Qualmende Überreste verbrannter Belagerungsmaschinen sprenkeln ein von Toten und Sterbenden übersätes Schlachtfeld. Ein Schaubild blanken Elends. Im Westen jedoch tobt die Schlacht noch.
Auf einer Seite kämpfen verzweifelt menschliche Soldaten. Unter ihnen befinden sich auch kleine, bärtige Krieger, die im Chor einen Sprechgesang rufen, während sie riesige Hämmer schwingen.
Auf der anderen Seite ... sind Dämonen.
Eine bunt zusammengewürfelte Horde. Manche sind braun gesprenkelt, andere knallrot, wieder andere schwarz wie die tiefste Nacht. Die kleinsten muten wie Kinder an, die größten ragen als gewaltige Monster über drei Meter hoch auf. Aber alle sind gefährlich, alle sind geschaffen für den Kampf. Sie schlitzen mit verheerenden, dolchartigen Klauen, beißen mit vorstehenden Fängen. Sogar die knöchernen Grate entlang ihrer Gelenke sind scharf genug, um Soldaten aufzuschlitzen, die das Pech haben, sie zu streifen.
Die Verteidiger fallen zurück, bewegen sich nach Osten. Sie können den Ansturm nicht aufhalten. Bald haben sie sich an einem Hügel versammelt, ihrem letzten Bollwerk. Auf halber Höhe den Hang hinauf spannt ein Kreis schlanker Kämpfer wieder und wieder Langbögen und entfesselt einen dichten Hagel aus Pfeilen auf den Feind. Und auf der Kuppe des Hügels, geschützt von einer niedrigen, umlaufenden Steinmauer, steht ein Mann in einer Robe und hält eine Kugel in der Hand.
Der Mann bildet einen krassen Gegensatz zum Schlachtfeld. Während alles um ihn herum in Trümmern liegt und alle Kämpfer blutverschmiert und gebeutelt sind, ist die weiße Robe des Mannes makellos, und er selbst wirkt ruhig. Nachdenklich.
Seine gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Kugel gebündelt.
Die Dämonenhorde drängt den Hügel hoch, durchbricht die Ränge der Soldaten. Einen Moment lang wirkt es so, als wäre alles verloren.
Dann hebt der Mann mit der Robe die Kugel hoch über den Kopf. Sie strahlt so hell, dass sich die Sonne im Vergleich dazu matt ausnehmen würde. Das Licht der Kugel weitet sich langsam aus, entfernt sich von dem Mann, wogt den Hügel hinunter und setzt sich auf den Feldern dahinter fort.
Jeder Feind, den es berührt, geht in Flammen auf und zerfällt zu Asche.
Das Licht breitet sich immer schneller aus, durchwirkt die Erde, bis es sich von Horizont zu Horizont erstreckt. Was Nacht war, ist zum Tag geworden. Eine sicher scheinende Niederlage hat sich in einen Sieg gewandelt.
Jared wälzte sich im Bett um und erwachte nur halb. Den Traum – die Prophezeiung – kannte er mittlerweile mehr als gut. Wie jeder Bewohner Trimorias wurde er jede Nacht davon verfolgt.
Ohaobbok überquert eine natürliche Steinbrücke über eine tiefe Kluft. Er trägt einen Harnisch, der in makellosem Weiß leuchtet und bei jeder Bewegung Funken sprüht. An seiner Seite hängt das größte Schwert, das Jared je gesehen hat. Die Klinge steckt in einer Scheide, aber der Knauf ist rot.
Ihm folgt Ryan mit bärtigem Gesicht. In einer Hand hält er einen funkelnden Metallstab, in der anderen einen glitzernden Diamanten der Größe einer Melone, der vor Macht pulsiert.
Von der anderen Seite der Kluft nähert sich über die Brücke eine Schreckensgestalt aus Schwärze und Feuer, ein Unhold. Die Erscheinung ist genauso groß wie Ohaobbok und schwingt ein ebenso riesiges Schwert, umhüllt von Flammen.
Als Ohaobbok in der Mitte der Brücke auf den Unhold trifft, erscheint auf der anderen Seite eine dunkle, spürbar böse Präsenz. Sie ist gewaltig. Sowohl der Unhold als auch der Oger nehmen sich im Vergleich zu ihr zwergenhaft aus.
Ryan erhebt den Diamanten über den Kopf.
Auch dieser Traum gehörte zur Prophezeiung. Der Prophezeiung, die seiner Familie eine tragende Rolle in der Zukunft Trimorias zuschrieb.
Aber in dieser Nacht verlief der Traum anders. Jared erlebte ihn in halbwachem Zustand. Er hatte die Augen geschlossen ... oder doch nicht? Fühlen konnte er nichts. Träumte er oder war er ... tatsächlich dort?
Er spürte, wie ihn eine merkwürdige Ruhe überkam, als ein Feld von Weiß alles verschlang, was er sehen konnte.
Und dann ertönte eine Stimme.
»Sei gegrüßt, Jared Riverton.«
Jared blickte sich um. Er sah weit und breit nur Weiß. »Hallo? Wer bist du? Was ist hier los?«
»Mein wahrer Name wäre für dich unverständlich. Du kennst mich vielleicht als Seder.«
»Okay, vielleicht hätte ich eher fragen sollen ... was bist du?«
»Was ich bin, können andere zu einem anderen Zeitpunkt beantworten. Einige der frommeren Bürger Trimorias können es erklären.«
»Fromm? Bist du ... Gott?«
»Es gibt einen Schöpfer, aber das bin ich nicht. Ich bin etwas anderes. Ein Philosoph aus deiner Welt hat beinah eine absolute Wahrheit über das Universum beschrieben. Er hat gesagt: ›Jede ausreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.‹ Ich selbst würde sagen: ›Jedes ausreichend fortgeschrittene Wesen ist von einem Gott nicht zu unterscheiden.‹«
»Du zitierest aus meiner alten Welt. Woher weißt du davon?«
»Weil ich eure Reise in diese neue Welt ermöglicht habe. Ihr bringt ... eine einzigartige Sichtweise ein.«
Jared verschlug es kurzzeitig die Sprache. »Du ... hast uns hierhergebracht? Absichtlich? Warum?«
»Ich beobachte deine Familie und dich seit für deine Begriffe langer Zeit. In der Regel vermeide ich es, direkt einzugreifen. Aber mein Bruder versucht seit mehreren eurer Jahrhunderte, die Fäden des Schicksals direkt zu beeinflussen. Daher musste ich in selber Weise reagieren. Deine Familie und du sind ... dabei meine Waffen.«
Jared erstarrte beim Wort »Waffen«. Er wollte niemandes Waffe sein, und seine Frau und seine Söhne sollten nicht für irgendeinen Bruderstreit benutzt werden.
Zorn stieg ihm heiß ins Gesicht. »Welches Recht hattest du, uns so zu behandeln? Du hast meine Familie aus unserer Welt, unserem Leben gerissen!«
»Wäre dir lieber gewesen, ich hätte der Natur ihren Lauf gelassen? Das Erdbeben, das ihr in eurer Welt erlebt habt, hat die Höhle, in der ihr wart, zum Einsturz gebracht. Hätte ich nicht gehandelt, wärt ihr alle darin umgekommen. Ist das Schicksal, das ich für euch gewählt habe, nicht besser als der Tod?«
Jared schwieg. Er musste erst verarbeiten, dass seine gesamte Familie hätte sterben können.
»Was willst du von mir? Von uns?«
»Wie gesagt, ihr seid Waffen einer Prophezeiung. Ich habe vorausgesehen, dass deine Söhne von den Elfen ausgebildet werden müssen. Deshalb habe ich mit dem Ältesten in der Elfenstadt Eluanethra gesprochen. Er ist bereits unterwegs zu dir. Er wird morgen früh in deiner Schmiede ankommen. Triff mit ihm die notwendigen Vorkehrungen. Falls du deine Frau überzeugen musst, kannst du ihr diesen Traum mitteilen.«
Jared spürte, wie sich etwas in ihm regte, dann überkam ihn dieselbe überwältigende Ruhe wie zuvor. »Woher weiß ich, dass ich das alles nicht bloß träume?«
»Wenn du aufwachst, erwecke ich eine neue Fähigkeit in dir. Das sollte dir bestätigen, dass unser Gespräch mehr als ein Traum ist. Aber ich will ein Versprechen von dir – das Versprechen, dass du die Aufgabe ernst nimmst, die Akademie aufzubauen. Deine Frau und du müssen für die Ausbildung derer mit magischer Begabung sorgen. Außerdem müsst ihr die Versammlung der Zauberer wiedereinberufen – eine Versammlung der stärksten eurer Magiekundigen. Das alles muss geschehen, wenn Sammaels Pläne vereitelt werden sollen.«
»Sammael? Das ist der Name der versteckten Kugel.«
Jared spürte Seders Belustigung. »Nein. Sammael ist der verbreitete Name des Wesens, das man als meinen Bruder bezeichnen könnte. Will man mich als Geist der Ordnung bezeichnen, wäre Sammael der Geist des Chaos. Mit der Zeit wirst du mehr über derlei Dinge erfahren.
Ein abschließendes Wort der Warnung: Sammael übt Einfluss auf jemanden in Trimoria. Ich kann nicht direkt sehen, was mein Bruder treibt, aber ich bemerke Andeutungen und Spuren seines Wirkens. Sammael hat Ersatz für seinen Handlanger Azazel gefunden. Seid vorsichtig.«
* * *
Die Sonne hatte die Feuchtigkeit des Morgens noch nicht weggebrannt, und in der Luft hing durchdringend der Geruch frisch umgegrabener Erde, als Ryan mit seinem Bruder in Richtung der Schmiede ging. Dad hatte sie aufgefordert, ihr übliches Training ausfallen zu lassen und sich stattdessen in der Schmiede mit ihm zu treffen, sobald sie gefrühstückt hätten.
Aaron marschierte mit beschwingten Schritten und strahlender Miene. »Das wird der erste Morgen seit Wochen, an dem Throll mich nicht mit einer neuen Schwertfigur überlistet und Ohaobbok mich nicht in die nächste Ortschaft rempelt.«
»Bist du nicht angeblich stark wie ein Ochse?«, fragte Ryan. »Ich dachte, du wärst Ohaobbok gewachsen.«
»Oh, ich bin stark. Aber Ohaobbok wiegt ungefähr zehnmal so viel wie ich. Ist ein Wunder, dass ich nicht täglich umgebracht werde.«
Ryan schmunzelte. »Wenigstens musst du nicht den ganzen Tag damit verbringen, mit Magie superdünne Strohhalme aus Metall herzustellen. Dad sagt, so übe ich meine Kontrolle. Aber ehrlich, nach einem ganzen Vormittag, an dem ich Löcher in Stangen bohre, fange ich fast an zu schielen.«
»Mag sein. Nur wenn du es vermasselst, musst du bloß von vorn anfangen. Wenn ich Mist baue, könnte ich einen Arm verlieren.«
Als sie sich der Schmiede näherten, hörten sie von drinnen die Stimme ihres Vaters. »Deine Mutter würde deinen Arm heilen, wenn du ihn beim Üben verlierst. Jetzt kommt beide hier rein. Wir haben Gäste.«
Als die Jungen eintraten, stellten sie fest, dass die Feuer gedämpft waren und ein Tisch die Stelle einnahm, an der sonst die Kühlfässer standen. Um den Tisch versammelt saßen bei Dad drei Elfen. Sie hatten hellblondes Haar und sonnengebräunte Haut.
»Hey!«, entfuhr es Aaron. Er nickte dem Elfen in der Mitte zu, der mit Abstand der älteste zu sein schien. »Du bist Illisandres Großvater! Wie schön, dich wiederzusehen.«
Ryan wusste, dass sein Bruder vor zwei Jahren einmal ins Reich der Elfen gereist war.
Der Elf lächelte Aaron an. »Ist auch schön, dich wiederzusehen, junger Krieger.« Er zeigte auf die Elfen zu seinen beiden Seiten. »Ich glaube, Eglerion und Castien kennst du noch nicht.«
Eglerion nickte Aaron zu, ohne jedoch den Blick von Ryan zu lösen. »Xinthian, du steckst immer voller Überraschungen. Ein neuer Schüler ... Ich denke, das dürfte eine interessante Herausforderung werden – für ihn.«
»Jungs«, sagte Dad, »ihr wisst, dass euch beide in naher Zukunft ziemlich anspruchsvolle Aufgaben erwarten. Deshalb will ich, dass ihr bestmöglich darauf vorbereitet werdet. Und das bedeutet eine Ausbildung bei den Besten.«
»Mache ich das nicht schon?«, fragte Aaron. »Throll ist der beste Kämpfer, den wir kennen. Ich beherrsche alle 13 Grundbewegungen, und er sagt, ich könnte jeden außer ihn im Einzelkampf besiegen.«
Dad bat sich mit einer Geste Ruhe aus. »Ja, du hast hart gearbeitet. Das habt ihr beide. Und ich will Throll auf keinen Fall beleidigen, aber man kann immer noch mehr lernen.« Er zeigte auf den jüngsten Elfen. »Castien ist der Schwertmeister von Eluanethra, und die Elfen sind gefeierte Schwertkämpfer. Er besitzt Fähigkeiten, die du erlernen musst.«
Der jüngste Elf nickte Aaron zu.
»Und Ryan«, fuhr Dad fort, »ich habe bei der Arbeit mit dir mein Bestes gegeben, aber machen wir uns nichts vor, im Grunde lernen wir gemeinsam. Das wird sich ab sofort ändern. Eglerion unterrichtet seit 700 Jahren die Grundlagen der Magie. Also ...«
Er lächelte. »Jungs, das sind eure neuen Lehrer.«
Xinthian warf Ryan und Aaron einen mitfühlenden Blick zu. »Ich bin sicher, das ist überwältigend, und es tut uns leid, dass wir euch so damit überfallen. Aber es ist notwendig – für uns alle. Als Oberhaupt des Elfenrats bin ich für das Wohlergehen meines Volks verantwortlich, und unser Schicksal ist mit dem des restlichen Trimorias verbunden. Daher ist es für die Elfen entscheidend, dass ihr eure Aufgaben erfolgreich erfüllt.
Glaubt uns: Wir werden eure Fähigkeiten erweitern. Euch wird eine Gelegenheit geboten, die noch nie jemand außerhalb der Gemeinschaft der Elfen erhalten hat – ihr werdet Geheimnisse erfahren, die meinem Volk geradezu heilig sind. Ryan, Eglerion Mithtanion ist der Meister des Wissens von Eluanethra. Seine fachkundige Ausbildung erfährt normalerweise nur unser Adel. Und Aaron, Castien Galonos ist nicht nur Eluanethras Schwertmeister, sondern einer der besten, die unser Volk überhaupt je hatte. Er bildet dich nach Art unserer Krieger aus.«
Kurz verstummte er und sah den beiden Jungen in die Augen. »Also. Was sagt ihr, junge Männer?«
Aaron antwortete prompt. Er hielt sich bereits für den größten Krieger der Welt. Ryan wusste, dass sich sein Bruder niemals die Chance entgehen lassen würde, noch besser zu werden. »Ja. Ich kann’s kaum erwarten, anzufangen.
Ich werde tun, was nötig ist. Aber ich verstehe nicht recht, was das bedeutet. Werden wir hier oder in Eluanethra ausgebildet? Und wie lange?«
Xinthian lächelte. »Und du, Ryan?«, wandte sich der Elf an ihn.
Ryan äußerte sich vorsichtiger. Er verstand die Notwendigkeit, geschult zu werden, wollte in dem Zusammenhang aber einiges wissen.
»Auch ich bin einverstanden, von deinen Leuten zu lernen. Aber ich habe Fragen.«
Xinthian nickte. »Bitte ... stell sie.«
»Also zum einen: Wie lange dauert die Ausbildung?«
»Eine gute Frage. Leider haben wir nicht die Zeit, die wir uns üblicherweise mit neuen Auszubildenden nehmen würden. Im Regelfall lässt Castien seine Schüler erst nach zehn Jahren mit geschärften Klingen üben ...«
»Zehn Jahre!«, entfuhr es Aaron.
Dad ermahnte ihn scharf: »Aaron, besinn dich deiner Manieren.«
Xinthian fuhr geduldig fort. »Aber in Anbetracht der Lage müssen wir uns mit einer stark beschleunigten Ausbildung begnügen. Ihr beide verbringt die nächsten zwei Monate in Eluanethra. Dann kehrt ihr zu eurer Familie zurück, und was ihr gelernt habt, bauen wir in eure Ausbildung hier ein. Aber euch muss bewusst sein, dass zwei Monate nicht annähernd genug Zeit sind. Wir dürfen also keinen Augenblick davon vergeuden. Eure Ausbildung dauert ununterbrochen an, von dem Moment, in dem ihr Eluanethra betretet, bis zu dem Tag, an dem euch das Schicksal aufs Schlachtfeld führt.«
Er beugte sich vor. »Außerdem möchte ich euch darauf hinweisen, dass ihr gut daran tätet, euch den Respekt meines Volks zu verdienen, solange ihr bei uns seid. Sonst werden euch die Elfen nicht folgen, ganz gleich, was die Prophezeiung besagt.«
Aaron nickte. Ryan fühlte sich zwar immer noch unsicher, aber auch er nickte.
»Wann fangen wir an?«, fragte er.
Diesmal antwortete Dad. »Wir brechen auf, sobald wir wieder beim Haus sind. Für den Anfang begleite ich euch. Danach seid ihr auf euch allein gestellt.« Er erhob sich von seinem Platz. »Kommt, gehen wir nach Hause. Eure Mutter sollte gerade unsere Sachen packen und wird darauf bestehen, sich anständig zu verabschieden.«
Xinthian stand ebenfalls auf. »Wir treffen uns am Waldrand. Aaron, erinnerst du dich an den Ort?«
Aaron nickte. »Und ob. Ich denke, das wird auch ein Heidenspaß.«
Xinthian lachte laut auf. »Die Jugend«, murmelte er dann. »So erfrischend blauäugig.«