KAPITEL 7
In den folgenden Wochen und Monaten spulte ich mein normales Leben wie automatisch ab und tat, als wäre alles in bester Ordnung. Ich spielte mit, hütete Charlys Geheimnis und verkaufte Dad Grandmas Halbjahr-in-Kanada-Farce. Dabei ignorierte ich die Möglichkeit, wieder mit Will zusammenzukommen, ignorierte alles, was im folgenden Halbjahr passieren sollte, und wartete bloß. Ich wartete, wartete und wartete auf eine einzige Sache.
Auf den 15. Dezember. Stichtag für die Aufnahme am College.
Dieser Tag lag genau in der Mitte zwischen den Geburtstagen von Dad und Jesus. Das musste einfach etwas bedeuten.
Bisher hatte mir jeglicher Idealismus gefehlt, um dem wirklichen Leben irgendeine symbolische Bedeutung aufzuzwängen, aber mein Englisch-Leistungskurs hatte meine Gedanken offensichtlich stärker beeinflusst, als ich angenommen hatte. Plötzlich sah ich nämlich selbst in jeder Kleinigkeit eine Metapher – Charlys plötzlicher Ekel vor Eiern, der vorzeitige Tod von Grandmas Magnolie (die von Mehltau befallen worden war), Dads erneuter Verlust seiner Bifokalbrille. Das Leben schien plötzlich sehr literarisch.
Am 15. Dezember wachte ich früh auf und hatte das Gefühl zu schweben. Ich hatte schon vorher beschlossen, dass ich den ganzen Tag über weder an Charly oder Kanada noch an das Desaster meiner unmittelbaren Zukunft denken würde. Der heutige Tag gehörte ganz allein mir.
Selbst wenn Charly ihr Leben zerstört hatte und selbst wenn ich dafür bestraft wurde, gab es trotzdem ein Danach. Schon klar, die nächsten sechs Monate würden schrecklich werden, aber ich würde Kanada überleben und dann kam mein Neuanfang im Herbst in New York.
Vielleicht gab es ja auch für Charly eine zweite Chance. Falls Dad es nicht herausfand, falls ganz Tremonton es nicht herausfand, falls sie ihr Baby weggeben und die Schule endlich etwas ernster nehmen würde, wäre ihr Danach vielleicht auch okay.
Als ich aus der Schule kam, wartete die E-Mail schon in der In-Box auf mich.
Sehr geehrte Frau Mercer,
Ihre Bewerbung an der Columbia University wurde sorgfältig von unserem Zulassungskomitee geprüft. Wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihnen leider keinen Platz für das kommende Herbstsemester anbieten können.
Die hohe Anzahl der äußerst qualifizierten Bewerber macht es uns unmöglich, jedem Antragsteller einen Studienplatz zuteilen zu können.
Wir bedanken uns sehr für Ihr Interesse an der Columbia University und wünschen Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Bildungsweg.
Mit freundlichen Grüßen
Donald P. Crowley
Vorsitzender des Zulassungskomitees
Nun ja.
Das war’s also.
Ich spürte nichts, also las ich die E-Mail noch mal, langsamer diesmal. Immer noch nichts. Ich war nicht verrückt oder verzweifelt genug zu glauben, dass zwischen den Zeilen eine versteckte Bedeutung lauern könnte, aber die ganze Nachricht war so vollkommen unfassbar – keine Zulassung, keine Warteliste, nicht einmal Alternativvorschläge –, ich musste sie noch ein letztes Mal durchlesen.
Nein. Ich begriff. Mein Danach würde keinen Deut besser werden als Charlys.
Ich löschte die E-Mail.
Auf nackten Füßen und mit schmerzender Seele ging ich die Treppe hinunter, vorbei an Grandma, die an der Spüle stand, vorbei an Charly, die am Tisch saß, und durch die Hintertür nach draußen.
»Ist die E-Mail gekommen?«, hörte ich Charly noch fragen, ehe die Tür laut hinter mir zufiel.
Bitte komm mir nicht hinterher.
Ich starrte geradeaus. Der Winter hatte Einzug gehalten und alles war verdorrt – das Gras, die Limettenbäume, der Hibiskus, der Ahornbaum. Das nackte Skelett des Schwarznussbaums hob sich vom grauen Himmel ab. Tausende vertrocknete Grashalme durchstachen meine Fußsohlen, als ich den Rasen überquerte, aber ich wollte auf keinen Fall zurückkehren müssen, um mir Schuhe überzustreifen. Ich ging an Dads kränkelnden Limettenbäumen vorbei und zuckte bei jedem Schritt zusammen.
Als ich den Schwarznussbaum erreichte, fuhr ich mit den Fingern für einen Moment die raue Rinde entlang, ehe ich mich am untersten Ast festhielt und auf den Baum schwang. Die Hintertür quietschte und klappte laut zu, aber ich kletterte weiter.
»Hey!«, rief Charly unter mir.
Ich antwortete nicht, sah nicht nach unten, sondern kletterte immer höher, Ast um Ast, bis die Äste so dünn wurden, dass sie mein Gewicht nicht halten konnten und ich keine andere Wahl hatte, als mich hinzusetzen.
»Also, dann ist die E-Mail …«, begann sie und hielt dann inne. Dieses Zögern war äußerst selten für jemanden, der am liebsten sprach, ohne nachzudenken. »Du hast sie bekommen?«
»Verschwinde.«
»Keine gute Nachricht?«
»Ich habe gesagt, du sollst verschwinden, Charly.« Ich rupfte eine verrottete Nussschale vom Baum und rieb die ölige schwarze Hülse zwischen den Handflächen. Grandma hatte vor über einem Monat dafür gesorgt, dass wir alle Walnüsse einsammelten, aber irgendwie war uns diese eine Hülse entwischt.
»Ich komme rauf«, erwiderte Charly.
Ich sah nach unten und beobachtete, wie sich ihre Finger um den tiefsten Ast legten.
Glaubte sie etwa tatsächlich, dass sie mich trösten konnte? Ich drückte die Walnuss in einer Hand, rollte sie wieder zwischen den Handflächen hin und her, drückte sie erneut. Der Drang war zu stark, ich musste sie einfach werfen.
Die Nuss traf Charlys Stirn mit einem zufriedenstellenden dumpfen Schlag und fiel dann zu Boden. »Aua!«, schrie Charly, eher überrascht als sauer.
Ich krallte mich am Ast fest und machte mich auf ihre Wut gefasst. Ich war bereit, ihr jede Gemeinheit entgegenzuschleudern, die mir in den Sinn kam. Aber sie hüpfte zurück auf den Boden und stand einfach nur da. Dann beugte sie sich langsam vor, bis sie ihre Stirn an der Stelle gegen die Rinde presste, an der unsere Namen geschnitzt waren, fast, als betete sie zu dem Baum.
Ich hielt die Luft an. Meine Wut ließ das Blut durch die Adern rauschen, aber ich wartete.
Schließlich richtete sie sich wortlos auf und ging davon. Ich sah ihr hinterher, hörte, wie das Gras unter ihren Füßen knirschte, und spürte, wie sich Erleichterung in mir ausbreitete, als sie die Treppe zurück zum Haus hochstieg.
Sie hatte mich allein gelassen. Jetzt konnte ich endlich weinen.