KAPITEL 16
Ich wusste, wie schwangere Frauen aussehen. Offensichtlich. Und ich wusste, wie Charly aussah, und hatte deswegen kein Recht darauf, überrascht zu sein, als es schließlich begann. In meiner Vorstellung hatte ich mir immer ihr Gesicht auf einem Körper in Regentropfenform vorgestellt. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass sie sich bis zu diesem Zustand natürlich Schritt für Schritt verwandeln würde. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass sie sich wie ein Luftballon im Zeitlupentempo aufblähen würde.
»Was guckst du so blöd?«, meckerte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. Seit Wochen hatten wir nicht mehr zueinander gesagt als Gib mir mal die Milch und Nimm deine stinkenden Klamotten von meiner Bettseite. Ich hatte ihr nicht einmal davon erzählt, was mit Ezra passiert war. Ich hatte niemandem von Ezra erzählt, und inzwischen gab es nichts mehr zu erzählen. Der Vorfall war jetzt drei Wochen her, und ich hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört.
»Meine Güte, hör auf, mich anzustarren!«, keifte Charly mich an. Sie stand seitlich von mir und nahm ihre Haare gerade zu einem Pferdeschwanz hoch. Ihr Körper im Profil war schlicht zu viel für mich – ich konnte einfach nicht anders und starrte auf die Rundung ihres Bauches.
Sie murmelte etwas vor sich hin und verließ das Badezimmer. Ich blieb allein zurück und trug reichlich Bodylotion auf.
Laut Bree hätte Charly theoretisch schon viel früher schwanger aussehen können, aber sie war noch jung und es war ihre erste Schwangerschaft. Ihre Kleidung tat das ihre. Sie zog nur noch weite Sweatshirts an und trug einfach weiterhin ihre normale Jeans, wenn auch mit geöffnetem oberstem Knopf, damit sie nicht die Klamotten anziehen musste, die Bree ihr gekauft hatte.
»Wieso ziehst du nicht einfach die Schwangerschaftssachen an?«, rief ich ihr hinterher.
»Weil ich sie noch nicht brauche! Wieso hörst du nicht auf, mich herumzukommandieren?«
Ich holte tief Luft. Ich kommandierte sie nicht herum. Oder zumindest nicht mehr.
»Sie ist nervös«, flüsterte Bree mir zu, während ich meine Stiefel zuschnürte. »Sie hat heute eine Ultraschall-Untersuchung.«
Ich presste meine Lippen fest aufeinander, damit nichts Ehrliches heraussprudelte. Für Bree war ich sowieso schon die schlechteste Schwester auf der ganzen Welt, da musste ich nicht noch Öl ins Feuer gießen.
Bree setzte uns an der Schule ab und ich quälte mich durch meinen Tag, ohne dabei an Charly zu denken. Fast. In der Mittagspause nahm ich eine kurze Auszeit und beschimpfte sie im Stillen mit jedem Schimpfwort, das mir einfiel. Sie hatte es verdient. Ich hatte sie nämlich in der Cafeteria sitzen sehen, wie sie ihr Mittagessen mit drei relativ normal aussehenden Mädchen aß, während ich auf dem Weg zu meiner stinkenden Ecke in der Bibliothek war, um auf meinem illegalen Bagel rumzukauen und anderen beim Knutschen zuzuhören. Sie hatte es auf jeden Fall verdient.
Nachdem ich mit der stillen Beschimpfung fertig war, hatte ich keinen Hunger mehr. Ich rollte meinen Stift das Notizbuch herunter und wieder hoch. Das machte ich noch mal. Und noch mal. Eigentlich hatte ich die Mittagspause dazu nutzen wollen, Savannah eine E-Mail zu schicken, aber es war mir plötzlich zu anstrengend. In den ersten Wochen nach meiner Ankunft in Kanada hatte ich zwischen unseren E-Mails immer Panik bekommen, etwas zu verpassen, aber das hatte sich inzwischen gelegt. Außerdem war es ja nicht so, dass sie zu Hause saß und auf meine Antwort wartete.
Gestern hatte ich eine Nachricht von ihr bekommen, die aus einem umfassenden Bericht über all die Dinge bestand, die ich normalerweise hätte hören wollen: Die allseits unbeliebteste Cheerleaderin, Libby Portier, hatte eine missglückte Nasenoperation hinter sich; die Mädchen-Fußballmannschaft hatte Baldwin mit 6:1 vollkommen vom Platz gefegt; Sebastian war im Supermarkt vom Eintüter zum Kassierer befördert worden; und, was am allerbesten war, Luciana hatte versehentlich vor der halben Football-Mannschaft einen Tampon der Größe super plus aus ihrer Handtasche auf den Boden fallen lassen. Besser ging’s gar nicht.
Die Frage war, warum ich trotzdem kein Heimweh bekam, wenn ich das alles las. Die ersten paar E-Mails von zu Hause hatten meinen ganzen Körper mit einem süßlich metallischen Schmerz gefüllt, fast so, als hätte ich meine Zunge an einem Bonbon aufgeschnitten. Aber das hier rief überhaupt keine Gefühle in mir hervor. Zumindest hätte ich mich für die Fußballmannschaft und für Sebastian freuen sollen, aber selbst das war mir zu anstrengend.
Tremonton hatte immer weniger Bedeutung für mein Leben, und es gab so gut wie keinen Grund, mich dagegen zu wehren. E-Mail-Nachrichten und Erinnerungen reichten einfach nicht. Und außerdem würde ich nicht mehr zurückkehren, zumindest nicht an die Primrose High. Wie lange wäre ich überhaupt wieder in Tremonton, ehe ich zu irgendeinem zweitrangigen College aufbrechen würde? Einen Monat. Vielleicht auch zwei.
Falls ich es überhaupt schaffte, mich irgendwo anzumelden. Letzte Woche hatte ich mich gerade bis exakt zur Mitte des Anmeldeformulars der University of Central Florida durchgekämpft, als Brees Computer abgestürzt war. Ich hatte es als Zeichen genommen. Nicht, dass es schon brenzlig wurde – die Uni hatte eine flexible Anmeldeperiode, sodass ich noch Monate Zeit hatte, endlich die Formulare auszufüllen. Falls ich es tatsächlich machen wollte.
Ich sah mich in der Bibliothek um und ignorierte das Kichern, das aus der übernächsten Nische kam. Ich versuchte, mir Ezra hier vorzustellen. Er passte nicht hierher. Er hatte viel zu viel Tiefgang für diese nervtötende Langeweile und war bestimmt ein Außenseiter gewesen. Oder vielleicht hatten Taylor und er in ihrem eigenen kleinen Universum existiert.
Ich hatte mich so sehr angestrengt, nicht an ihn zu denken. Es tat einfach zu weh, wenn ich mich daran erinnerte, wie demütigend der ganze Vorfall gewesen war, aber ich konnte trotzdem nicht verhindern, dass die Bilder in mir hochkamen. Er tauchte immer wieder in meinen Gedankengängen auf, als gehörte er dort hin. Und wenn ich an den Kuss dachte, an die Wärme seiner Hände, wurde ich einfach nur wütend. Denn daran zu denken, bedeutete, dass ich auch die Sachen hervorholen musste, die Taylor gesagt hatte. Und dann fühlte ich mich wie eine billige Schlampe.
Wie ›vorbei‹ war es wirklich mit den beiden? Ich versuchte, mir Brees und Taylors Konversation im Fundbüro am Lake Louise zurück ins Gedächtnis zu rufen, aber das war jetzt über einen Monat her. Ich dachte, Taylor hatte gesagt, dass sie nicht mehr zusammen waren, und später hatte Bree mir erzählt, dass sie seit Jahren eine Achterbahnbeziehung führten. Aber was war, wenn das Gegenteil stimmte? Was, wenn sie tatsächlich mehr oder weniger ein Paar gewesen waren und Ezra war bloß ein … Ich ließ den Gedanken nicht zu. Ich wollte nicht, dass er jemand war, der betrog. Ein ekelhafter, typischer, dreckiger, gemeiner Betrüger.
Es hatte sich auch nicht so angefühlt. Jedenfalls nicht bei mir.
Ich stand auf und klopfte mir die Krümel vom Schoß. Dann spazierte ich zu den Jahrbüchern hinüber. Das vom letzten Jahr war schwarz und auf dem Umschlag prangte ein vergoldeter zähnefletschender Büffel. Ich blätterte durch die Seiten auf der Suche nach Ezra. Sein Porträtfoto sah gut aus, und ich spürte ein kleines Kitzeln in der Magengrube, als ich daran dachte, wie er mich angesehen hatte, ehe er mich geküsst hatte.
Ich blinzelte und blätterte weiter.
Mal abgesehen von seinem Porträt war er noch auf drei weiteren Fotos abgebildet. Auf den ersten beiden hatte er den Arm um Taylor gelegt. Im dritten hatte er sie Huckepack genommen. Sie hatte sich mit Armen und Beinen an ihn geklammert und ihr Kinn grub sich in seine Schulter. Ihre roten Haare verdeckten sein halbes Gesicht. Er lächelte. Er lächelte auf allen drei Fotos.
Ich klappte das Jahrbuch zu und stellte es zurück. Dann kehrte ich zu meiner Sicherheitsnische mit Thunfisch-Geruch zurück.
Jetzt war ich so weit, ihn zu vergessen.
»Amelia, Augenblick noch.«
Mist. Ich hatte es gerade erst bis auf die dritte Stufe der Wendeltreppe geschafft. Als ich nach Hause gekommen war und Bree auf dem Sofa mit einem geöffneten Anatomie-Lehrbuch auf ihrem Gesicht hatte liegen sehen, hatte ich auf etwas Glück gehofft. Aber meine Tarnkappe war Brees Kontrollinstinkten offensichtlich nicht gewachsen.
Ihre Haare standen zu Berge, als sie sich zu mir umdrehte. »Ich muss mit dir sprechen.«
Ich blieb einfach stehen. Vielleicht wäre es schnell vorbei. »Was denn?«
Sie rieb sich die Augen und versuchte, die Uhr an der Mikrowelle zu entziffern. »Wo warst du? Es ist jetzt fast acht.«
»Ich bin nach der Schule ein paar Runden in der Turnhalle gelaufen, und dann war ich einkaufen.«
Sie musterte mich, als glaubte sie mir nicht.
Was, wollte sie etwa, dass ich ihr verschwitzte Shorts zeigte? Einkaufstaschen? Kassenbons? Falls ich gewusst hätte, dass sie mich verhören wollte, hätte ich tatsächlich etwas gekauft, anstatt im Einkaufszentrum zu sitzen und zu lesen.
»Ich dachte, du arbeitest heute Abend«, sagte ich.
»Ich habe morgen eine wichtige Prüfung und habe mir frei genommen, damit ich lernen kann.«
Ich hob eine Augenbraue und musterte Brees Bettfrisur und ihr verschlafenes Gesicht: Ihr Lerneifer machte einen wirklich intensiven Eindruck. »Dann will ich dich nicht länger aufhalten.«
»Warte.« Dann flüsternd: »Deine Schwester hatte heute die Ultraschall-Untersuchung.«
Ich sah zum Dachboden auf. Dort brannte kein Licht, aber das bedeutete nicht unbedingt, dass Charly schon schlief.
Ultraschall. Na und? Falls Charly mir nicht mehr jedes groteske Detail ihrer Besuche beim Gynäkologen mitteilte, wollte ich es ganz sicher nicht von Bree zu hören bekommen. Ich kam die Treppe hinunter und ging bis zum Sofa, wo ich mit verschränkten Armen stehen blieb.
»Ich weiß nicht, ob sie darüber sprechen möchte«, fuhr Bree fort, »aber sie war ziemlich aufgewühlt. Sie hat hinterher geheult.«
»Warum?« Ein Schauer durchlief mich, der meine Wut mit sich fortspülte. »Stimmt was nicht mit dem Baby?«
»Nein. Das Baby ist gesund. Es ist ein Mädchen.«
Ein Mädchen.
»Es war sogar ziemlich toll. Die hatten eine dieser 3-D-Ultraschallmaschinen und man konnte ihre kleinen Knie und Ellenbogen und Fingernägel sehen.«
Ein Mädchen.
Ich spürte, dass Bree mich musterte und auf irgendeine Reaktion hoffte. Deshalb blieb ich vollkommen neutral. Ich blinzelte ein paarmal. »Okay. Also dann, gute Nacht.«
Sie antwortete nicht.
Ich kehrte ihr den Rücken zu und ging die Treppe hoch. Dieses Mal hinderte sie mich nicht daran.
Schlafen. Haha.
Erst hörte ich Charlys Atem zu. Dann, wie Bree ihren Abend mit stumpfsinnigen Tätigkeiten vertrödelte: Sie fegte den Küchenboden, summte Musicalnummern, telefonierte mit Richard, kochte sich Kräutertee und absolvierte ihre Zahnpflege bei geöffneter Badezimmertür.
Als es endlich still wurde, wünschte ich mir, dass es nicht so war.
Ein Mädchen. Und sie war hier mit uns im Bett. Ob sie wohl wie Charly aussah? Oder wie Mom? Oder vielleicht hatte sie Charlys rezessive Mercer-Gene geerbt. Vielleicht sah sie mir ähnlich.
Es war egal, denn ich würde sie nie kennenlernen. Sie gehörte nicht uns. Sie konnte keine Mercer sein, war es nie gewesen, von dem bedeutungslosen Moment ihrer Empfängnis bis hin zu dem Moment, an dem sie sich einen Weg aus meiner kleinen Schwester bahnen würde. Warum fühlte ich mich dann so schmerzhaft leer, als hätte mir jemand etwas aus dem Leib gerissen? Schließlich war es ja nicht einmal mein Körper, den sie sich teilte.
Charly rollte in die Mitte des Betts und begann zu schnarchen. Ich kapitulierte, nahm mein Kissen und die extra Bettdecke, die Charly bereits auf den Fußboden getreten hatte, ging nach unten und legte mich auf das Sofa.
Ich konnte meine Gedanken einfach nicht von ihr weglotsen. Nicht Charly. Von ihr – dem echten, lebendigen Mädchen mit einem schlagenden Herzen und Fingernägeln und Ohrläppchen und Wangen und Wimpern und allem, all das in Charly drin.
Worüber konnte ich sonst nachdenken?
Ezra. Ich hatte ihn ganz aus meinen Gedanken verbannt, aber ich brauchte ihn jetzt, nur für diese eine Nacht. Ich konnte zulassen, mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn die Dinge anders gelaufen wären. Ich hatte die Ablenkung verdient, selbst wenn es eine Lüge war. Seine Stimme, seine Augen, seine warmen Hände auf meinem Rücken – ich schloss die Augen und tat, als dürfte ich wirklich von all dem träumen.
Nur für einen Augenblick.
Aber ich hatte es noch nie geschafft, mir selbst etwas vorzumachen. Die Realität kann man nicht einfach wie die Lautstärke am Fernseher runterfahren. Als wir noch klein waren, hatte Charly sich immer lauter Sachen vorgestellt und mich dazu gezwungen, mitzumachen. Ich hatte ihr den Gefallen getan, schaffte es aber nie richtig.
Und was Ezra anging, schrien die Tatsachen viel zu laut, und mein Lautstärkeregler war hinüber. Mir etwas vorzumachen würde bedeuten, vergessen zu müssen, dass Ezra seit jenem Nachmittag weder angerufen hatte noch vorbeigekommen war. Das alles bestätigte bloß, was Taylor gesagt hatte: Er war ein Frauenheld und ich nichts als ein warmer Körper. Ein warmer, einsamer, klettiger Körper. Und das, was sie nicht direkt ausgesprochen hatte – dass ich eine Schlampe war –, ließ mein Gesicht vor Scham und Wut brennen. Denn ich konnte mich noch nicht einmal verteidigen.
Das Sofa war nicht breit genug, um sich bequem umzudrehen. Also warf ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen auf die andere Seite und bettelte um Gnade, dass sich jemand meiner erbarmen und mich zurück ins Wasser werfen würde. Oder mich sonst wie von meiner Qual erlösen würde.
Als ich endlich einschlief, machte sich ein Albtraum breit.
Ich träumte, dass ich diejenige war, die schwanger war. Aber nicht mit einem Mädchen, sondern mit einem widerlichen Monster. Eine Ärztin zog es aus mir heraus. Es war grün und schwarz und glitt umher wie eine Schlange. Ich versuchte zu schreien, aber ich hatte nicht genügend Luft. Dann sah ich, dass die Ärztin eigentlich Charly war. Sie hielt das Ding in den Armen und schaukelte es hin und her wie ein Baby. Sie sah mich nicht einmal an. Ich versuchte ihr zu sagen, dass sie ein Monster in den Armen hielt, aber sie drehte sich weg, als könnte sie mich nicht hören. Als existierte ich gar nicht.
Ich zwang mich dazu, mit einem tiefen Atemzug aufzuwachen.
3:49. Die Uhr in der Küche leuchtete grünlich. Ich zitterte am ganzen Körper und meine Gedanken rasten. Dann zog ich die Decke fester um mich und wartete darauf, dass sich mein Verstand beruhigte und ich wieder wusste, was real war und was nicht.
Es dauerte ein paar Minuten. Aber schließlich wurde mein Herz wieder langsamer und die Panik verschwand. Und dann fühlte ich nichts als eine riesengroße Leere.
»Wo ist Charly?«, wollte Bree wissen.
Ich zeigte mit dem Daumen in Richtung Dachboden.
»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, sie zu wecken?«
Ich stellte die Müslischüssel in die Spüle und würdigte ihre Frage nicht mit einer Antwort. Charly zu wecken war ungefähr so, als würde man mit einem Stock auf einen Grizzlybär einschlagen – niemand machte das gerne freiwillig. Und außerdem war es nicht meine Aufgabe.
Sie nahm die Schlüssel vom Haken. »Bist du so weit?« Sie war so sauer, dass sie immer noch die Stirn runzelte, aber das war mir vollkommen gleichgültig. Sie konnte ja gehen und Charly wecken. Sie war schließlich diejenige, die Charly dazu überredet hatte, überhaupt zur Schule zu gehen. Ich hatte beiden gesagt, dass dieser Tag kommen würde, und sie hatten mich beide ignoriert.
Ich nahm meinen Rucksack auf die Schulter.
»Hat sie gestern die Ultraschalluntersuchung erwähnt?«, erkundigte sich Bree.
»Nein.«
»Hmmm. Ich hoffe nur, sie verschläft nicht den ganzen Tag. Gestern hat sie irgendwas von einem Mathetest gesagt.«
»Charly kümmert sich einen Scheißdreck um einen Mathetest.« Ich folgte Bree durch die Haustür und die Treppe hinunter.
»Nun, das sollte sie aber.«
»Nun, das tut sie aber nicht.«
Wir gingen stumm zum Auto.
»Ich will nur nicht, dass sie irgendwann nicht mehr mitkommt. Schule ist wichtig.«
»Ach wirklich?« Wieso war ich Bree gegenüber so sarkastisch? »Wenn sich ihr Hindernisse in den Weg stellen, vergräbt Charly sich wie ein Maulwurf. Mit Vorträgen holt man sie nicht wieder hervor. So läuft das einfach bei ihr. Sie langweilt sich oder ist gestresst oder etwas bringt sie aus der Fassung, und schon macht sie dicht. Ehrlich, ich bin ziemlich erstaunt, dass sie es einen ganzen Monat an der Schule ausgehalten hat.« Ich stieg in den Wagen, während Bree die Scheiben mit dem Eiskratzer bearbeitete. Es war nicht direkt gewalttätig, aber sie waren in weniger als einer Minute eisfrei.
Bree stieg ein und knallte die Tür ordentlich zu. »Ich finde nur, dass es viel ausmachen würde, wenn du ihr ein wenig unter die Arme greifen könntest, du weißt schon, sie etwas zu motivieren?«
Ich starrte durch die frisch freigekratzte Windschutzscheibe und spürte, wie mein Herz klopfte. Jetzt zurückzustecken, wäre klug gewesen. Gleichmut wäre klug gewesen. Selbst sich die Finger in die Ohren zu stecken wäre an dieser Stelle klüger gewesen als das, was ich wirklich machen wollte.
Schließlich hatte sie es mehr als nur verdient, dass man ihr mal die Meinung sagte.
»Als du noch so wild darauf warst, dass Charly unbedingt zur Schule gehen sollte«, antwortete ich, »habt ihr mich beide zum Buhmann gemacht. Egal, dass ich diejenige bin, die sich die Charly-Show ansehen muss, seit ich denken kann. Ich meine, es ist ja toll, wie enthusiastisch du jetzt deine Ausbildung in Angriff nimmst, aber vielleicht hättest du eher an deine eigenen Tage als Highschool-Versagerin denken sollen, ehe du Charly dazu überreden wolltest, schwanger zur Schule zu gehen.«
Bree zuckte sichtbar zusammen.
Ich saß mit verschränkten Armen vor der Brust im Auto und versuchte nicht zu zittern. Keine von uns sagte für den Rest der Fahrt einen Ton.
Sie hielt vor der Schule an und ich stieg aus. Ehe ich die Tür hinter mir schließen konnte, fragte sie mich: »Und was ist mit dir und Ezra?« Ihre Stimme war rosig wie immer. Sie schauspielerte zu gut, als dass auch nur der Anflug eines Lächelns über ihre Lippen gehuscht wäre, aber da war ein gewisses Leuchten.
Ich warf die Tür zu.
Ich hatte fest damit gerechnet, dass Charly immer noch im Bett lag und in Selbstmitleid schwelgte, als ich von der Schule zurückkam, aber sie saß auf dem Sofa, trug eines ihrer neuen Schwangerschaftsoberteile und die Jeans mit dem elastischen Bund. Sie hatte sich die Haare gelockt und war geschminkt.
»Du bist auf.«
»Ja.«
»Bree hat sich fast in die Hose gemacht, weil du nicht in die Schule gegangen bist.«
»Ich werde mit ihr reden.«
Ich ging direkt in die Küche. Unhöflicherweise hatte Dr. Ashton meine Mittagspause mit einer spontanen Bibliotheks-Inspektion unterbrochen. Mr Langer war es vielleicht egal, dass Leute in den Nischen aßen, aber sie sah das anders. Erst hatte sie die Knutscher in der übernächsten Nische voneinander getrennt, und dann hatte sie mein Sandwich beschlagnahmt.
»Wozu die Kriegsbemalung?«, erkundigte ich mich und nahm einen Laib Käse und etwas Aufschnitt aus dem Kühlschrank. Es gab zumindest eine fünfzigprozentige Chance, dass sie mir antworten würde. Ich hielt es für besser, nicht darauf herumzuhacken, dass sie endlich eingeknickt war und die Schwangerschaftsklamotten trug.
»Ein Paar aus Calgary kommt hierher, um sich mit mir zu treffen.«
Ich nahm Brot und begann, mir ein Sandwich zusammenzustellen. Es dauerte einen Moment, ehe mein ausgehungerter Verstand registrierte, dass sie über Leute sprach, die ihr Baby wollten. Ein Adoptionsgespräch – deshalb war Bree so angespannt gewesen, weil Charly noch im Bett gelegen hatte. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass Charly es nicht auf die Reihe bekäme. Und natürlich hatte sie es mir nicht sagen können, weil ich ja nicht zu denjenigen gehörte, denen sie alles anvertraute.
»Wann?«
Sie sah zur Wanduhr auf. »In anderthalb Stunden.«
»Hier?«, schob ich schnell meine nächste Frage nach, fast zu schockiert darüber, dass sie mir tatsächlich geantwortet hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich treffe mich in einem Restaurant mit ihnen.«
Ich biss in mein Sandwich und kaute ungefähr dreißig Mal.
In einem Restaurant. Sie verriet mir weder den Namen noch den Ort, als hätte sie Angst davor, dass ich ihr kleines Abendessen stören könnte. War die Sache bereits entschieden oder war es ein erstes Gespräch? Ich konnte sie nicht danach fragen. Ich konnte sie überhaupt nichts fragen, aber wie um alles in der Welt wusste Charly, was sie über das Paar herausfinden sollte?
Tausend Dinge schwirrten in meinem Kopf umher: Gibt man ihnen einfach das Baby und dann sieht man es nie mehr wieder? Sind sie klug? Gehen Sie zur Kirche? Mögen sie lieber Hunde oder Katzen? Wählen sie? Trennen sie ihren Müll? Benutzen sie jeden Abend Zahnseide?
Ich schluckte den Bissen hinunter und nahm einen neuen. Ich konnte keine einzige dieser Fragen laut aussprechen.
***
Ich war allein im Apartment, als das Telefon von irgendwoher klingelte. Ich wühlte unter den Sofakissen nach ihm. Bree rief mindestens einmal pro Abend an, wenn sie bei McSorley’s arbeitete, um sich zu vergewissern, dass wir die Wohnung nicht abgefackelt hatten oder entführt worden waren. Als ich es einmal gewagt hatte, nicht zu antworten und der Anrufbeantworter angesprungen war, war sie total ausgeflippt und früher nach Hause gekommen.
Ich fand den Apparat nach dem sechsten Klingeln und drückte auf Antworten, ehe ich auf dem Display sah, wer anrief. Öffentliche Bücherei Banff. Mist.
»Hallo.«
»Hi.«
Er war dran.
»Amelia?«
»Ja.«
»Ich bin’s, Ezra.«
»Ja.«
Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Dann fragte er: »Wie geht’s dir?«, zur exakt gleichen Zeit, als ich es schaffte »Wie geht’s denn so?« auszuspucken. Darauf folgten ein gleichzeitiges »Prima/Gut« und dann ein paar weitere Sekunden peinlicher Stille.
»Also, ich hab’ dich längere Zeit nicht gesehen«, sagte er.
Nein, das hast du nicht, seit deine wunderschöne, an einer Psychose leidende Exfreundin mich beschimpft hat. »Ich hatte viel zu tun.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, erklärte er. »Für das, was neulich passiert ist.«
»Lass es.« Neulich? Das war jetzt drei Wochen her. Der angemessene Zeitraum für eine Entschuldigung war längst verstrichen.
»Du hast es nicht verdient, Zielscheibe für Taylors Zorn zu werden.«
»Es ist okay.«
»Nein, das ist es nicht. Ich hätte es nicht zulassen dürfen, und ich hätte dich auf jeden Fall früher anrufen müssen. Ich habe mich in den letzten zwei Wochen wie ein Idiot gefühlt.«
»Drei.«
»Richtig, drei Wochen.«
»Das ist eine lange Zeit, um sich wie ein Idiot zu fühlen. Du armer Junge.«
Er ignorierte meinen Sarkasmus. »Ich dachte, du würdest nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. So, wie du dich anhörst, lag ich nicht falsch.«
»Nein.«
Er hielt inne. »Nein, ich lag nicht falsch, oder nein, ich lag falsch?«
»Es war mir peinlich. Ich war noch nie in so einer Situation.«
»Ja, Taylor ist vollkommen ausgeflippt.«
»Nein, ich meine, ich gehöre nicht zu der Sorte Mädchen, die in einer öffentlichen Bücherei rummachen. Oder sonst wo. Nie.« Super. Jetzt dachte er wahrscheinlich, dass ich total prüde war.
»Also ging alles zu schnell.«
»Genau, und dass du dann in der Versenkung verschwunden bist, hat auch nicht gerade geholfen.«
»Es tut mir leid. Ich hatte die ganze Sache wirklich nicht vorgehabt.«
Das klang schrecklich. Als ob er sich jetzt beim besten Willen nicht mehr vorstellen konnte, warum er mich geküsst hatte.
»Und es war ganz sicher nicht der Plan, dass Taylor vorbeikommen würde.«
»Habt ihr beide überhaupt offiziell miteinander Schluss gemacht?«
»Natürlich!« Er klang entrüstet. »Wir sind schon seit vor Weihnachten nicht mehr zusammen.«
Mein Magen rebellierte, und eine Mischung aus Aufregung, Wut und Schock wirbelte in mir herum. Ich hatte die letzten drei Wochen damit verbracht, mich damit abzufinden, dass ich nie wieder von ihm hören würde. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass wir uns jetzt tatsächlich unterhielten.
»Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil es dir mies geht«, fuhr er fort. »Das hast du wirklich nicht verdient. Und die Sachen, die Taylor zu dir und über mich gesagt hat – nichts davon stimmt.«
»Aber du bist mir nicht nachgekommen.«
Noch mehr Stille. Jede einzelne Faser meines Körpers wollte ihm vergeben, wollte eines dieser Mädchen sein, die kicherten und ignorierten, was ignoriert werden musste. Aber ich war immer noch ich, und es war immer noch so, dass er mich geküsst hatte, bis mir schwindelig geworden war, und mich dann drei ganze Wochen hatte denken lassen, dass ich ihm nichts bedeutete.
»Du machst es Typen nicht gerade leicht, was?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Was kann ich tun?«
»Vielleicht wäre ich bereit, eine Art Buße für dich auszuhandeln.«
»Ich höre.«
Mein Gehirn streikte. Was brauchte ich von Ezra? Schließlich konnte er nicht ungeschehen machen, was passiert war. »Ich weiß auch nicht«, antwortete ich. »Vielleicht solltest du versuchen, mich zu beeindrucken, und ich werde es dich wissen lassen, falls ich mich dazu entschließe, dir zu verzeihen.«
»Gib mir zumindest einen Hinweis darauf, was dich beeindrucken würde.«
»Ich könnte auf jeden Fall etwas Sonnenschein aus Florida vertragen.«
»Prima. Das sollte ja nicht weiter schwierig sein. Wie wäre es mit Orangensaft aus Florida?«
»Vergiss es.«
Er seufzte. »Okay, ich werde dran arbeiten.«
»Viel Glück«, wünschte ich ihm und fragte mich, ob er wohl das Lächeln in meiner Stimme hörte.
»Und, wie läuft’s so mit Bree?«
Bree, mein Lieblingsthema. Ich wollte gerade beginnen, mich zu beschweren, als ich innehielt. Ezra hatte es viel schlimmer getroffen als ich. Wenigstens lief ich nicht durch die Gegend und fühlte mich für die geistige Gesundheit eines anderen Menschen verantwortlich. So sehr mir meine Situation auch auf den Geist ging, sie war zumindest nur vorübergehend. »Ganz gut. Langsam normalisiert sich alles. Wir haben unsere Routine, damit wir uns nicht auf die Nerven gehen. Wie sieht’s bei dir aus?«
»Nichts Neues. Ich bin tatsächlich gerade dabei, die Bücherei abzuschließen und wegzufahren. Ich bin übers Wochenende in Calgary. Wie sehen deine Pläne aus?«
Ich konnte einfach nicht zugeben, dass sich meine Pläne um Charly, Bree und Richard drehten oder besser gesagt darum, Charly, Bree und Richard aus dem Weg zu gehen. Aber so war es nun mal. »Nichts Festes bisher. Was machst du in Calgary?«
»Nichts Besonderes.«
»Nur, damit du es weißt, Teil deiner Buße ist, ab und zu die ein oder andere Frage zu beantworten.«
Er lachte auf. »Na schön, ich übernachte bei Freunden an der Uni.«
»Im Studentenwohnheim?«
»Nein. Sie wohnen außerhalb des Campusgeländes. Wir waren alle zusammen an der Highschool.«
Ich konnte ihn schlecht danach fragen, ob es sich dabei um Jungs oder Mädels handelte, ohne eifersüchtig zu klingen, aber der Gedanke daran, dass er vielleicht mit einem Haufen Mädchen eine Pyjamaparty feierte, machte mich ziemlich sauer.
»Die meisten Leute, mit denen ich rumhing, sind letztes Jahr nach dem Schulabschluss nach Calgary gezogen«, erklärte Ezra.
»Nur du nicht.«
»Nur ich nicht.«
Falls man unsere Unterhaltung mit dem Reifen eines Fahrrades vergleichen konnte, waren wir gerade bis zur Bürgersteigkante hochgekommen und rollten jetzt wieder zurück. Das bedeutete allerdings nicht, dass das Gespräch ein vollkommener Reinfall war. Er hatte schließlich die ein oder andere Frage beantwortet und sogar freiwillig Informationen preisgegeben, ohne dass ich ihn hatte ausquetschen müssen.
»Und, wie läuft’s in der Schule?«, fragte er nach einer kleinen Pause.
»Geht so. KARMA ist lahm, aber irgendwie auch lustig. Heute hat uns Ms Hill darüber belehrt, dass rassistische Beleidigungen nicht nett sind.«
»Oh ja, diesen Teil hätte ich fast vergessen: Multi-Kulti für Fanatiker. Welche Kurse hast du sonst noch so?«
»Mein Fotografie-Kurs ist der einzige, der Spaß macht, aber ich kann es nicht besonders gut. Die Tests am Anfang waren ziemlich einfach, aber ich stelle mich reichlich blöd an, wenn’s ans Fotografieren geht. Wir machen bald ein umfangreiches Projekt, bei dem ich vielleicht ein oder zwei Stunden im Schnee sitzen muss.«
»Nur gut, dass du so wild auf Schnee bist.«
»Nicht wahr?«
»Falls du Hilfe beim Fotografieren brauchst, solltest du meine Mom fragen.«
»Oh. Ja.« Das hatte ich ganz vergessen. »Es würde ihr nichts ausmachen?«
»Soll das ein Witz sein? Sie würde es klasse finden. Sie findet dich klasse.«
»Was? Sie kennt mich doch gar nicht. Sie hat mich nur einmal für zwei Minuten gesehen.«
»Sie findet jede klasse, die nicht Taylor ist.«
Das T-Wort. Die darauf folgende Stille war die längste und bisher unangenehmste. »Vielleicht rufe ich sie dann mal an«, sagte ich schließlich. Ich hatte es mit genau dem richtigen Maß an unbestimmtem Enthusiasmus gesagt, um die Unterhaltung nicht ganz einschlafen zu lassen. Naomi würde ich allerdings nicht anrufen. Es stank mir nämlich, ständig mit anderen Mädchen verglichen zu werden. Erst mochte mich Will weniger im Vergleich zu Charly und jetzt mochte mich Naomi mehr im Vergleich zu Taylor?
»Okay«, antwortete er. »Wir sehen uns dann.«
Er hatte nicht vorgeschlagen, dass ich ihn in der Bücherei besuchen sollte.
»Klar.«
»Also dann, ich muss jetzt los.«
»Fahr vorsichtig«, ermahnte ich ihn. »Und mach eine Pause, falls du müde wirst.« Als ich Grandmas Ratschläge aus meinem Mund hörte, überrollte mich Heimweh. Tränen schossen mir in die Augen und ich blinzelte sie schnell weg, froh darüber, dass er mich nicht sehen konnte.
Ezra lachte auf. »Die Fahrt dauert bloß eine Stunde. Ich glaube, das sollte ich schaffen.«
»Woher willst du wissen, dass du nicht vielleicht an Narkolepsie leidest? Und im Übrigen ist es nicht gerade die schlauste Art, dein Bußprojekt zu starten, indem du mich auslachst.«
»Ja richtig. Ich muss den Sonnenschein von Florida auftreiben.«
»Viel Glück.«
»Gute Nacht.«
Ich legte auf und zog die Knie bis an die Brust. Ich wollte an Ezra denken, einfach auf meinem Bett liegen und jedes einzelne Wort, das er von sich gegeben hatte, analysieren. Ich wollte mir sein Gesicht und seinen Mund vorstellen, während er es sagte. Ich könnte ihm glauben.
Aber dann war da noch die andere Stimme, diejenige, die gemeine Dinge sagte. Sie gehörte Taylor und dann auch wieder nicht, denn an irgendeinem Punkt waren ihre Worte zusammengeschmolzen, und ich hatte sie in eine neue Form gegossen. Es war jetzt meine eigene Stimme.
Als Charly nach Hause kam, hätte ich beinahe so getan, als schliefe ich schon. Es hätte funktioniert, denn ich lag schon im Bett und las in einem schmalzigen Selbsthilfe-Buch, das ich mir aus Brees Bücherregal stibitzt hatte. Charly hatte es in letzter Zeit oft genug selbst so gemacht und dann immer dafür gesorgt, dass sie das ganze Bett in Beschlag nahm. Langsam hatte ich schon das Gefühl bekommen, auf dem Sofa zu Hause zu sein.
Aber ich wollte mit ihr reden. Nein. Ich wollte, dass sie mit mir redete.
»Hey«, sagte ich.
»Hey.«
Sie zog ihr Stirnband aus den Haaren und ließ sich neben mich auf das Bett fallen. Sie seufzte so tief, als hätten ihre Lungen den Seufzer den ganzen Abend über unterdrückt.
»So toll?«, fragte ich.
»Ja. Nein. Ich weiß auch nicht.«
So lief das also jetzt zwischen uns. Ich blätterte in dem Buch um und versuchte wieder zu lernen, wie ich meine eigene Innere Göttin zum Vorschein bringen sollte.
»Eigentlich war es ziemlich gut«, sagte sie leise.
Sie hatte mir den Rücken zugedreht, aber ich sah sie sicherheitshalber trotzdem nicht an. Es kam mir fast vor, als wollte ich ein Eichhörnchen füttern. Dabei musste man auch jeglichen Blickkontakt vermeiden.
»Die waren nett, richtig nett.«
»Ach ja? War Bree mit dabei?«
»Nein. Ich bin allein gegangen.«
Halleluja. Allerdings hätte jemand zumindest die wichtigsten Dinge gefragt, wenn Bree mitgegangen wäre. Auf sich selbst gestellt, konnte es gut sein, dass Charly sich den ganzen Abend über ihr Lieblingsessen und Haarschmuck unterhalten hatte.
»Zuerst war ich mir nicht so sicher«, fuhr Charly fort. »Sie sieht irgendwie komisch aus, sie hat ihre Augenbrauen gezupft, bis fast nichts mehr übrig geblieben ist, und hat sie dann nachgezogen, weißt du?«
»Ja.«
»Aber dann war sie doch ziemlich cool.«
Nett und cool. Allgemeiner ging’s kaum noch. Bitte, Charly, bitte sag, dass du mehr als das herausgefunden hast. Mein eigener Fragenkatalog schwirrte nur so in meinem Gehirn umher. Aber Charly war noch zu schreckhaft, als dass ich ihn ihr um die Ohren hauen konnte. Sie würde sofort dicht machen.
Aber wenn ich ihr wenigstens eine einzige Frage stellen könnte, welche würde ich nehmen? Was musste sie wissen, wonach sie bisher nicht gefragt hatte?
Ich wollte gerade etwas sagen, als sie wieder anfing. »Sie heißt Summer. Sie ist Krankenschwester in einem Altenheim, und er macht irgendwas Langweiliges mit Computern. Ich hab nicht richtig hingehört. Aber sie will ihren Job aufgeben und zu Hause bleiben, wenn das Baby da ist. Falls … du weißt schon. Egal, jedenfalls hat sie Regenbogenforelle bestellt, was ich sowieso schon komisch fand. Als das Essen kam, habe ich total gemerkt, dass es ihr nicht schmeckte.« Charly hielt kurz inne, vielleicht um nachzudenken oder um Luft zu holen, oder vielleicht wollte sie bloß, dass ich mich fragen sollte, worauf sie hinauswollte. »Aber sie hat keinen Ton gesagt. Vielleicht wollte sie sich nicht vor mir blamieren oder vielleicht gehört sie zu der Sorte Mensch, die sich nicht darüber beschweren, wenn ihr Essen eklig ist. Keine Ahnung. Aber dann hat er mit ihr getauscht. Ryan. Er heißt Ryan.«
Noch eine Pause. Ich stellte es mir vor: Der Computerfreak-Ehemann schiebt seinen Teller unauffällig seiner Frau zu, deren aufgemalte Augenbrauen sich zunächst erstaunt und dann dankbar heben.
»Also hat Ryan ihre ekelhafte Regenbogenforelle gegessen und sie seine Ravioli«, brachte Charly die Geschichte zu Ende.
»Das ist irgendwie nett«, erwiderte ich.
»Genau. Amelia?«
»Ja.«
»Ich geb dir eine Million Dollar dafür, wenn du mir die Zähne putzt und die Füße massierst.«
Ich warf das Selbsthilfe-Buch auf den Boden und schnappte mir einen ihrer Füße. »Die Zähne putz ich dir nicht.«
»Okay.«