Königwerdung

Auf einem Feld ist eine gewaltige Armee aus verschiedensten Soldaten versammelt – Menschen, Zwerge und sogar Elfen. Durch ihre Mitte reitet ein junger General und erteilt den Zugführern zackig Anweisungen. Er ist gutaussehend, besitzt hohe Wangenknochen und funkelnde blaue Augen. Seine Rüstung und sein Schwert strahlen einen feurig-roten Schimmer aus.

Der General zieht das Schwert aus der Scheide, schwingt es über dem Kopf und zeigt damit auf den Höhenzug vor der Armee. Dahinter hat sich eine schwarze Wolke gebildet, die Verzweiflung ausstrahlt, und darunter befindet sich eine andere Armee – entstanden aus einem Albtraum.

Die Armeen beginnen, gegeneinander vorzurücken.

Grelles Weiß blitzte auf.

Ein riesiger Oger geht über eine natürliche Steinbrücke, die sich über eine Kluft spannt. Ihn peitscht ein Wind, der ihn in den Abgrund zu wehen droht. Der Oger trägt einen Harnisch, der in makellosem Weiß leuchtet und bei jeder Bewegung Funken sprüht. Das Schwert in der Scheide an seiner Seite ist ein gewaltiger Beidhänder mit einem roten Knauf.

Hinter dem Oger folgt ein blauäugiger Zauberer mit besorgtem Ausdruck im bärtigen Gesicht. In einer Hand hält er einen funkelnden Metallstab, in der anderen einen glitzernden Diamanten der Größe einer Melone. Der Edelstein pulsiert vor strahlender Macht.

Von der gegenüberliegenden Seite der Brücke nähert sich ein Unhold aus Schwärze und Feuer, der nach Schwefel stinkt und Hitze abstrahlt. Der Unhold ist genauso groß wie der Oger. Auch er trägt ein riesiges Schwert.

Als sich die beiden hünenhaften Ungetüme, Oger und Unhold, in der Mitte der Brücke begegnen, macht sich eine weitere Präsenz bemerkbar. Hinter dem Unhold am Rand des Abgrunds steht eine dunklere, spürbar böse Erscheinung, so gewaltig, dass sie sowohl den Unhold als auch den Oger in den Schatten stellt.

Der Oger prallt mit dem Unhold zusammen, und der Zauberer hebt den Diamanten über den Kopf.

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* * *

Mit einem Stöhnen erwachte Ryan Riverton abrupt. Jede Nacht derselbe Traum .

Gähnend streckte er sich und versuchte, das leise Schnarchen seines Bruders Aaron im Bett nebenan zu ignorieren. Dann lächelte er vor Aufregung, als ihm einfiel, welcher Tag anstand.

Schließlich kam es nicht allzu oft vor, dass Menschen, mit denen man zusammenlebte, zu König und Königin gekrönt wurden.

Noch vor zwei kurzen Jahren wäre selbst der Gedanke unmöglich gewesen. Andererseits schien fast alles unmöglich zu sein, was ihnen seit dem schicksalhaften Tag ihrer Ankunft in Trimoria begegnet war. Magie. Bärtige Zwergenkrieger. Elfen. Böse Zauberer. Dämonen. All das hätte der Ryan Riverton, der mit seiner Familie im Bundesstaat Washington gelebt hatte, für etwas aus einem epischen Fantasy-Roman gehalten. Damals waren sein Bruder und er stinknormale Schüler an der Highschool gewesen. Seine Mutter war zu der Zeit Lehrerin, sein Vater ein Techniker, der sich als Hobby eine Schmiede in der Nähe der Garage gebaut hatte. Ihr Leben war gewöhnlich. Gut, aber gewöhnlich.

Dann fuhren sie vor zwei Jahren auf Urlaub nach Arizona ... und saßen unverhofft mitten in einem Erdbeben in einer Höhle fest. Und als es endete, befanden sie sich in Trimoria ...

Dafür hatten sie immer noch keine vernünftige Erklärung. Allerdings war Trimoria insgesamt ein Land, das sich jeder vernünftigen Erklärung entzog.

In dieser Welt war Ryan ein Zauberer. Ein waschechter Zauberer – sogar in Trimoria unglaublich selten. Auch sein Vater war Zauberer, wenn auch wider Willen. Jared Riverton zeigte weit mehr Begeisterung für seine neue Laufbahn als Schmied. Seine Mutter Aubrey hatte festgestellt, dass sie magische Heilkräfte besaß. Sein Bruder Aaron wiederum, mittlerweile 17, zwei Jahre jünger als Ryan, war mit außergewöhnlicher Stärke gesegnet, die er durch intensives Training in schier unglaubliches Kampfgeschick ausgeweitet hatte.

Und das waren noch die geringsten Veränderungen in Ryans Leben. Denn es gab Prophezeiungen in Form von Träumen, die jeder Bewohner Trimorias jede Nacht hatte, und sie sagten schicksalhafte Rollen für sowohl Ryan als auch Aaron vorher.

Aaron sollte als General eine Armee anführen.

Ryan war der Zauberer auf der Brücke.

Eine ziemliche Verantwortung für zwei gewöhnliche Teenager aus Washington.

Ein Hämmern an der Tür ließ Ryan zusammenzucken. Aaron erwachte abrupt und sprang aus dem Bett, als hätte jemand seine Unterwäsche angezündet.

»Aufwachen, Jungs!«, ertönte Dads dröhnende Stimme. »Zeit, sich auf die Krönung vorzubereiten. Zieht euch was Ordentliches an und kommt in zehn Minuten ins Wohnzimmer.«

Aaron stöhnte. »Ich hasse es, wenn ich meine formelle Kluft tragen muss.«

Ryan lachte. »Mich hörst du nicht darüber jammern.«

»Das liegt daran, dass du dir ja nur eine schönere Robe über den Kopf ziehen musst. Ist doch dieselbe Aufmachung, die du immer trägst. Ich muss mich in volle Rüstung schmeißen – und sie muss poliert sein.«

»Sie muss nicht poliert sein«, widersprach Ryan.

»Muss sie wohl, wenn ich nicht will, dass Throll einen Anfall kriegt. War schon schlimm genug, wenn mich der alte Throll angebrüllt hat. Künftig brüllt mich Throll, der gekrönte König von Trimoria, an.«

Das war die Kehrseite davon, Throlls Schützling zu sein. Der Mann konnte anspruchsvoll und ungeduldig sein, und Aaron bekam beides öfter als jeder andere zu spüren.

»Na schön,« sagte Ryan. »Ich helfe dir beim Anziehen.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Sobald ich mich in die gleichen Klamotten wie immer geworfen habe.«

Trotz der spitzen Bemerkung hatte Ryan für den besonderen Anlass tatsächlich seine beste Robe herausgelegt. Er wollte für seine Verlobte Arabelle gut aussehen, falls sie es rechtzeitig zur Zeremonie zurück in die Stadt schaffte. Rasch zog er sich an, dann machte er sich daran, seinem Bruder zu helfen.

Jedes Teil von Aarons Rüstung war von ihrem Vater gekonnt in Form gehämmert und anschließend von Ryan mit Magie durchwirkt worden. Durch Letztere schimmerte das Metall bläulich-weiß, das einzige äußere Anzeichen dafür, dass es wesentlich widerstandsfähiger war als bei einer gewöhnlichen Rüstung. Ryan half eigentlich nur bei der Brustplatte, deren Riemen er hinter Aarons Rücken festzog. Den gesamten Rest wollte sein Bruder unbedingt selbst anlegen. Anschließend unterzog Ryan ihn einer gründlichen Überprüfung und polierte alle Stellen nach, die es nötig hatten. Danach gingen sie zusammen die Treppe hinunter.

In der Diele stießen sie auf Sloane, Throlls 16-jährige Tochter – und Aarons Verlobte. Normalerweise trat sie knabenhaft auf. An diesem Tag jedoch trug sie ein umwerfendes Kleid aus feinem blauem Satin und das lange blonde Haar nicht wie sonst zu einem einzigen Zopf zusammengebunden, sondern in Form von anmutigen Locken bis hinunter zur Mitte des Rückens. Sogar Ryan bekam große Augen.

Es fühlte sich eigenartig an, verlobt zu sein. Allein das Wort zu benutzen, kam ihm fremd vor. Aber in Trimoria war es üblich, jung zu heiraten und sich noch jünger zu verloben. Und die Jungen störte es nicht. Aaron vergötterte Sloane, daran bestand kein Zweifel, und Ryan hatte sich auf den ersten Blick Hals über Kopf in Arabelle verliebt. So attraktiv Sloane gerade aussehen mochte, Arabelles Schönheit war unvergleichlich.

»Ihr zwei nehmt euch besser in Acht«, warnte Sloane und drehte sich in dem Kleid unbehaglich herum. »Mein Vater hat üble Laune. Wenn euch was an euerer Haut liegt, dann verkneift euch besser Scherze über ›Hoheit‹ und dergleichen. Er nimmt die Sache mit der Königswürde nicht gut auf.«

»Aber redet man einen König nicht so an?«, hakte Ryan nach. »Mit Hoheit, meine ich?«

Sloane seufzte. »Probiert es aus und wartet ab, was passiert. In diesem Haus will Seine Hoheit nur entweder ›Vater‹ oder ›Throll‹ genannt werden.« Sie zeigte auf Aaron. »Und wenn ich sage, probiert es aus, dann meine ich, tut das bloß nicht. Schon gar nicht du, Unruhestifter.«

Ryan schmunzelte. Aaron hatte den natürlichen Hang, Leute zu verärgern. Und er könnte sogar dumm genug sein, den Generalprotektor und künftigen König von Trimoria aufzuziehen.

Aaron bedachte Sloane mit einem schiefen Grinsen. »Tut mir leid, was hast du gesagt?«

Sloane schaute finster drein.

»Er ist bloß zu hingerissen von deiner Schönheit, um zuzuhören«, übte sich Ryan als Friedensstifter. »Du siehst wirklich toll aus, Sloane.«

Kokett lächelte sie, klimperte in Aarons Richtung mit den Wimpern und drehte sich auf Zehenspitzen, um ihr Kleid zu zeigen. Sie konnte schlagartig von verspielt und verführerisch zu ernst und einschüchternd umschalten. Und aus Ryans Sicht brauchte sie genau diese Eigenschaften, um mit seinem Bruder fertig zu werden, dessen Sturheit es locker mit dem störrischsten Maultier aufnehmen konnte.

»Ist das wahr, Aaron?«, fragte Sloane schüchtern. »Gefällt dir, was du siehst?«

Aaron errötete. »Das weißt du genau.«

Schnaubend rümpfte Sloane die Nase. »Tja, du sagst es mir nicht oft genug.«

»Das ist nicht fair«, wehrte sich Aaron. »Außer beim Essen, wenn deine Familie dabei ist, bekomme ich dich ja kaum zu sehen. Immer sonst, wenn ich nach dir suche, scheint deine Mutter dafür zu sorgen, dass du nicht erreichbar bist.«

Sloanes Züge hellten sich auf. »Du suchst nach mir?«

»Na ja, ich ...«

Wieder kam Ryan seinem Bruder zu Hilfe. »Er sucht ständig nach dir, weil du die schönste Frau der Welt bist und er es nicht ertragen kann, von dir getrennt zu sein – sagt er jedenfalls. Und jetzt lasst uns gehen, bevor wir noch Ärger kriegen, weil wir zu spät dran sind.«

* * *

Als sie das Wohnzimmer betraten, diskutierte Throll gerade mit einem kleinen Mann, der ein Wirtschaftsbuch hielt. Throlls Frau Gwen schaute belustigt vom Tisch aus zu, wo sie mit Ryans Eltern saß. Seine Mutter hielt Rebecca, Ryans kleine Schwester, die trotz der lauten Worte selig schlief.

»Ich habe um all das nicht gebeten!«, schimpfte der über zwei Meter große Waldhüter. »Wieso um alles in der Welt soll ich mir also den Kopf über die Steuersätze für Bauern zerbrechen? Oder mich darum kümmern, dass der Preis für Wolle steigt, weil irgendein Händler ein Monopol auf Mutterschafe in Trimoria hat?«

»Hoheit«, erwiderte der kleine Mann kläglich, »mir ist bewusst, das alles ist neu für Euch. Aber Ihr müsst eigene Regeln für den Handel und Gesetze für richtiges Verhalten aufstellen. Zumindest müsst Ihr Euch mit den von Euren Vorfahren eingeführten Gesetzen befassen und sie neu bewerten. Ihr müsst damit einverstanden sein, wenn Ihr sie durchsetzen wollt, findet Ihr nicht?«

Throll trat näher an den kleinen Mann heran. »Wie heißt du noch mal?«

Der kleine Bursche schaute zum baldigen König auf, der ihn hoch überragte. »M-Mein Name ist Grendel, Hoheit. Grendel Hawthorne. Ich war Oberwirtschafter von Cammoria. Damit ging die unerfreuliche Aufgabe einher, Azazel jährlich Bericht über die Erträge der Stadt und der umliegenden Gebiete zu erstatten. Aber in Wahrheit, Hoheit, bin ich auch Historiker. Ich interessiere mich sehr für die Zeit vor dem Dämoneneinmarsch.«

Throll atmete tief durch und legte eine Pranke auf Grendels Schulter. »Ich weiß zu schätzen, was du versuchst, Grendel. Und ich will eigentlich nicht übellaunig sein. Aber wie du sagst, das ist alles neu für mich. Ich muss einen Rat einsetzen, der mir hilft, die Gesetze zu prüfen und ...«

Aufgeregt fiel Grendel ihm ins Wort. »Oh ja! Ähnlich wie der Regierungsrat, der im Jahr 4953 für die Völker eingerichtet wurde. Es wurde als Teil des Tribunals von Taschkent verzeichnet und ...« Abrupt bremste er sich, als wäre ihm gerade bewusst geworden, dass er seinen König unterbrochen hatte. »Hoheit, es tut mir so leid. Ich neige dazu, mich hinreißen zu lassen. Es ist nur so, dass Euer Gedanke die Weisheit Eurer Vorfahren widerspiegelt. Was mich nicht überraschen sollte – es liegt nahe, dass ihre Weisheit durch Eure Adern fließt.« Er verneigte sich untertänig. »Ich bitte um Verzeihung, Hoheit.«

Plötzlich stimmte Throll grölendes Gelächter an und stampfte mit dem Fuß auf. Er lachte so ausgelassen, dass sich sein Gesicht rötete.

»Grendel«, brachte er dazwischen hervor und wischte sich eine Träne vom Auge, »du hast dir soeben einen Platz als Mitglied meines Rats gesichert. Ich brauche jemanden mit einem vernünftigen Kopf auf den Schultern und dem Mumm, ihn auch zu benutzen. Wir unterhalten uns später weiter.«

»Äh ... ja, Hoheit.« Mit verwirrter Miene verneigte er sich tief und ging. Fast im selben Moment kam Arabelle herein.

Wie so oft ließ ihr Anblick Ryans Herz einen Schlag aussetzen. Sie war wunderschön. Rabenschwarzes Haar umrahmte ihr hübsches Gesicht. An diesem Tag trug sie ein enganliegendes karmesinrotes Kleid, das ihre langen, eleganten Schritte über den Boden fegen ließen.

»Arabelle!«, hauchte er. »Du bist hier!«

Er rannte zu ihr, hob sie von den Füßen und zog sie in eine Umarmung, die sie zum Lachen brachte wie ein kleines Mädchen.

Als er sie wieder auf den Boden stellte, drückte er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. »Ich war mir nicht sicher, ob du es schaffen würdest. Wo ist dein Vater?«

»Hier«, ertönte eine Stimme aus dem Eingangsbereich. Arabelles Vater Honfrion – der Händlerkönig der Karawane – trat grinsend ein. »Um nichts in der Welt würden ein bescheidener Händler und seine Tochter eine so große Krönung verpassen wollen.«

Zenethar, Sloanes zweijähriger Bruder, stürmte aus der Küche herein und sprang in Arabelles ausgestreckte Arme. »Belle!«, rief er, dann kicherte er, als sie ihn am Bauch kitzelte. »Willst du mit Silver spielen?«

Silver war der Hauskater der Rivertons, der sich bei ihrer Ankunft in Trimoria in eine riesige Sumpfkatze verwandelt hatte. Er lag gerade eingerollt in einer Ecke des Zimmers und döste wie üblich.

Arabelle lachte. »Später vielleicht. Jetzt spiele ich erst mal mit dir.« Abermals kitzelte sie Zenethar und brachte ihn vergnügt zum Quieken.

Arabelles Vater trat vor Throll hin und räusperte sich. »Ich weiß die Einladung in Euer Haus zu schätzen, Hoheit ...«

Mit einem Knurren hob Throll die Hand. »Hör sofort auf, Honfrion. Sowohl deine Tochter als auch meine sind mit einem der Riverton-Brüder verlobt – was uns in meinen Augen zu Verwandten macht. Vom Rest der Leute da draußen muss mir diesen Quatsch von wegen Hoheit wohl gefallen lassen. Aber innerhalb der Familie und dieser Mauern will ich davon nichts wissen. Ich will ›Throll‹ genannt werden, wenn’s recht ist.«

Honfrion lächelte und zwinkerte. »Natürlich, Hoheit.«

Throlls Lippen zuckten, als er sich ein Lächeln verkniff. »Das war das letzte Mal, mein Freund. Ich heiße Throll, und ich kann dir versichern, das wird auch morgen noch so sein.«

»Ich hab euch ja gesagt, dass er knatschig wegen der Sache mit ›Hoheit‹ sein würde«, flüsterte Sloane.

Throll drehte sich seiner Tochter zu. »Ich bin nicht ...« Er verstummte, schüttelte den Kopf und lachte schließlich. »Na schön. Vielleicht bin ich ein bisschen angespannt. Tut mir leid, ihr alle. Ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten, diese Krönung hinter mich zu bringen.«

»Ich auch«, sagte Aaron. »Aber zuerst essen wir, oder?«

»Ja,« fügte Ryan hinzu. »Ich bin am Verhungern.«

Sloane und Arabelle wechselten einen Blick.

»Das war vorherzusehen, nicht wahr?«, meinte Sloane, und sie lachten beide.

* * *

Die letzten zwei Tage lang hatte sich Dominic in den Schatten versteckt. Aus der Düsternis hatte er die Vorbereitungen der Gebrüder Riverton auf die bevorstehende Krönung beobachtet. Und mit jedem Moment, den er beobachtete, wuchs sein Zorn. Diese Mistkerle werden nicht lange feiern , dachte er.

Als er in sein fensterloses Zimmer wankte, pochte sein Schädel. Er redete sich ein, dass die Kopfschmerzen von der ständigen Anspannung des Herumschleichens herrührten, nicht davon, dass er zu viel trank. Da ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war, durfte er um keinen Preis auffallen. Mit Hilfe von zwielichtigen Verbindungsleuten hier in Aubgherle hatte er eine Unterkunft gefunden, in der keine Fragen gestellt wurden – über einer Schänke, in der sich oft genau der Menschenschlag herumtrieb, den Dominic anheuern wollte. An diesem Tag jedoch hatte er keine Männer gefunden, die er brauchte. Also hatte er sich stattdessen starken Getränken zugewandt.

Allerdings hätte er es sich sparen können. Seit er Sammael an dem verlassenen Schrein in den Wäldern begegnet war, hatte sich alles geändert – auch das Trinken. Es bereitete Dominic keine Freude mehr, sondern bescherte ihm nur noch Kopfschmerzen. Die Geräusche, die von den Saufgelagen unten durch den Boden heraufdröhnten, waren nicht hilfreich.

Er hatte sich gerade auf seine klapprige Pritsche plumpsen lassen, als die Tür zu seinem Zimmer aufschwang. Ein verdreckter Mann mittleren Alters stolperte herein. In der Hand hielt er einen großen Bierkrug, dessen Inhalt durch die schwankenden Schritte auf den Boden schwappte.

Na toll, dachte Dominic. Ein Betrunkener, der nicht merkt, dass er ins falsche Zimmer getorkelt ist.

Der Mann blickte auf Dominic herab. »Ich hab gehört, du suchst ’nen M... Moi... äh ...« Er rülpste. »Moi... äh ...«

Unwillkürlich verspürte Dominic einen Anflug von Belustigung: »Meuchelmörder?«

Der glasige Blick des Mannes hellte sich auf. »Genau! Hab gehört, dass du einen suchst. Also ...« Er breitete die Arme aus, verneigte sich schwungvoll und verschüttete dabei den Großteil seines Getränks ans Fußende des Betts. »Hier bin ich.«

Dominic seufzte. »Hättest du aufmerksam zugehört, dann hättest du mitbekommen, dass ich nach einem Paar Meuchelmördern suche. Wenn du einen Freund hast und begabt bist, kann ich euch vielleicht gebrauchen. Wenn du weniger betrunken bist.«

Der Mann starrte ihn an, und Dominic sträubten sich die Nackenhaare.

»Wenn du genug Geld für zwei von uns hast«, sagte der Mann düster und plötzlich nüchtern, »kann ich den Lohn kassieren, und wir können das Geschäft sofort abschließen.«

Verdattert schüttelte Dominic den Kopf. »Nein. Bring deinen Freund her. Ich muss mich vergewissern, dass ihr die Richtigen für die Aufgabe seid.«

Der Mann sah sich in der Kammer um. Er kniff in der Düsternis die Augen zusammen und schloss die Tür hinter sich. Jegliche Anzeichen von Trunkenheit waren verschwunden. Der Zustand war offensichtlich vorgetäuscht gewesen.

Er baute sich vor Dominic auf, zog einen Dolch vom Gürtel, warf ihn ein Stück hoch und fing ihn mit sicherer Hand wieder auf. »Die Entscheidung solltest du vielleicht noch einmal überdenken«, schlug er abfällig vor. »Niemand würde etwas hören.«

Dominic lachte laut auf. »Da hast du nicht unrecht, mein Freund. Ich überdenke die Entscheidung tatsächlich gerade.«

Seine neu erlangten Kräfte regten sich in ihm. Dominic wob unsichtbare Energiefäden, wickelte sie um seinen ungebetenen Gast und zog sie schlagartig zusammen. Der angebliche Meuchelmörder schnappte nach Luft, als er vom Boden gehoben wurde. Sein Krug und der Dolch landeten klappernd auf den Dielen. Dominic schnippte mit den Handgelenken – und schleuderte seinen Gefangenen so wuchtig gegen die Wand, dass Holz splitterte.

Langsam stand Dominic auf und trat zu dem Mann hin. »Du hast völlig recht: Niemand wird etwas hören.«

Damit ballte er die Hand zur Faust, und sein Netz zog sich um den Gefangenen zusammen. Knochen knackten wie Zweige. Durchdringender Gestank breitete sich in der Kammer aus, als der verhinderte Mörder unwillkürlich seine Eingeweide entleerte. Dominic genoss den Augenblick, als er spürte, wie das Leben aus seinem Opfer entwich.

Das – das war sein neuer Rausch.

Das bereitete ihm nun Vergnügen.