KAPITEL 6
Wir würden es Grandma sagen müssen. Es sei denn, wir behielten es für uns. Denn eines war klar: Sobald Grandma davon wüsste, würde eine Möglichkeit wegfallen. Die Möglichkeit, die wir nicht laut aussprachen.
»Bist du dir sicher?«, fragte ich.
»Natürlich bin ich mir sicher.« Charly kaute an ihrer kaputten Unterlippe.
»Hör auf damit. Sonst fängst sie gleich wieder an zu bluten.«
Sie hörte auf.
Wir standen im Badezimmer und taten, als würden wir uns für die Schule fertig machen. Aber ich war schon längst so weit, und Charly sah so oder so schrecklich aus.
»Es wäre die einzige Möglichkeit, dass niemand davon erfahren würde«, fügte ich hinzu.
»Das weiß ich auch. Aber es ist trotzdem … du weißt schon.«
Ich nickte. Mord. Auch dieses Wort nahmen wir nicht in den Mund. Ich wusste es jetzt seit drei Tagen, und wir benutzten selbst das Wort schwanger nicht mehr. Es war schon erstaunlich, worüber wir uns unterhalten konnten, ohne es auszusprechen.
»Ja«, erwiderte ich und wünschte mir, ich könnte anderer Meinung sein. Ich hoffte, einen moralischen Ausweg zu finden, wenn ich nur genug darüber nachdachte. Vielleicht gab es doch ein Schlupfloch, das niemand zuvor erwähnt hatte. Eins, das Abtreibungen für unreife Idiotinnen erlaubte.
»Wieso fängst du dann immer wieder davon an?«, wollte Charly wissen.
»Ich möchte nur jede Möglichkeit genau durchdenken.«
»Den Eindruck habe ich aber nicht.«
Ich rieb meinen Nacken, aber die Kopfschmerzen ließen sich damit nicht vertreiben. »Und welchen Eindruck hast du genau, Charly?«
»Ich habe das Gefühl, dass du einfach nur willst, dass das alles verschwindet. Dir ist es egal, dass ich alles auf mich nehmen soll. Aber es ist ja, du weißt schon … meine Seele, verstehst du?«
»Du sollst alles auf dich nehmen? Natürlich sollst du das. Schließlich bist du diejenige, die sich hat schwängern lassen.«
Sie zog ein Gesicht, als ich das Wort aussprach.
»Ja, ich hab’s gesagt.«
Das stellte sie für eine Minute ruhig. Sie blickte in den Spiegel, seufzte und zog das Haarband wieder aus den Haaren. Sie hatte die letzten fünf Minuten damit zugebracht, ihr nasses Haar zu einem Pferdeschwanz zu binden, aber er saß nie richtig.
Ihr schossen Tränen in die Augen. Das war an diesem Morgen schon das dritte Mal, oder zumindest das dritte Mal, dass es mir aufgefallen war. Ich nahm einen grobzinkigen Kamm aus der Schublade und griff nach dem Pflegespray. »Knie dich hin«, befahl ich. Sie gehorchte und ich begann zu sprühen.
Ich nahm eine Strähne ihrer Locken und begann, sie mit dem grobzinkigen Kamm zu bearbeiten. Es war sehr viel einfacher zu entscheiden, ob etwas richtig oder falsch war, wenn man es aus einiger Entfernung beurteilen konnte, oder in einer Predigt, oder wenn es um das Leben einer anderen Person ging. Aber das hier war so unklar, dass ich noch nicht einmal Charlys Rolle darin erkennen konnte, und dabei stand sie direkt vor mir.
Bis jetzt hatte ich immer ganz genau gewusst, was für Mädchen schwanger wurden und was für Mädchen eine Abtreibung vornehmen ließen. Charly gehörte nicht dazu. Nur, Charly war schwanger. Also kannte ich sie entweder gar nicht oder sie war die Ausnahme, die die Regel bestätigte, und war nur aus Versehen in die Kategorie der Teenager-Schlampe gerutscht.
»Dad würde es mir nie verzeihen, wenn er es herausfände.«
»Wahrscheinlich nicht.« Mal ganz abgesehen von Gott. »Aber genau das ist der Punkt. Dad und Grandma und alle anderen müssten es ja gar nicht herausfinden.«
»Schon, aber ich müsste dann in die Hölle, nicht?«
»Woher soll ich das denn wissen?«
»Weiß ich auch nicht. Du glaubst doch, immer alles zu wissen. Und außerdem bist du diejenige, die immer wieder davon anfängt.«
»Also versuche ich gerade, dich in die Hölle zu verfrachten? Wenn du dir vorher etwas mehr Gedanken über dein Seelenheil gemacht hättest, müssten wir schließlich gar nicht darüber nachdenken.«
Charly ignorierte meine Antwort. Ich riss an einem Knoten im Haar.
»Aua.«
»Hast du überhaupt eine Spülung gemacht?«
»Nein, meine Haare sind in letzter Zeit so fettig, dass ich mir dachte, es wäre vielleicht besser ohne Spülung.«
Fettige Haare. Noch ein Symptom für die widerliche Liste der Beschwerden. Erbrechen, Schwindel, schmerzende Brüste, verrückte Träume, Weinkrämpfe, Erschöpfung, Hitzewallungen, grässlich hervorstehende Venen – und es nahm kein Ende. Ich wusste seit drei Tagen Bescheid und war jetzt schon genervt. Ihr ein Tagebuch zu kaufen stand ganz oben auf meiner Liste, damit sie ihre Wehwehchen woanders zu Protokoll geben konnte.
»Und meine Haut«, murmelte sie, während sie in den Spiegel sah.
»Deine Haut sieht normal aus.« Ihr Gesicht war tatsächlich mit Pickeln übersät, aber ich konnte jetzt keine weiteren Tränen ertragen.
Sie holte tief Luft und hielt meinen Blick im Spiegel fest.
»Ich weiß nicht, wie Gott Sünden wertet, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Unzucht und Mord nicht gleich behandelt werden. Ich meine, ich stecke in Schwierigkeiten, aber ich bin nicht …« Sie griff nach dem Kamm in meiner Hand. Ich hatte keine Wahl, als ihn loszulassen.
»Natürlich nicht. Du weißt, dass ich das nicht gemeint habe.« Zumindest war ich mir nicht sicher, dass Gott ihr nicht vergeben würde und sie nicht erlöst werden könnte oder was auch immer. Es konnte nicht sein, dass sie auf ewig verdammt war.
Sie legte den Kamm beiseite und kapitulierte. »Habe ich Zeit, noch mal zu duschen?«
»Nein. Gib mir mal die Spange da«, bat ich sie und zeigte auf eine große Schildpattklammer. Sie reichte sie mir, und ich drehte ihre Haare zu einem klumpigen Knoten.
Sie inspizierte die Frisur im Spiegel. Es sah zumindest weniger schlimm aus.
»Gut genug.«
»Dann also Grandma?«
Sie hob die Augenbrauen. »Du wirst es ihr für mich sagen, nicht wahr?«
»Urkomisch.«
Ihr entschlüpfte ein Lächeln. Als ich es sah, wurde mir klar, dass sie seit Ewigkeiten nicht mehr gelächelt hatte. »Ich dachte bloß, weil sie dich ja sowieso schon hasst, wäre es vielleicht einfacher für sie, wenn sie es von dir hört. Weißt du?«
»Netter Versuch. Die Geschichte aus Grandmas Blickwinkel anzugehen ist wirklich ungeheuer schlau.«
»Genau das dachte ich auch. Aber du wirst schon dabei sein, oder?«
Ich lächelte zurück, spürte aber, wie sich alles in mir zusammenkrampfte. Wütend zu sein war sehr viel einfacher. »Natürlich.«
»Okay. Dann also heute Abend.«
»Heute Abend.«
***
»Du wirst niemals erraten, wer nicht mehr zusammen ist!«, kreischte Savannah, als sie mich bei meinem Schließfach entdeckte.
»Falsch.«
»Was?«
»Ich würde mal sagen, dass 99 Prozent dieser Idioten eines Tages miteinander Schluss machen werden.« Ich sah mich in der Menge um. Pärchen, Beinahe-Pärchen, solche, die es gern wären, und andere, die es gerade nicht mehr waren. Sie alle hatten keinerlei Stehvermögen. »Und das eine Prozent, das zusammenbleibt, wünscht sich wahrscheinlich, dass sie es nicht mehr wären.«
Sie ignorierte meine Antwort. »Will und Luciana! Und stell dir vor: Er hat mit ihr Schluss gemacht.«
Ich wühlte weiter in meiner Tasche, denn sie sollte nicht sehen, wie meine Kinnlade herunterklappte. »Ich hätte schwören können, mein Lipgloss ist hier irgendwo.« Als ich es gefunden hatte, sah ich zu ihr auf.
Sie grinste mich mit weit aufgerissenen Augen an, und ich musste mich beherrschen, um sie nicht an den Schultern zu nehmen und ordentlich durchzuschütteln. Selbst wenn Will und Luciana gerade in aller Öffentlichkeit auf peinliche Weise miteinander Schluss gemacht haben sollten, änderte das nichts an dem wahren Grund, warum Will und ich nicht zusammen sein konnten. Der wahre Grund war …
Mein Verstand stockte. Der wahre Grund war schwanger. Die unwiderstehliche Charly. Will war viel zu vorbildlich und konservativ, als dass er die geschwängerte Charly noch genauso ansehen würde wie vorher. Wenn er es erst einmal erfahren hatte, wenn die ganze Welt Bescheid wusste, würde Charly nicht mehr so unwiderstehlich sein.
Ich hielt inne. Ich hatte mehr Selbstachtung – schließlich war ich diejenige gewesen, die mit ihm Schluss gemacht hatte, weil er in Charly verliebt war und es immer sein würde.
Aber da hätte ich mir ja noch nicht träumen lassen, dass Charly sich so unattraktiv machen würde.
Ich konnte einfach nicht anders und stellte mir vor, wie es wäre, wenn Will wieder bei meinem Schließfach auf mich warten würde, seine Hand auf meiner Taille zu spüren oder ihn über Querfeldeinläufe sprechen zu hören, als wäre es eine Frage von Leben und Tod. Diesmal wäre ich eine viel bessere Freundin. Zärtlicher, wie er es sich immer gewünscht hatte. Dieses Mal würde ich mit ihm im Flur Händchen halten, ohne mich dafür zu schämen. Vielleicht würde ich ihn sogar in aller Öffentlichkeit küssen.
»Sag mal, sprichst du nicht mehr mit mir?«
Ich zuckte die Schultern. »Nein. Es ist nur so, dass es mir egal ist.«
Savannah schüttelte den Kopf. »Meinst du wirklich, dass dir das jemand abnimmt?«
»Ja klar.«
»Ich tue es jedenfalls nicht.«
»Na schön. Du tust es nicht.«
»Ich bin spät dran für Geschichte. Sehen wir uns beim Mittagessen?«
»Ich kann nicht. Ich helfe Dr. Kinzer dabei, die Chormappen neu zu ordnen. Extra Punkte.«
»Du bist bestimmt die einzige vollkommen unmusikalische Person der Geschichte, die der Kinzer eine Eins abnötigen wird.«
»Jaja.« Ich hörte ihr nur halb zu. Will und Luciana sind nicht mehr zusammen. »Augenblick mal, ich bin nicht vollkommen unmusikalisch.«
»Natürlich nicht. Bis später.«
Ich hätte etwas Witziges erwidern sollen, aber mir wollte einfach nichts einfallen. In meinem Kopf wirbelten lauter Gedanken umher: Charly und ihr nicht zu ändernder Schlamassel und Will, der wieder Single war. Zu kompliziert. Falls ich auf meine Gefühle hörte, fühlte ich … keine Ahnung.
Ich schlug die Tür meines Schließfaches zu und ging zu meiner nächsten Stunde.
Wir fanden Grandma am Küchentisch über ein Kreuzworträtsel gebeugt vor. Romane zu lesen war in ihren Augen eine frivole Zeitverschwendung, das Lösen von Kreuzworträtseln aus der allmächtigen New York Times-Sonntagszeitung war es nicht. Wenn sie erst einmal eines der Rätselhefte durchgearbeitet hatte, war es fast so zerlesen wie ihre Bibel. Sie saß mit gesenktem Kopf da und war ganz in die Hinweise versunken. Niemals hätte sie darauf gefasst sein können, was nun kam.
Trotzdem hätte Charly es besser angehen sollen. Nicht, dass ein »Wie geht’s denn so, Grandma?« den Tiefschlag auf irgendeine Weise abgemildert hätte. Aber sie war kurz davor, einen Rückzieher zu machen. Ihre Hände zuckten und zitterten, was ihr immer passierte, wenn sie nervös war. Und dann überkreuzte sie plötzlich die Arme vor der Brust und schleuderte Grandma ihr »Ich bin schwanger« aus heiterem Himmel direkt ins Gesicht.
Ich schloss die Augen. Es war feige, aber ich konnte Grandmas Mischung aus selbstgerechter Empörung und Wut einfach nicht mit ansehen. Grandma war immer schon eine Festung gewesen, eine unumstößliche Burg der Stärke, ein Signalfeuer, das der Menschheit den Pfad der Erlösung erhellte. Außerdem wusste ich, dass Grandma ziemlich schnell ziemlich wütend werden konnte.
Doch als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, wie Grandmas eiserne Härte einfach zusammenbrach. Sie legte den Stift fein säuberlich in die Mitte des Heftes, nahm die Brille ab und ließ den Kopf auf die Arme sinken. Ihr ganzer Körper wurde von lautlosen Schluchzern geschüttelt.
Am liebsten hätte ich mich neben sie gesetzt und den Arm um sie gelegt, aber ich brachte es einfach nicht fertig. Sie hätte keine Bestätigung von mir gewollt, dass dieses von Weinkrämpfen geschüttelte Häufchen Elend a) sie war und b) meine Hilfe benötigte.
Aber Charly – die verängstigte Version von Charly mit weit aufgerissenen Augen – zwang mich dazu. Sie stieß mir den Ellenbogen in die Seite und formte lautlos die Worte Umarm sie.
Ich schüttelte den Kopf.
Sie schüttelte den Kopf.
Also rutschte ich auf den Stuhl neben Grandma und legte den Arm um ihre Schultern. Sie ließ es zu, für ein paar Sekunden. Doch dann füllte sie ihre Lungen mit Sauerstoff, richtete sich auf und setzte die Brille wieder auf. Mein Arm fiel schlaff zur Seite.
»Charlotte, wir werden morgen früh darüber sprechen. Keine von euch sagt ein Wort zu eurem Vater.«
Sie erhob sich und verließ die Küche. Ihr Rückgrat war aufrechter als jeder Kirchturm.
Keine von euch sagt ein Wort zu eurem Vater. Glaubte sie wirklich, dass wir ihm überhaupt irgendetwas anvertrauten? Jemals?
Ich ließ Charly allein in der Küche zurück und ging in den Flur. Ein Streifen Licht leuchtete unter der Tür von Dads Arbeitszimmer hindurch. Ich konnte seine Stimme hören. Er führte ein Selbstgespräch.
Am nächsten Morgen hatte ich früh Training. Als ich zurückkam, saßen Charly und Grandma am Küchentisch. Grandma starrte Charly an, und Charly starrte auf ihre Froot Loops.
»Guten Morgen, Amelia«, begrüßte mich Grandma mit tonloser Stimme und geschwollenen Augen. »Wir unterhalten uns gerade über die Schwangerschaftsvorsorge. Deine Schwester scheint zu glauben, dass Babys mit einer Mischung aus Maissirup und Lebensmittelfarben wachsen und gedeihen.«
Charly nahm einen weiteren Löffel zu sich.
»Du hast nächste Woche einen Termin bei einem Gynäkologen in Tallahassee«, verkündete Grandma und nickte Charly zu. »Dann können wir dir ein paar Vitamintabletten für Schwangere kaufen.«
»Nicht bei Doktor Reed?«, fragte ich nach, goss mir ein Glas Orangensaft ein und lehnte mich an die Arbeitsplatte, in sicherem Abstand zu den beiden.
Doktor Reed war der einzige Gynäkologe in Tremonton. Er hatte sowohl mich als auch Charly auf die Welt gebracht und so ziemlich jedes andere Baby, das in den letzten dreißig Jahren hier das Licht der Welt erblickt hatte.
»Nein, nicht bei Doktor Reed.«
Grandma erhob sich, nahm einen Lappen und wischte über die bereits saubere Arbeitsfläche.
»Bei Walgreens gibt es auch Schwangerschaftsvitamine«, schlug ich vor. Will jobbte dort, und ich hatte früher oft viel zu viel Zeit damit verbracht, in den Gängen zu stöbern, während ich auf das Ende seiner Schicht gewartet hatte.
»Wir kaufen nichts für eine Schwangerschaft bei Walgreens«, entgegnete Grandma. Sie klang müde. »Willst du vielleicht, dass die ganze Stadt davon erfährt?«
»Nein, aber …« Grandma wusste doch ganz sicher, worauf die ganze Sache hinauslief. Charly würde langsam in die Breite gehen, bis sie wie ein Wal aussähe. Ich hatte genug Folgen von 16 und schwanger im Fernsehen gesehen und wusste, dass die dürren Mädchen diejenigen waren, die am Ende so aussahen, als hätten sie einen Basketball verschluckt.
Ich musste mich schütteln.
Grandma sah abrupt zu mir auf. Ihre Stirn war vor Panik gerunzelt. »Wo hast du den Schwangerschaftstest gekauft?«
»Ich? Ich habe keinen Test gekauft. Bis vor vier Tagen wusste ich ja noch nicht einmal, dass sie schwanger ist.«
Grandma blickte auf Charly herab, ganz offensichtlich mehr als nur skeptisch, was Charlys Fähigkeit anging, das selbst in die Hand genommen zu haben.
Charly weigerte sich, von ihrer Schüssel aufzusehen. Sie war die einzige Person, die ich kannte, die ihre Froot Loops farblich sortiert aß. Ein Blick über ihre Schulter zeigte, dass sie sich heute für grüne und gelbe Loops entschieden hatte. Sie würde bald Mutter. Das musste sofort aufhören.
»Ich habe ihn in Baldwin gekauft«, antwortete sie. »Aber draufgepinkelt habe ich in Tremonton. Hätte ich das nicht tun sollen? Glaubst du, dass die Leute vielleicht gespürt haben, dass jemand irgendwo in der Stadt auf einen Test pinkelt und sofort angenommen haben, dass ich es gewesen sein muss?«
»Das ist kein Witz«, entgegnete Grandma leise und wischte schon wieder über den blitzsauberen Tisch.
Charly legte den Löffel beiseite und sah auf. Die Grandma, die ich kannte, hätte sie zusammengestaucht.
»Kannst du mal ernst bleiben?«, erkundigte sich Grandma. Sie rieb jetzt die Küchenfronten ab.
Charly nickte.
»Du wirst das Baby nicht hier zur Welt bringen. Ich werde nicht zulassen, dass du deinem Vater das Herz brichst, ganz zu schweigen davon, dass es seine Glaubwürdigkeit als moralische Leitfigur in unserer Gemeinde untergraben würde. Ich werde nicht zulassen, dass du die nächste Marnie Croll wirst oder Serena Torello.« Sie hielt inne und ließ die Namen auf uns wirken.
Marnie war vier Jahre älter als ich, aber ihre kleine Schwester Paula war meine Freundin gewesen. Als Marnie ein Baby erwartete, kamen Paula und ihre Familie nicht mehr regelmäßig zur Kirche und wir sahen einander kaum. Marnie hatte »das Richtige« getan und den Vater des Kindes geheiratet. Oder zumindest war es das Richtige, wenn man den Unterhaltungen Glauben schenkte, die ich mitgehört hatte. Sie verließ die Schule ohne Abschluss, den sie aber später nachholte. Als sich ihr achtzehnjähriger Mann ein Jahr später aus dem Staub machte, musste sie deshalb zumindest nicht für den Mindestlohn arbeiten. Sie wurde sofort Nachtschicht-Managerin an der örtlichen Tankstelle. Sie behauptete, es sei keine schlechte Anstellung, wenn man ein Kleinkind zu Hause hatte und eine Mutter, die tagsüber arbeitete und keine Zeit hatte, auf ihr Enkelkind aufzupassen. Wir unterhielten uns manchmal, wenn ich den Jeep volltankte. Grandma hatte uns nach der Geschichte mit Marnie den Umgang mit Paula verboten.
Serena hatte es nicht einmal annähernd so gut getroffen. Sie war in meinem Alter, hatte aber die Highschool nicht mehr betreten, seit sie im ersten Jahr schwanger geworden war. Seitdem hatte sie so eine Immer-mal-wieder-Beziehung mit dem Vater des Babys, die die ganze Stadt unterhielt. Sie stritten sich lautstark auf dem Parkplatz vor der Eisdiele, auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, auf dem Parkplatz vor der Post. Die Mitglieder von Grandmas Bridgeclub liebten es, mit traurigen Gesichtern über sie zu tratschen und dabei ihre Köpfe zu schütteln. Sie war doch so ein niedliches kleines Mädchen gewesen und hatte sogar an Schönheitswettbewerben teilgenommen. Jetzt trug Serena eine Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht bedeckte, und arbeitete im Supermarkt, während ihr Freund zu Hause blieb und auf das Kind aufpasste.
Dabei wurden Marnie und Serena nicht so schlimm behandelt wie Aussätzige in der Bibel. Die Leute waren viel subtiler. Unterhaltungen verstummten nicht plötzlich, wenn sie auftauchten, oder zumindest nicht für mehr als ein oder zwei Sekunden. Und die Bewohner von Tremonton erfüllten nach wie vor ihre christliche Pflicht der Nächstenliebe und lächelten freundlich, aber Blickkontakt war dabei jedem selbst überlassen und hielt auf keinen Fall länger an. Niemand wollte den Eindruck erwecken, Teenager-Schwangerschaften gutzuheißen oder sich mit Mädchen anzufreunden, die es gewagt hatten, sich trotz ihrer Schwangerschaft in aller Öffentlichkeit zu zeigen. Oder einfach nur schwanger waren.
Irgendwie lag eine besondere Atmosphäre in der Luft, wenn Marnie und Serena auftauchten. Ein Gefühl der Enttäuschung. Und des Mitleids. Ich wollte nicht, dass man Charly bemitleidete.
»Ich verstehe das nicht. Ich habe doch niemanden, zu dem ich gehen kann«, antwortete Charly, und Tränen glänzten in ihren Augen.
Ich verstand es auch nicht. Es sei denn, Grandma hatte vor, sie in ein Kloster zu schicken. Aber wir waren ja nicht katholisch und soviel ich wusste, schob man schwangere Mädchen heutzutage nicht mehr ins Kloster ab.
»Wie spät bist du mit deiner Periode dran?«
»Ich weiß nicht genau. Drei Wochen vielleicht.«
»Gut. Dann wird man es noch einige Zeit nicht sehen können. Vier oder fünf Monate mit weiter Kleidung. Ich erwarte, dass du es bis Weihnachten versteckst.«
Verstecken? Unter normalen Umständen hätte ich laut aufgelacht, aber Grandma machte keine Witze, und Charly nickte, als wäre es möglich, es zu verstecken, wenn sie es nur genug wollte. Mal ganz abgesehen davon, dass es ein schnell wachsendes menschliches Wesen in ihrem Bauch war.
»Nach Weihnachten«, fuhr Grandma fort, »wirst du nach Kanada gehen.«
Kanada. Ein ganzer Strom von Assoziationen überflutete mich, doch keiner hatte auch nur das Geringste mit dieser Situation hier zu tun. Kälte. Frühstücksspeck. Ahornsirup. Avril Lavigne. Justin Bieber. Frühstücksspeck. Kälte. Und natürlich, Mom.
»Ich nehme an, ihr erinnert euch nicht daran, eure Tante Bree bei der Beerdigung kennengelernt zu haben«, erkundigte sich Grandma.
Mir kam ein Familienfoto vor dem Grab meiner Mom in den Sinn. Es klebte in einem Fotoalbum in Dads Arbeitszimmer. Ich hatte es mir bestimmt schon hunderttausendmal angesehen, um die sechzehn Jahre jüngeren Versionen der Leute anzustarren, die ich kannte. Auf dem Foto hielt eine etwas rundere, braunhaarige Grandma ein pummeliges Baby auf der Hüfte und ein finster blickendes Kleinkind an der Hand. Das waren wir. Grandpa stand ganz links und Dad war allein in der Mitte und wirkte, als würde er jeden Augenblick davonschweben, falls ihm nicht jemand schnell auf den Fuß träte, um ihn am Boden zu verankern.
Auf der anderen Seite neben ihm stand der Rest: Moms Familie. Fremde. Eine übertrieben festlich angezogene Frau, von der mir gesagt wurde, dass sie meine Großmutter war, trug einen riesigen Pelzmantel und ein theatralisch trauriges Gesicht zur Schau. Sie klammerte sich an den Arm eines großen Mannes, der gerade blinzelte. Ihr dritter Ehemann laut Grandma. Dann standen da zwei große, gelangweilt wirkende Jungen im Teenageralter, die ganz offensichtlich zu dem Mann gehörten, und ein Kindermädchen. Man hatte wohl versäumt, es rechtzeitig aus dem Bild zu stoßen.
Ganz am Rand des Fotos stand ein vielleicht zehnjähriges Mädchen mit glänzenden strohblonden Haaren und einem spitzen Kinn, das als einziges lächelte. Bree. Es war die Beerdigung ihrer Halbschwester, aber sie wusste anscheinend noch nicht, dass man nicht unbedingt immer für die Kamera lächeln musste. Sie trug eine Metallbrille und jahrelang glaubte ich deshalb, dass sie so etwas wie ein Genie sein musste. Sie musste jetzt ungefähr sechsundzwanzig sein.
Vor Erleichterung lief mir ein Schauer über den Rücken. Kanada. Warum war mir das nicht eingefallen? Charly konnte bei Bree wohnen, und Dad würde es nie herausfinden.
»Ich habe gestern Abend mit Bree telefoniert, und sie ist einverstanden, dass du bei ihr in Banff bleiben kannst, bis du das Baby zur Welt bringst. Die Adoption wird dort arrangiert.«
»Aber …«, stotterte Charly. »Aber sie kennt mich doch noch nicht einmal. Ich kenne sie noch nicht einmal.«
Es war, als hätte sie keinen Ton von sich geben. Grandma war dabei, einen Businessdeal abzuschließen; Waren würden die Seiten wechseln.
»Du hast schon mit ihr gesprochen? Was ist, wenn ich lieber hier bleiben will? Was, wenn …«
Grandma starrte Charly böse an, und einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde explodieren. Ich merkte, dass Charly sich auch darauf gefasst machte. Hinter ihrer düsteren Stimmung musste eine unbändige Wut kochen, aber dann schüttelte Grandma bloß den Kopf und sprach so ruhig wie zuvor.
»Charlotte, du bist verwirrt. Du hast die Worte Ich will benutzt, als bedeuteten sie noch etwas. Du bist schwanger. Du hast diese Wahl in einem Augenblick getroffen, in dem du ausschließlich daran dachtest, was du wolltest. Was du willst ist ab jetzt vollkommen unwichtig.«
Charly schrumpfte auf ihrem Stuhl in sich zusammen. Die letzten paar grünen Froot Loops schwammen in der Milch umher, sie sahen schwammig und blutleer aus.
»Du tust, als würde ich jeden Augenblick explodieren«, sagte Grandma in einem ruhigen Tonfall, während Charly vor ihr kauerte. »Keine Angst, ich werde dich nicht anschreien. Dazu ist es zu spät. Disziplin hat bei dir versagt.«
Ich goss den letzten Rest meines Orangensaftes in die Spüle. Ich wollte nicht mehr zuhören müssen.
»Dich nach Kanada zu schicken ist der einzige Weg, das hier zu überstehen, ohne dass dein Vater davon erfährt.«
»Er würde es mir nie verzeihen«, flüsterte Charly und starrte immer noch auf die Milch in der Schüssel.
Sie hatte recht, aber ich war mir gar nicht sicher, ob sie es verdient hatte, dass man ihr vergab.
»Ich werde gehen«, willigte sie ein.
»Aber was wirst du ihm sagen?«, fragte ich Grandma.
»Dass ihr Mädchen in den Norden fliegt, um eure Tante besser kennenzulernen. Dass es wichtig für Mädchen im Teenageralter ist, eine Verbindung zur eigenen Mutter zu entwickeln, selbst wenn es bloß durch ihre Verwandtschaft geschehen kann. Dass ihr dort eine hervorragende Schule besuchen werdet.«
Doch nach ihr Mädchen hatte ich kein einziges Wort mehr gehört. »Du meinst Charly, nicht wahr?«
»Nein. Ich meine euch beide. Du wirst deine Schwester begleiten.«
»Was?« Jeder einzelne Muskel in meinem Körper spannte sich vor Panik an. »Warum?«
»Hör auf zu schreien.«
»Ich schreie ja gar nicht!«, schrie ich.
»Beruhige dich.« Grandma deutete auf den Stuhl neben Charly, doch ich schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht diejenige, die schwanger ist! Ich muss mich nicht setzen!«
Bis zu diesem Augenblick hatte ich gedacht, ich sei vom Training erschöpft, aber plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis wegzulaufen.
»Na schön. Dann bleib eben stehen und hör zu. Du musst mit nach Kanada oder niemand wird uns diese Geschichte abnehmen. Ein Mädchen, das sechs Monate lang die Verwandtschaft besucht, bedeutet für manche Leute nur das eine.«
»Vielleicht in den sechziger Jahren«, wandte ich ein, doch schon als ich es aussprach, wurde mir klar, dass Tremonton mindestens fünfzig Jahre hinter dem Rest von Amerika herhinkte.
»Die Leute werden sich wundern, dann tratschen, dann annehmen, dass es wirklich stimmt – all das, falls Charly allein fährt. Aber wenn ihr beide zusammen fahrt, insbesondere, wenn du dabei bist, wird sich niemand etwas dabei denken.«
Sie meinte es als Kompliment, aber es kam mir nicht wie eins vor. Also konnte sich niemand in dieser Stadt vorstellen, dass ich schwanger werden könnte. Wahrscheinlich nicht einmal, wenn ich noch mit Will zusammen wäre. »Und das ist also meine Belohnung dafür, gut zu sein? Ich werde weggeschickt, damit die Leute nicht anfangen, über Charly zu tratschen?«
»Euer Vater würde sie niemals allein gehen lassen.«
Ich atmete hörbar aus und spürte, wie jedes bisschen Luft aus mir wich. »Aber er …« Aber er nichts. Sie hatte recht. Unsere Blicke trafen sich, und ich sah, dass jetzt ein Funken Weichheit in ihrem lag.
»Amelia. Du musst dich um sie kümmern.«
»Aber ich bin jetzt in der Abschlussklasse«, wandte ich ein und konnte immer noch nicht glauben, dass dieses Gespräch überhaupt stattfand. Sie konnte das einfach nicht von mir verlangen. Was war mit Savannah, Hockey, Football und dann mit unserem Abschluss?
Und ganz vielleicht auch mit Will?
Ich sah zu Charly hinüber, aber sie starrte bloß aus dem Fenster. Natürlich, sie war geistesabwesend wie immer.
»Wann hört es endlich auf, dass ich für ihre Fehler bestraft werde?«, beschwerte ich mich und klammerte mich mit beiden Händen an die Arbeitsplatte hinter mir. »Sie ist ein komplettes Desaster und wird es immer sein. Bedeutet das, dass ich mein Leben als Kollateralschaden verbringen muss?«
»Das klingt furchterregend ähnlich wie das, was Kain zu Gott sagte, als Er nach Abel suchte«, entgegnete Grandma.
»Soll das ein Witz sein?!«, brüllte ich.
»Bin ich meines Bruders Hüter?«, zitierte sie ruhig.
»Noch habe ich meine Schwester nicht umgebracht!«
Grandma hob die Augenbrauen, als wäre ich diejenige, die Blasphemie beging. Konnte sie etwa nicht hören, wie sie selbst klang?
»Hast du vielleicht eine bessere Lösung?«, fragte sie mich.
»Ja! Schick sie allein fort!«
Charly riss ihre Augen von dem los, was auch immer da draußen so furchtbar interessant gewesen war, und wandte sich mir zu. »Bitte.«
»Ist die ganze Welt verrückt geworden? Du willst wirklich nach Kanada abgeschoben werden? Im Ernst?«
»Es ist doch vollkommen gleichgültig, was ich will, oder etwa nicht?« Sie blickte kurz in Grandmas Richtung und sah mich dann wieder an. »Dad darf es auf keinen Fall herausfinden, was bedeutet, dass ich gehen muss, was bedeutet, dass ich dich brauche.«
Ihr Gesichtsausdruck war ein einziges Flehen. Am liebsten hätte ich meine Faust durch den Mikrowellenherd gejagt.
Ich verließ die Küche ohne ein weiteres Wort.