KAPITEL 19

Ms Lee hatte ausdrücklich gesagt, dass ihre Tür immer offen stünde. Ich erinnerte mich ganz genau an diese Unterhaltung. Aber entweder log sie oder sie hatte es im übertragenen Sinn gemeint, denn ihre Tür war nie offen.

Während der nächsten Woche ging ich jeden Tag an ihrer geschlossenen Tür vorbei, was riskant war, weil Dr. Ashtons Büro direkt daneben lag, und ihre Tür war nie zu. An einem Tag konnte sie jedem, der an ihrem Büro vorbeikam, schokoladenüberzogene Espressobohnen anbieten, nur um am nächsten jedem einen Schulverweis anzudrohen, der Schnee in ihr Büro trampelte. Ein Pulverfass war nichts dagegen.

Schließlich klopfte ich einfach an.

»Herein!«, rief Ms Lee.

Ich schlüpfte schnell in ihr Büro und schloss die Tür hinter mir.

»Amelia.«

»Hallo.«

»Passiert was im Flur?«, erkundigte sie sich und runzelte die Stirn. Anscheinend war ich zu schnell in ihr Büro gestürzt. »Nein, Dr. Ashton spricht nur gerade mit dem UPS-Typen und ich … wollte nicht im Weg sein.« Tatsächlich hatte sie gerade voller Bewunderung seine Armmuskeln angefasst und dabei mit ihrer Halskette gespielt und ich war froh gewesen, dass sie abgelenkt war. Sie hatte diese Woche bereits zweimal mein Mittagessen konfisziert.

»UPS-Typ«, wiederholte Ms Lee und grub ihren Daumennagel in eine Orange.

Der Zitrusduft traf mich wie ein Schwall kaltes Wasser. Ich fragte mich, ob Dads Bäume dieses Jahr tatsächlich mal Früchte trügen.

»Der Jüngere?«, erkundigte sie sich.

»Genau.«

Sie verdrehte die Augen. »Setz dich doch.«

Ich setzte mich und schaute mich auf ihrem Schreibtisch um, wo die Überreste ihrer Mahlzeit verstreut lagen – eine leere Suppenschüssel, Krümel auf einem Teller, eine Coladose (Coke-Diéte) – sowie ein langweilig aussehender Roman mit verwelkten Blumen auf dem Cover. Und die Kakteen. Oder sagte man Kaktusse? Mein Terrakotta-Blumentopf stand am Ende der perfekten Reihe und sah immer noch lächerlich aus.

»Also, wolltest du etwas mit mir besprechen?«

»Ja.«

Sie hatte die Orange inzwischen gepellt und bot mir ein Stück an.

Ich nahm es. »Mein Dad hat ein paar Zitrusbäume in unserem Garten. Größtenteils Orangen und Limetten. Ein paar Mandarinen.«

»Im Ernst?«, staunte sie.

Die ungezogene Amelia hätte sie jetzt gefragt, ob ihr Leute oft Lügen über Zitrusfrüchte auftischten. »Ja, wirklich.«

»Weißt du was, ich habe noch nie eine Orange an einem Baum gesehen«, gab sie zu. »Ich meine, natürlich auf Bildern. Und die Orangensaftkartons lügen wahrscheinlich nicht, sodass ich glaube, dass sie so wachsen. Das muss für dich verrückt klingen.«

»Ungefähr so verrückt, wie es in Ihren Ohren klingen muss, dass ich noch nie Schnee gesehen hatte, bevor ich hierherkam.«

Sie grinste, und ich verstand plötzlich, warum Charly mit ihr reden konnte. Sie war die perfekte Mischung aus ruhig und offen.

»Charly hat es mir gesagt«, platzte es aus mir heraus.

Sie legte die Orange auf den Schreibtisch. Anscheinend konnte sie nicht mehrere Dinge auf einmal erledigen.

»Gut.« Ihre Pause war lange genug, dass ich darüber nachdenken konnte, einfach wieder zu gehen.

»Ich …« Mir fehlten die Worte.

Ms Lee nickte aufmunternd und wartete darauf, dass ich mehr sagte.

»Warum konnte sie es mir nicht sagen?«

»Sie hat es dir doch gesagt.«

»Ich meine, nachdem es passiert war. Oder als sie herausgefunden hat, dass sie schwanger ist. Oder zu jedem anderen Zeitpunkt bis jetzt.«

»Hast du sie gefragt?«

»Ja und sie hat lauter Zeug gesagt, das keinen Sinn ergibt. Dass sie nicht wollte, dass ich sie in einem anderen Licht sehe und dass sie sich schuldig fühlte und dass ich so sauer auf sie war, dass sie Angst davor hatte, dass ich ihr nicht glauben könnte. Ich kann nicht … ich kann nicht …«

Ich legte die Hand auf die Stirn und hielt sie dort in der Hoffnung, dass ich nicht so jämmerlich aussah, wie ich mich fühlte.

»Ich kann es einfach nicht fassen, dass sie dachte, ich würde ihr nicht glauben. Schließlich geht es hier um eine Vergewaltigung! Und um meine eigene Schwester! Wie konnte sie das bloß denken?«

Ms Lee blickte erst aus dem Fenster und sah mir dann ins Gesicht. »Mag sein, dass du nicht verstehst, warum Charly so reagiert hat, aber das bedeutet nicht, dass ihre Reaktion deshalb falsch war. Sie ist nicht genau wie du und fühlt anders, als du es vielleicht tun würdest. Außerdem gibt es bei Sexualverbrechen noch Dinge, die ein Außenstehender nur schwer nachvollziehen kann.«

»Wie die Tatsache, dass sie sich schuldig fühlt.«

»Ganz genau. Es ist irrational. Ich weiß das, sie weiß es, du weißt es. Aber manchmal ist es nicht das Gleiche, zu wissen, dass es nicht die eigene Schuld ist und es wirklich zu fühlen. Das braucht Zeit und ist ein hartes Stück Arbeit.«

Ich saß vollkommen regungslos da. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie über Charly oder über mich sprach.

»Amelia, was möchtest du?«

Ich starrte sie an. Wollte sie mich etwa rausschmeißen?

»Was möchtest du jetzt in diesem Augenblick?«, stellte sie ihre Frage erneut.

Das war bestimmt die dümmste Frage, die mir je gestellt worden war. »Dass das alles nie passiert wäre.«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Zeitreise. Was möchtest du jetzt

Diesmal zögerte ich nicht. »Ich möchte, dass sie mir vergibt. Und ich möchte eine bessere Schwester sein.«

Ms Lee lächelte mich traurig an. »Du bist keine schlechte Schwester. Nach dem zu urteilen, was Charly mir über dich erzählt hat, bist du größtenteils eine wirklich gute Schwester. Wir alle machen Dinge, die wir später bereuen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass es dir schwerfällt, Dinge zu akzeptieren, die nicht vollkommen perfekt sind. Sowohl für dich selbst als auch für den Rest der Welt, meine ich. Habe ich recht?«

»Kann schon sein.«

»Auch das braucht Zeit«, erklärte sie. »Du musst lernen, Grauschattierungen zu erkennen und nicht nur schwarz oder weiß zu sehen. Da fällt mir ein, wir sollten uns über nächstes Jahr unterhalten.«

Nächstes Jahr. Ich konnte noch nicht einmal an nächste Woche denken.

»Es gibt viele Universitäten, hier und in Florida, die immer noch Bewerbungen für das Herbstsemester annehmen, aber langsam wird die Zeit knapp und ich habe das Gefühl –«

»Darüber kann ich im Moment einfach nicht nachdenken. Keine Angst, ich werde es schon machen und mich bei irgendeiner zweitrangigen Uni bewerben, aber es ist ja wohl offensichtlich, dass ich gerade ganz andere Sorgen habe.«

»Das ist so eine Grauton-Situation«, erwiderte sie. »Du hast alles auf Columbia gesetzt und verloren, aber das muss nicht alles oder nichts bedeuten. Wenn ich mir deine Zeugnisse ansehe, sehe ich eine junge Frau, die seit Jahren viel für ihre akademische Zukunft gemacht hat.«    

Ich spielte mit meiner Kette und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie gerade gesagt hatte.

»Eines Tages wirst du zurückblicken und bereuen, deine Zukunft weggeworfen zu haben, nur weil du nicht genau das bekommen hast, was du dir vorgestellt hast.« Sie blickte zur Uhr auf. »Ich habe jetzt leider einen Termin, aber ich denke, du solltest noch mal vorbeischauen.«

Ich antwortete nicht.

»Und ich möchte, dass du dir das hier einmal ansiehst«, fügte sie hinzu und zog ein Buch vom Regal. Vergewaltigung und die Folgen. Der Titel schrie mich vom Cover aus an und ich stellte fest, dass ich das Wort zum ersten Mal las, nachdem ich herausgefunden hatte, was Charly passiert war.

»Es ist keine einfache Lektüre, aber es wird dir dabei helfen zu verstehen, was Charly gerade durchmacht.«

Ich ließ das Buch in meine Tasche gleiten und stand auf. »Können Sie mir bitte eine Frage beantworten?«

»Natürlich.«

»Meinen Sie, dass Charly es meinem Dad und meiner Grandma erzählen sollte?«

»Das kann ich nicht entscheiden.«

»Aber das habe ich ja nicht gefragt. Ich möchte Ihre Meinung hören. Sie braucht meine Hilfe und ich weiß nicht, was ich ihr raten soll.«

Ms Lee schüttelte energisch den Kopf. »Das ist ja gerade das Problem. Du kannst ihr nicht sagen, was sie tun soll – es ist nicht deine Entscheidung und auch nicht meine Entscheidung. Es ist ganz allein Charlys. Sie muss sie selbst treffen.«

»Aber …« Ich hörte, wie meine Stimme höher und angestrengter wurde, kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich hasste dieses Gefühl, die Kontrolle über meinen eigenen Körper zu verlieren, als hätte jemand seine Finger um meinen Hals gelegt. »Aber Sie haben ihr doch gesagt, dass sie es mir erzählen soll, nicht wahr? Wo ist denn da der Unterschied? Warum kann ich ihr nicht sagen, wem sie es sonst noch sagen soll?« Meine Ohren schmerzten vom Klang meines eigenen Gejammers.

Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, und sie legte eine Hand auf meine Schulter. Wow. Sah ich wirklich so mitleiderregend aus, dass eine Lehrerin sich genötigt fühlte, mich zu trösten? Dennoch wich ich nicht vor ihr zurück.

»Ich habe ihr nicht gesagt, dass sie es dir sagen soll. Ich habe ihr gesagt, dass es ihr unter Umständen helfen könnte, damit fertig zu werden, wenn sie darüber spricht. Sie hat sich selbst dazu entschieden, es dir zu sagen, Amelia.«

Das hätte mich glücklich machen sollen, aber das tat es nicht. Es war trotzdem sechs Monate zu spät.

Ms Lee öffnete die Tür und wartete, bis ich herausgeschlurft war. Der Flur war leer. Kein UPS-Typ in Sicht, und Ashtons Tür war zum ersten Mal in dieser Woche geschlossen.

Ms Lee drückte mir ein letztes Mal die Schulter. »Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe. Über nächstes Jahr.« Dann ließ sie mich allein zurück.

Was ich jetzt mehr als alles andere auf dieser superkalten Welt brauchte, war, Ezra über den Weg zu laufen. Nein, ich brauchte mehr. Eine zufällige Begegnung wäre nicht gut genug. Ich wollte, dass er mich auf meinem Nachhauseweg abpasste, wie er es schon ein paarmal getan hatte, oder dass er noch mal bei Bree auftauchte. Das war jetzt eine Woche her.

»Gehen wir rein?«, fragte Charly.

Wir standen an der Kreuzung Beaver Street und Caribou Road und starrten auf das mit Schnee bedeckte Schild der Bücherei. Weiß auf Grau.

»Nein.«

»Gehst du rein?«

»Nein.«

»Bist du dir sicher? Es ist wesentlich einfacher, sich mit einem Typen zu vertragen, wenn man sich im gleichen Raum befindet.«

»Ich muss mich nicht mit Ezra vertragen.«

»Lügnerin.«

»Wir haben uns nicht gestritten.«

Sie verdrehte genervt die Augen. »Ich habe eine Stunde mit einer Folge von The Bachelor zugebracht, die ich schon gesehen hatte, damit du mit ihm allein sein konntest. Wenn ihr euch nicht nähergekommen seid und euch nicht gestritten habt, dann war die ganze Stunde die reinste Zeitverschwendung. Und zwar für uns beide.«

Die Ampel schaltete auf Grün um, und wir starrten auf das blinkende Männchen.

»Lass uns nach Hause gehen«, sagte ich, drehte mich um, und begann, durch den Schnee zu stapfen.

»Im Ernst?«

Ich ging weiter. Ich hätte Charly erst gar nicht erlauben sollen, mich hierherzuschleifen. Falls er die Sache zwischen uns wieder in Ordnung bringen wollte, würde er vorbeikommen oder zumindest anrufen, aber das hatte er nicht getan. Und außerdem war die Balance zwischen uns von Anfang an schief gewesen. Ich war immer die Verletzliche gewesen, die mehr von sich preisgab, mehr fühlte und sich in eine Position manövrierte, um verletzt zu werden. Damit musste jetzt Schluss sein.

»Wovor hast du solche Angst?«, rief sie mir hinterher.

Ich antwortete nicht. Es war schwer zu sagen.

»Bist du wach?«

Ich stöhnte.

»Sorry, ich dachte, du bist wach.«

»Weil meine Augen zu waren oder weil ich mich nicht bewegt habe?«

»Sorry. Schlaf wieder ein. Es sei denn, du bist wirklich wach.«

»Jetzt schon«, murmelte ich.

»Ich kann nicht schlafen.«

»Wahrscheinlich, weil du mir ins Ohr zischst.«

Und dann fiel es mir wieder ein.

Würde es immer so sein – würde ich es einen Augenblick lang vergessen und mich dann auf einen Schlag wieder daran erinnern? Nein. Als ich ganz zu Anfang herausgefunden hatte, dass sie schwanger war, war es genauso gewesen. Es hatte bloß ein paar Wochen gedauert, bis ich mich nicht mehr jeden Morgen aufs Neue daran erinnern musste und sie schon gleich beim Aufwachen dafür hasste, dass sie sich ein Kind hatte andrehen lassen.

Das alles rückgängig zu machen war aber nicht einfach. Ich war nämlich zu lange grundsätzlich sauer auf Charly gewesen und hatte sie deshalb schon mehrmals angeblafft, ehe mir wieder eingefallen war, was passiert war. Und dass das, was zwischen uns schiefgelaufen war, gar nicht ihre Schuld war.

»Warum kannst du nicht schlafen?«

»Mich juckt’s überall. Es ist so schlimm, dass ich am liebsten die Haut vom Bauch kratzen würde.«

»Dann creme dich halt ein.«

»Ich habe einen ganzen Topf Jojobabutter auf dem Bauch und habe trotzdem das Gefühl, als hätte ich tausend Mückenstiche.«

»Schön, aber du hörst besser auf zu kratzen oder du kriegst fiese Schwangerschaftsstreifen.« Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber ihr Kratzen störte mich mächtig beim Schlafen. »Hey, weißt du noch, als wir Windpocken hatten und Grandma uns in ein Bad mit Haferflocken gesteckt hat?«

»Nicht so richtig«, antwortete sie. »Wie alt war ich da, sechs?«

»Meinst du, das waren wirklich Haferflocken oder ein besonderes Badeprodukt mit Haferflockenzusatz?«

»Keine Ahnung. Ich kann mich an nichts aus der ersten Klasse erinnern, abgesehen davon, dass du Nathan Barnes verprügelt hast.«

»Der kleine Scheißer hatte es nicht besser verdient. Schließlich hatte er dir den Wimpel vom Fahrrad gerissen. Ob Bree wohl Haferflocken hat? Ich geh mal nach unten und sehe nach.«

Ich schlich auf Zehenspitzen nach unten und durchsuchte den Vorrat.

»Und?«, fragte Charly, als ich zurück nach oben kam. Sie hatte die Bettdecke weggezogen und ihr Hemdchen nach oben gerollt, sodass ihr glänzender Bauch zu sehen war. Offensichtlich hatte sie nicht gelogen, was die Jojobabutter anging.

»Nichts. Es sei denn, du glaubst, dass ein Bad mit einem Päckchen Pfirsichcreme-Haferflockenbrei etwas bewirken könnte.«

Sie schnaufte verächtlich und fing dann an zu kichern. »Ich könnte es einfach zubereiten und dann auf den Bauch schmieren.«

»Erdbeertörtchens weniger bekannte Freundin ›Geschwängerte Pfirsichcreme‹.«

Sie fing an zu lachen, also machte ich weiter.

»Die Puppe, die alle Eltern ihren Töchtern kaufen wollen. Komplett mit dehnbarer Schwangerschaftshose und abnehmbarem Keuschheitsring.«

Das versetzte ihr den letzten Stoß. Es war noch nicht einmal besonders lustig, aber sie gab dieses komische Prusten von sich, wie sie es immer machte, kurz bevor ihr die Tränen kamen. Ich hatte keine andere Wahl, als ihr den Rest zu geben.

»Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg separat erhältlich.«

Als Charly endlich wieder normal atmen konnte, kam Bree die Treppe zu uns hochgestampft.

»Alles in Ordnung?«, japste sie und klammerte sich mit beiden Händen an das Geländer, als hätte sie sich nur mit der Kraft ihrer Arme hochgezogen. Ihre Augen waren so groß wie Golfbälle und ihre platinblonden Haare sahen wie der Heiligenschein eines Punks aus.

Charly versuchte, ihren Schluckauf zu unterdrücken, musste stattdessen prusten und fing dann wieder an zu lachen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Es war wirklich nicht besonders witzig.«

Bree stöhnte und warf sich auf das Fußende des Betts. »Ich hasse euch beide. Habt ihr überhaupt eine Ahnung, dass es drei Uhr morgens ist? Zur Strafe werde ich euch morgen als Versuchskaninchen benutzen, um einen Tropf anzulegen.«

»Es tut mir leid«, brachte Charly hervor und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Morgen wird es dir noch viel mehr leidtun. Ich habe heute bei fünf Versuchen kein einziges Mal eine Vene erwischt. Und was war überhaupt so lustig? Und wieso riecht es hier wie im BodyShop?«

»Jojobabutter. Und Amelia war …« Charly seufzte. »Ich kann es dir noch nicht einmal erzählen oder ich muss wieder lachen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Noch mal: Es war gar nicht so lustig.«

Bree rollte auf meine Beine. »Autsch! Du bist zu knochig. Aber mal ehrlich: Mein Herz schlägt immer noch wie wild. Ich dachte, wir hätten es mit vorzeitigen Wehen zu tun.«

Charly schnaufte wieder und brach dann erneut in hysterisches Gelächter aus.

»Nein, es sei denn, wie eine Hyäne zu lachen kann Wehen hervorrufen«, entgegnete ich.

»Noch bin ich zwar keine Krankenschwester, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Antwort Nein ist. Gute Nacht, Mädels.« Bree stand vom Bett auf und winkte uns müde zu, ohne sich zu uns umzudrehen. »Wenn ihr mich noch mal weckt, gibt es morgen Katheder.«

»Wo wir gerade beim Thema sind«, sagte ich zu Charly und stieß mit der Faust in das Kopfkissen, ehe ich mein Gesicht darin vergrub. »Mir ist vollkommen egal, ob du nicht mit dem Lachen aufhören kannst – aber wenn du hier ins Bett machst, bring ich dich um, ich schwör’s.«

»Dir auch eine gute Nacht.«

Es dauerte bis zum nächsten Samstag, bis Ezra vorbeikam. Allerdings nicht persönlich, sondern elektronisch.

An:  ameliamerc@gmail.com

Von:  ezramackenzie@gmail.com

     Bist du gerade beschäftigt?

Ich las die Nachricht mehrmals und listete dabei auf, was alles fehlte: ein Betreff, eine Grußformel, eine Nettigkeit, eine Entschuldigung, eine Erklärung, eine Abschiedsformel. Oh, und vielleicht noch eine Bemerkung darüber, dass es eine ganze Woche her war, seit er vollkommen sauer von hier weggegangen war, nachdem ich es gewagt hatte, ihm eine persönliche Frage zu stellen.

Ich sah nach, wann die E-Mail abgeschickt worden war. Vor ein paar Minuten. Ich tippte eine Antwort.

A: Diese Frage hasse ich.

Ich wartete. Und wartete. Und wartete.

Dann erschien Ezra schreibt … auf dem Bildschirm und ich atmete aus.

E: Warum?

A: Im Ernst?

E: Im Ernst.

A: Falls ich Nein sage, muss ich Ja zu dem sagen, was auch immer du vorhast. Außerdem bedeutet es, dass mein Leben lahm ist. Und Ja bedeutet, dass ich kaum Ja zu deinem Vorschlag sagen kann, ohne klettig zu wirken. Und außerdem muss ich mir jetzt eine gute Lüge ausdenken, weil ich mir gerade Hockey-Trainingseinheiten auf YouTube anschaue und du unter Umständen findest, dass ich deshalb nicht beschäftigt bin. Aber ich finde schon, dass ich beschäftigt bin.

E: Wow. Vergiss, dass ich gefragt habe.

Nein. Nein, nein, nein, nein. Er konnte nicht tatsächlich glauben, dass das ernst gemeint war.

Meinte er das ernst?

Mist, deshalb hatte mich Savannah immer mit ihren Emoticons genervt. War es zu spät, ihm ein K nur Spaß!!! K zu schicken? Oder lieber ein Zwinkersmiley?

Dann erschien die Ezra schreibt …-Zeile auf dem Bildschirm und rettete mich vor einer Blamage.

E: Hast du Lust, mit nach Calgary zu kommen?

Calgary. Ich sah auf die Uhr. Es war jetzt halb fünf. Selbst wenn wir sofort losführen, kämen wir nicht vor sechs Uhr dort an. Die meisten Geschäfte machten samstags um sechs Uhr zu.

A: Jetzt?

E: Deshalb habe ich ja gefragt, ob du gerade beschäftigt bist.

Ich tippte meine Antwort und war froh, dass Charly gerade oben in unserem Zimmer war und nicht das blöde Grinsen auf meinem Gesicht sah.

A: Was habe ich davon?

E: So viel heiße Schokolade, wie du willst.

A: Instantkakao?

E: Natürlich nicht. Starbucks.

A: Sei vorsichtig, was du versprichst – ich könnte dein ganzes Gehalt auf den Kopf hauen.

E: Mach dir keine Sorgen. Ich habe dem Manager Nachhilfe in Mathe gegeben. Er verdankt mir seinen Schulabschluss.

A: Zahlst du eigentlich für irgendwas in dieser Stadt?

E: Soll das eine Beschwerde sein?

A: Nö. Ich komme mit …

Es dauerte einen Moment, ehe erneut Ezra schreibt … auftauchte.

E: Möchtest du denn gar nicht wissen, warum wir nach Calgary fahren?

A: Schon, aber ich werde nicht danach fragen.

Mein Herz pochte in den Ohren, während ich auf seine Antwort wartete. Ich meinte es wirklich. Ich wollte ihn nicht mehr dazu zwingen, mir etwas zu sagen. Oder sonst jemanden.

E: Hole dich in einer halben Stunde ab.

»Charly!«, brüllte ich. Sie war gerade oben und räumte auf. Ich hatte ihr angedroht, den iPod, den Bree ihr geliehen hatte, in einer Schneewehe zu vergraben, wenn ich heute Abend nicht den Fußboden in unserem Zimmer sehen konnte. »Kommst du ohne mich zurecht, falls ich mit Ezra nach Calgary fahre?«

»Aber wer wird mich dann füttern?«

»Urkomisch.«

»Und was ist mit meinem Hintern? Wer wird mir den abwischen?«

»Ich komme wahrscheinlich erst spät zurück.«

»Also dann musst du mir auf jeden Fall einen Babysitter besorgen, der mir meinen Schlafanzug anzieht und meinen Rücken streichelt, bis ich eingeschlafen bin.«

»Wie läuft’s so mit dem Aufräumen?«

»Halt die Klappe.«

Ezra fuhr schneller als sonst. Zu schnell. Bei jeder Kurve auf der Schnellstraße wurde mir ganz flau im Magen, und ich stellte mir vor, wie Ezra die Kontrolle verlor und sich der Geländewagen überschlug.

»Also, das Reh …«, begann ich.

»Welches Reh?«

»Das Reh, das einen Abdruck auf der Seite deines Autos hinterlassen hat.«

»Ach, das Reh«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Das ist aus dem Nichts aufgetaucht. Ich war letztes Jahr auf dem Rückweg von Jaspers Haus. Die Straße war echt glatt und es dämmerte. Ungefähr so wie jetzt.«

»Du glaubst also nicht, dass es damit zu tun hatte, dass du zu schnell gefahren bist?«

»Nein.« Er warf einen Blick auf den Tacho. »Und die Delle ist auf der Seite. Das Reh ist mir also ins Auto gelaufen.«

»Okay.«

Er sah wieder auf den Tacho.

Ich sagte nichts, als das Auto etwas langsamer wurde und er Cruise Control aktivierte.

»Und, wie läuft’s so?«, erkundigte er sich.

»Wie es läuft?« Es lief alles verkehrt herum – nicht schrecklich, aber verwirrend. Aber darüber konnte ich nicht mit ihm sprechen. Charly hatte mir nicht gesagt, dass ich die Vergewaltigung für mich behalten sollte. Die Vergewaltigung. Ich konnte immer noch nicht an das Wort denken, ohne dass alles in mir wehtat. Aber es war nicht meine Tragödie und es stand mir nicht zu, es anderen zu erzählen. Und außerdem war ich damit durch, Ezra mein Herz auszuschütten.

»Schule ist okay«, erwiderte ich. »Bree ist gut gelaunt wie immer. Charly wird mit jedem Tag dicker und schlechter gelaunt. Alles wie immer.«

Ezra sah auf die Uhr und gab wieder Gas.

»Sind wir spät dran?«, fragte ich und bereute es auf der Stelle. So viel dazu, dass ich keine Fragen stellen wollte. »Nicht, dass wir noch unsere eigene Beerdigung verpassen.«

Ezra grinste. »Ich muss was vor sechs an der Uni abgeben.«

Ich nickte. Was. Einen Liebesbrief, eine Bombe, ein Bücherei-Buch. Die Möglichkeiten waren unbegrenzt, doch ich würde ihn nicht danach fragen.

»Du weißt schon, dass heute Samstag ist, oder?«

»Klar. Der Professor, dem ich das hier geben will, hat gesagt, dass er bis um sechs in seinem Büro ist.« Er zog einen braunen Umschlag aus dem Fach in der Fahrertür und legte ihn mir auf den Schoß. Er war nicht versiegelt und die beiden Metallklammern, die in der offenen Lasche steckten, waren noch nicht umgebogen.

Ich hielt die Arme neben dem Körper und zwang mich dazu, aus dem Fenster zu sehen.

»Willst du nicht nachschauen, was da drin ist?«

»Weiß ich nicht. Willst du, dass ich nachsehen soll?«

Ein halbes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Du bist ein richtiges Ekelpaket!«

»Danke gleichfalls.«

»Na schön. Ja, Amelia. Würdest du bitte in den Umschlag sehen? Und würdest du bitte die erste Seite lesen und mir dann sagen, was du davon hältst, ohne dich dabei wie ein verzogenes Gör zu benehmen? Ich bin nämlich ziemlich nervös deswegen.«

»Schön, aber nur weil du mich so sehr darum bittest«, murmelte ich und zog einen akkuraten Papierstapel hervor.

Ganz oben lag ein Brief, der an einen Professor Matthis gerichtet war. Ich überflog ihn schnell. Es war die Bitte um eine Empfehlung.

»Du kennst diesen Professor?«

»Als ich in der Elften war, habe ich den Sommer über ein Praktikum in seinem Labor gemacht. Er ist Physiker.«

»Ein Physiker, der sechzehnjährige Praktikanten beschäftigt?«

»Ich war siebzehn und normalerweise macht er das nicht, aber das war ein landesweites Stipendium-Programm-Dingsda.«

Ich blätterte durch die Seiten. Eine Bewerbung für die Universität von Calgary, Highschool-Zeugnisse, ein paar Briefe von Lehrern der Banff Highschool, eingeschlossen Ms Lee und Mr Wozniak, dem Mathelehrer. Ich blätterte zurück auf die erste Seite der Bewerbung. Herbstsemester. Er bewarb sich für das Herbstsemester.

»Ezra.« Das war alles, was ich hervorbrachte. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und drückte ihn. Ich war dermaßen glücklich und erleichtert und neidisch, dass ich das Gefühl hatte, explodieren zu müssen.

»Glaubst du, ich mache einen Fehler?«

»Natürlich nicht. Soll das ein Witz sein? Und ist dieser ganze Papierkram echt? Ich habe noch nie eine Bewerbung gesehen, die nicht online gemacht wird.«

»Ich habe die Bewerbungsfrist verpasst und kann mich deshalb nicht online bewerben. Aber ich habe gestern Abend mit Professor Matthis gesprochen, und er hat darauf bestanden, dass er sich um meine Bewerbung kümmern würde, falls ich ihm alles heute bringe. Er fliegt heute Abend zu einer Konferenz nach Dallas, aber er meinte, dass der Dean meine Unterlagen vielleicht noch annähme, falls er sie ihm vorlegen könnte, ehe er wegmuss.«

»Dieser Matthis muss dich aber mögen.«

Ezra antwortete nicht, sondern strich mit der Hand über die Bartstoppeln an seinem Kinn.

Meine Finger blätterten noch einmal durch jede Seite. »Augenblick mal, wenn du erst gestern Abend mit ihm gesprochen hast, wie hast du dann die Zeugnisse und die Briefe von Lee und Wozniak bekommen?«

»Lee und Wozniak waren leicht. Ich hab sie gestern Abend noch angerufen und die Briefe heute Morgen abgeholt.«

»Aber was ist mit den Zeugnissen?«

»Ja, Ashton aus ihrem Kater aufzustören und sie dazu zu bringen, die Schule aufzuschließen, das war schwieriger. Deshalb bin ich so spät dran.«

Ich hob eine Augenbraue. »Will ich wissen, was du dafür tun musstest?«

Sein Gesichtsausdruck war grimmig, und er schüttelte den Kopf. »Dinge, auf die ich nicht stolz bin.«

Mir rutschte der ganze Unterlagenstapel vom Schoß. Einer der Briefe flatterte auf den Boden und ich versuchte ihn aufzufangen, während Ezra sich kaputtlachte.

»Das war bloß ein Witz.«

»Weiß ich doch.«

»Allerdings habe ich ihr damit gedroht, einen anonymen Brief an die Schulbehörde zu schreiben, dass sie das konfiszierte Marihuana von Schülern für sich behält. Aber nur, damit sie wach wurde. Ich glaube, sie wusste, dass ich nur Spaß gemacht habe.«

»Tut sie das wirklich?«

»Behält sie das Gras? Keine Ahnung, aber es schien zumindest wahrscheinlich genug, um es als Druckmittel einzusetzen.«

Ich versuchte, den Dreck auf der Rückseite des Briefes mit dem Handrücken abzuwischen, und legte ihn dann zurück in den Umschlag. »Tut mir leid.«

»Kein Problem. Ich glaube, ein bisschen Dreck wird keinen Unterschied machen. Ich habe die ganze Nacht damit zugebracht, die Aufsätze zu schreiben, und habe bestimmt einen Haufen Fehler gemacht. Aber in der Mathe- oder Physik-Fakultät kann sowieso niemand gut schreiben.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Ich sah zu, wie sich die Gebirgsausläufer langsam zu einer weißen Prärie verwandelten und der Himmel dunkler wurde. Ich hatte das Gefühl, als führen wir auf dem Mond. Aber dann sah ich die Lichter Calgarys, die in der Ferne wie Glühwürmer glitzerten, und saß plötzlich mit baumelnden Beinen und erdbeerroten Fingern im Schwarznussbaum mit Charly.

Ich wandte mich Ezra zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich noch darüber nachdenken und es mir anders überlegen konnte.

Er sagte nichts. Ich sagte nichts. Wir fuhren bloß weiter. Wir kamen nicht von der Straße ab und stießen auch nicht mit irgendeinem Tier zusammen. Wir sahen allerdings einige Rehe, die entlang der Schnellstraße wild umhersprangen. Als wir endlich auf den Parkplatz vor dem Physik- und Astronomie-Gebäude fuhren, war es sechzehn Minuten nach sechs.

»Nur noch zwei Autos«, sagte ich. »Und nur drei Lichter im ganzen Gebäude. Das sieht nicht gut aus.«

Ezra war komplett gestresst und beachtete meine nervigen Kommentare gar nicht. »Er hat gesagt, er muss um sechs Uhr los, damit er seinen Flug kriegt. Wahrscheinlich habe ich ihn verpasst.«

»Lauf. Ich warte hier.«

Ezra parkte ein und flitzte dann sofort los.

Mein Herz klopfte wild, während ich ihm dabei zusah, wie er in dem gedrungenen Backsteingebäude verschwand. Wieso war ich so nervös? Falls er diesen Typen verpasst haben sollte, bedeutete das ja noch lange nicht, dass er nicht im Herbstsemester angenommen würde, oder? Allerdings hatte ich noch nie davon gehört, dass ein Professor überhaupt eigene Regeln für eine Bewerbung aufstellen durfte. Vielleicht reichte selbst sein Einfluss nur bis zu einem gewissen Punkt.

Ich sah auf die Uhr. 6:17. Ich hörte dem Knattern der Autoheizung zu, spielte mit der Verriegelung der Tür, stellte das Radio an. Schon wieder Céline Dion? Ich stellte das Radio aus. Dann durchsuchte ich das Handschuhfach – Smarties und eine Sprühdose gegen Bären. 6:18. Wieso klopfte mein Herz immer noch so wild? Ich stellte das Radio wieder an. Justin Bieber? Im Ernst? Ich stellte das Radio wieder aus. Schließlich starrte ich einfach nur auf die Uhr. 6:19. 6:20. 6:21.

Wann hatte er es sich anders überlegt? Und wann hatte sich sein Entschluss, Naomi nie zu verlassen, geändert? Mich hatte Charlys Offenbarung derart überwältigt, dass alles andere – selbst der Streit mit Ezra – in den Hintergrund getreten war.

Mit einem Mal öffnete sich die Eingangstür. Ezra kam heraus. Lächelnd. Er drehte sich um und hielt die Tür für einen Mann auf, der sogar durch mehrere Schichten aus Wolle, Fell und Gore-Tex, in die er eingemummelt war, wie ein Nerd aussah. Er lächelte auch. Ezra begleitete ihn zu seinem Wagen. Sie standen in der eisigen Kälte und unterhielten sich, während Ezra die dünne Schneeschicht wegwischte, die auf die Windschutzscheibe des Autos gefallen war. Der Mann stieg ein, ließ den Motor an, und gerade als ich mir sicher war, dass sie fertig waren, stieg er wieder aus und setzte das Gespräch fort. Schließlich wurde es mit einem Händeschütteln und Schulterklopfen beendet, der Mann stieg wieder ein und Ezra joggte zum Geländewagen herüber.

»Und?«, fragte ich.

»Ja.« Er zitterte vor Kälte, musste aber trotzdem grinsen. »Das war er.«

»Das habe ich vermutet. Und?«

»Und wir sollten irgendwo feiern gehen.«