Außerdem konnte ich eine Essstörung wohl kaum einfach aus ihrem Körper schütteln.
»Warum tust du dir das an?«, fragte ich. »Du musst damit aufhören. Sofort.«
»Ich kann aber nicht einfach damit aufhören.«
»Das musst du aber. Dir jeden Tag den Finger in den Hals zu stecken ist verrückt und gefährlich. Sieh dir nur Thalia an. Sie sieht wie ein Skelett mit Haut aus. Leute sterben an Essstörungen, Charly!«
»Was? Ich stecke mir doch nicht den Finger in den Hals – das ist super ekelig!«
Ich hielt inne und dachte über den veränderten Tonfall nach. Sie hatte in Nullkommanichts von tragisch auf entrüstet umgestellt. »Ich weiß selbst, dass es ekelhaft ist. Du bist diejenige, die gesagt hat, dass sie jeden Tag kotzt.«
»Weil mir morgens schlecht ist.«
Die Sterne über mir, die sich in den letzten sieben Jahren nicht vom Fleck gerührt hatten, begannen plötzlich zu zittern und rutschten durch mein Blickfeld. Ich blinzelte. Alles war wieder an seinem Platz.
»Morgenübelkeit«, wiederholte sie. »Aber eigentlich nicht wirklich morgens.«
Am liebsten hätte ich ihr meine Hand vor den Mund gelegt, aber sie lag schwer und taub neben mir. Mein ganzer Körper war wie gelähmt.
»Ich habe es den ganzen Tag über«, erklärte sie. »Eigentlich immer, wenn ich mir nicht gerade etwas zu essen in den Rachen stopfe. Und es schmeckt mir noch nicht einmal. Bevor ich es esse, denke ich, dass ich es unbedingt haben will, aber dann, sobald ich es herunterschlucke, merke ich, dass ich es überhaupt nicht mehr möchte und es am liebsten sofort wieder erbrechen will …« Ihre Worte verloren sich kläglich.
Ich folgte der Melodie ihrer Stimme, hörte zu und hörte doch nicht hin, wirbelte zwischen ihren Worten hin und her und hielt die Augen fest auf die Sterne gerichtet, damit sie mir nicht wieder davonrutschten. Die Klimaanlage war zu hoch eingestellt, und der Schweiß, der sich in meinem Kreuz gesammelt hatte, fühlte sich jetzt kalt an. Zitternd zog ich die Bettdecke bis zu den Schultern hoch.
»Wieso sagst du nichts?«, fragte sie. Ich hörte den Ansatz von Panik in ihrer Stimme.
Ich wollte nichts sagen. Solange ich ihren Worten keine Bedeutung zuteilte, brauchte ich nicht über die katastrophal dumme Sache nachzudenken, die sie angestellt hatte.
»Was soll ich schon groß sagen?« Meine Stimme klang hohl. »Ich verstehe ja noch nicht einmal, was du da erzählst.«
»Doch, das tust du.«
Morgenübelkeit.
Ich würde es nicht für sie aussprechen. Sie konnte nicht einfach Hinweise fallen lassen, damit ich diejenige war, die es sagen und real machen musste.
Morgenübelkeit.
Mein Herz sank tief, tief, tief, durch meinen Körper hindurch, durch das Bett und den Fußboden und ließ mich hohl zurück. Charly, du Idiotin.
»Sag es.« Meine Stimme klang tonlos und gemein, selbst in meinen eigenen Ohren, aber ich konnte einfach nicht anders.
»Ich kann nicht.«
»Doch, das kannst du. Sag es, oder ich werde dir nicht helfen.«
»Ich bin schwanger.«
Ich fühlte nichts. Ich drehte mich auf die Seite und blickte sie an. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und starrte auf die Sterne an der Decke. Außerdem trug sie meine Silberohrringe, die Savannah mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Nicht, dass sie mich um Erlaubnis gebeten hätte.
In diesem Augenblick durchflutete mich eine unglaubliche Trauer, die mir den Atem nahm und jeden Knochen in meinem Körper zermalmte. Der Panzer aus Wut, den ich aufgebaut hatte, riss entzwei und die letzten sechs Wochen des Hasses zerbarsten und fielen wie Glasscherben zu Boden.
Schwanger. Das war nicht einmal physisch möglich. Es war ja nicht so, dass ich vollkommen naiv war, obwohl sich Dad jedes Jahr erneut weigerte, mich am Sexualkundeunterricht teilnehmen zu lassen. Ich wurde dann in die Bibliothek geschickt und musste Projekte über Karrieren im Kunstbetrieb oder über Geldmanagement recherchieren, aber Savannah hielt mich nach jeder Stunde auf dem Laufenden und ich hatte sichergestellt, dass Charly auch Bescheid wusste.
Aber es war für eine Jungfrau unmöglich, schwanger zu werden, und Charly war noch Jungfrau. Genau wie ich. Grandma, Dad und Gott erwarteten das von uns. Sie hatte noch nicht einmal einen Freund – das hätte sie nicht vor mir verheimlichen können. Ich hätte es gewusst. Letzten Winter hatte sie mir haarklein jedes einzelne Detail ihrer Beziehung mit Finn Grier erzählt, vom ersten Blick, über den ersten Kuss, bis zum letzten Streit. Sie hätte es mir gesagt, wenn sie mit jemandem zusammen gewesen wäre. Und selbst wenn nicht, ich hätte es gewusst.
»Ich bin schwanger«, wiederholte sie.
»Nein, das bist du nicht. Das ist ehrlich überhaupt nicht witzig. Du hattest noch nicht einmal Sex.«
Sie schüttelte sich, hob die Knie bis an die Brust und schlang mit geschlossenen Augen die Arme um sie.
»Das stimmt doch, oder?!«
Sie antwortete nicht. Stattdessen begann sie zu weinen. Ich sah ihr zu und zwang mich dazu, nicht die Augen zu schließen oder mir die Ohren zuzuhalten. Ich sah immer noch zu, selbst als es schrecklich wurde, als ihr Weinen zu lauten Schluchzern wurde und sie dazwischen nach Luft rang und ich sie am liebsten in eine Umarmung gezogen und so lange an mich gedrückt hätte, bis es nicht mehr gestimmt hätte. Oder bis ich mich aus dem Bett gerollt hätte und vor ihr und diesem furchtbaren Gefühl weggelaufen wäre.
Ich bin schwanger. Dieser Satz änderte alles.
»Dean?«, fragte ich.
»Was? Nein. Natürlich nicht.« Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres T-Shirts von den Wangen und bekam Schluckauf. »Es ist niemand. Es ist egal. Er weiß nichts davon, und ich werde es ihm auch nicht sagen.«
»Was?«
Sie schüttelte den Kopf und schlang die Arme wieder um ihre Knie. »Glaub’s mir, er wird es nicht wissen wollen.«
Ich sah schnell weg, damit sie meinen angewiderten Blick nicht bemerkte. Ich konnte nicht anders. Ich war einfach so furchtbar … enttäuscht. Nur, dass dieses Wort nicht einmal annähernd traf, was ich fühlte. Sie war nicht die Person, für die ich sie gehalten hatte. Und auf gar keinen Fall die Person, für die Dad sie hielt.
Irgendwo in mir flackerte Wut auf.
»Seit wann …«, begann ich und fühlte, wie sich das Feuer in mir ausbreitete. »Ich meine, warum hast du mir nicht erzählt, dass du Sex hast und was … ich meine, ich kann einfach nicht fassen, dass du so etwas hinter meinem Rücken gemacht hast. Dad ist … und Grandma …«
»Ich weiß.«
»Du weißt es? Nein, das tust du eben nicht! Du weißt überhaupt nichts! Wenn du auch nur eine einzige Sekunde darüber nachgedacht hättest, was du Dad und Grandma damit antust, dann wüsstest du es. Und du hättest es nicht getan.«
Sie gab keine Antwort.
»Aber du hast es trotzdem gemacht, weil du nämlich nur eins weißt: dass du der Mittelpunkt des Universums bist.«
Es stimmte, und ich hatte kein schlechtes Gewissen, es auszusprechen, nur weil sie zusammengekrümmt dalag und weinte. »Du weißt schon, was du jetzt bist, oder? Teil einer Statistik. Noch eine sechzehnjährige Schwangere. Vielleicht solltest du dich bei MTV melden. Oh, und du bist ja nicht irgendeine sechzehnjährige Schwangere. Nein, du bist die Tochter eines Pastors – eines Pastors, der Enthaltsamkeit predigt.«
»Weiß ich, aber –«
»Die ganze Welt zeigt sowieso schon mit dem Finger auf uns und hält uns für religiöse Freaks und jetzt bist ausgerechnet du obendrein noch schwanger. Deinetwegen wirken wir jetzt auch noch armselig und dumm.«
»Glaubst du wirklich, dass ich das nicht selbst weiß?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was in deinem Kopf vor sich geht. Es wird Dad umbringen. Ich nehme an, dass du das zumindest kapierst, oder? Und Grandma wird sich so sehr schämen, dass sie die nächsten zehn Jahre das Haus nicht verlassen wird. Hast du dir überhaupt darüber Gedanken gemacht, wie die Leute tratschen werden? Die ganze Gemeinde – nein, ganz Tremonton – wird sich für immer und ewig darüber das Maul zerreißen. Du kannst nicht darauf hoffen, dass es irgendwann in Vergessenheit gerät. Die Tochter des Pastors darf sich nicht einfach ein Kind anhängen lassen.«
Ich machte eine Atempause. Ich hatte nicht bemerkt, wie laut meine Stimme geworden war, und die plötzliche Stille brannte in meinen Ohren. Charly antwortete nicht, aber sie weinte auch nicht mehr. Ich wünschte mir fast, dass sie es noch täte. Ich wollte ihre Verzweiflung spüren für das, was sie uns allen antat.
»Ein Baby, Charly«, flüsterte ich. »Das ist für immer. Dein Leben ist vorbei.«
»Weiß ich.«
»Und, was willst du jetzt machen?«
Stille. Dann endlich: »Ich weiß nicht. Was auch immer du mir sagst, das ich machen soll.«
Natürlich. Die Verantwortung lag bei mir, weil es immer so war. Tausende von Situationen flogen vorbei, Erdbeeren und Zucker im Schwarznussbaum, wie wir unsere Beine nach einem Regenguss mit Matsch bemalten, wie wir uns auf dem Steg am See in den gleichen Bikinis sonnten. Die Erinnerungen verschmolzen miteinander und drehten sich immer schneller im Kreis, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen waren.