Meuchelmörder

Als Ryan mit seinem Vater und Aaron zum Gehöft zurückkehrte, erzählte Dad ihnen von seinem Traum in der vergangenen Nacht.

»Ich bin mir nicht sicher, was genau Seder ist. Irgendein ... Wesen«, sagte er lahm und schüttelte den Kopf. »Seit wir hier angekommen sind, habe ich alle vorgefassten Meinungen darüber, was ich glaube, über Bord geworfen. Ich lasse die Dinge einfach auf mich zukommen. Wie gesagt, dieser Seder behauptet nicht, Gott zu sein. Aber wenn er über unsere alte Welt Bescheid weiß und wirklich derjenige war, der uns in diese Welt gebracht hat ... dann fragt man sich schon, wie weit er davon entfernt ist.«

»Was ist mit der Kraft, die er als Beweis erwähnt hat?«, erkundigte sich Ryan. »Hast du wirklich eine neue Fähigkeit?«

»Gewissermaßen. Ja. Obwohl ich es schon früher gekonnt hätte, wenn ich gewusst hätte, wie ... und wenn ich darauf gekommen wäre. Wartet. Ich zeig’s euch.«

Konzentriert spannte er die Züge an. Gleich darauf breitete sich vor ihm Schimmer aus, der ihn vor der Sicht verbarg. Als der Zauber durchsichtig wurde, sagte er: »Okay Ryan, bewirf mich mit irgendwas.«

Ryan zögerte, Aaron nicht. Grinsend hob er einen Kieselstein vom Boden auf und warf ihn auf die Brust seines Vaters. Nur kam der Stein dort nicht am. Etwa 15 Zentimeter von Dad entfernt prallte er funkensprühend ab, als wäre er auf eine feste Barriere getroffen.

»Das ist ein Schutzschild«, stellte Ryan verblüfft fest.

»Das ist spitze «, begeisterte sich Aaron. »Kann ich was Größeres werfen?«

Dad lächelte. »Klar, aber übertreib’s nicht.«

Aaron suchte sich einen faustgroßen Stein. Als er ihn auf Dad warf, prallte er genauso ab wie der Kiesel.

Aaron hob ihn wieder auf. »Diesmal versuch ich’s mit mehr Kraft dahinter.«

Dad schaute ein wenig zweifelnd drein. »Also ... na schön. Aber ziel nicht auf mein Gesicht. Ich bin nicht sicher, wie stark der Schild ist.«

Aarons Zungenspitze lugte zwischen den Lippen hervor, als er zielte und warf. In Ryan zog sich alles zusammen. Sogar Dad wirkte beunruhigt.

Der Stein traf hart auf den Schild, explodierte beim Aufprall und ließ Dad rückwärts taumeln.

»Oha,« stieß Aaron hervor.

Ryan eilte zu seinem Vater. »Dad! Geht’s dir gut?«

Dad setzte ein breites Lächeln auf. »Bestens. War ein seltsames Gefühl. Ich konnte den Druck des Steins auf dem Schild fühlen, und die Wucht des Treffers hätte mich fast aus dem Gleichgewicht gebracht, aber ich hab keinen Schmerz gespürt. Wenn ihr eure Ausbildung bei den Elfen beendet habt, müssen wir noch ein bisschen experimentieren. Und Ryan, dir kann ich beibringen, wie man es macht. Ist nicht schwer, wenn man die Technik dafür kennt.«

»Ich melde mich freiwillig als Testwerfer«, bot Aaron grinsend an.

Mittlerweile näherten sie sich dem Bauernhaus, und die Tür flog auf. Arabelle und Sloane traten heraus, beide mit den Händen in den Hüften.

»Aaron!«, fauchte Sloane. »Hast du gedacht, du könntest weggehen, ohne mir was zu sagen?«

»Was? I-Ich ...«, stammelte Aaron.

Arabelle reagierte völlig anders, aber für Ryan war es umso schmerzlicher.

Tränen bildeten sich in ihren Augen. »Ryan, wolltest du gehen, ohne dich von mir zu verabschieden?«

Ryan trat zu ihr hin und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Nein, sicher nicht. Niemals.«

Ma tauchte mit Rebecca auf der Hüfte hinter ihnen auf. »Gute Antwort, Ryan«, lobte sie lächelnd.

Dad schaltete sich ein. »Gebt nicht den Jungs die Schuld. Sie haben bis gerade eben nichts davon gewusst. Es ist für uns alle sehr überraschend gekommen. Auch für mich.«

»Und mich«, fügte Ma hinzu. »Aber wir haben für euch gepackt, wie es euer Vater wollte. Wir alle.«

Ryan sah Arabelle an. »Du hast für mich gepackt? Auch ... meine Unterwäsche?«

»Natürlich«, bestätigte sie lachend. »Du wirst demnächst mein Mann sein. Warum sollte ich deine Sachen nicht für dich packen?«

Trotz des ernsten Unterfangens, das Ryan bevorstand, konnte er plötzlich nur daran denken, dass seine zukünftige Ehefrau seine Unterwäsche mit all den Rissen darin gesehen hatte.

»Ist doch nichts dabei«, meinte Sloane. »Ich habe Aaron schon oft in Unterwäsche gesehen.«

»Nur, weil du dich ständig in unser Zimmer schleichst, während wir uns umziehen!« Aaron schnaubte.

Sloane grinste. »Oh, als hättest du nicht schon gelinst, wenn ich mich umgezogen habe.«

»Jetzt mach aber halblang, das willst du doch. Wieso sonst solltest du dich immer mit sperrangelweit offener Tür umziehen?«

»Schon gut, Kinder«, ging Dad dazwischen. »Jeder hat Unterwäsche, und irgendwann wird euch jemand darin sehen. Gelegentlich lasse sogar ich mich von eurer Mutter in meiner sehen.«

Ma stupste ihn verspielt mit dem Ellbogen in die Rippen, dann zog sie ihn für einen Kuss zu sich. »Dann verlassen mich wohl alle drei meiner Männer.«

Dad hielt sie innig fest, bevor er Rebecca einen Kuss auf den Kopf drückte. »Nur für eine kurze Weile.«

Arabelle ergriff Ryans Hand und küsste den Ring an seinem Finger. »Den behältst du doch weiterhin an, oder?«, fragte sie.

»Natürlich. Ich werde immer darauf achten.«

Die Ringe stellten eine weitere Entdeckung seines Vaters dar – Verständigungsringe. Wurde auf einen Ring in einem Verbund getippt oder gedrückt, vibrierten alle anderen Ringe im selben Verbund und ermöglichten es den Trägern, sich über große Entfernungen hinweg im Morsecode zu verständigen. Ein Verbund von acht Ringen war an die vier Rivertons, die drei Lancasters und Ohaobbok verteilt worden. Nach der Verlobung mit Arabelle hatte Ryan seinen Vater gebeten, ein zusätzliches Paar nur für sie beide anzufertigen. Wenn sie mit der Karawane unterwegs war, konnte er sich nur so mit ihr unterhalten.

Ryan umarmte Arabelle. Und während er die Hände hinter ihrem Rücken hatte, tippte er eine Nachricht.

Sie löste sich von ihm und meinte mit einem scheuen Lächeln: »Vielleicht könntest du das auch mal laut sagen ...«

Hitze schoss Ryan ins Gesicht, als er errötete. Dann brachte er die Lippen dicht an ihr Ohr. »Ich liebe dich«, flüsterte er.

* * *

Gerald musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um den Brechreiz zu bändigen, als er den schattigen Raum betrat. Die Luft stank nach menschlichen Ausscheidungen und verschüttetem Bier. Neben ihm verzog sein Bruder Roland nur angewidert die Lippen.

Eine Gestalt mit grauer Kapuze saß an einem Tisch und schrieb im flackernden Schein einer einzigen Kerze etwas auf ein Pergament. Als Gerald die Tür hinter ihnen schloss, schnippte die Gestalt mit den Fingern. Zwei Kerzen auf einem Wandregal erwachten zum Leben. Mit einer Geste wurden Gerald und Roland aufgefordert, sich zu setzen, was sie taten.

»Wie ich höre, seid ihr die Besten eures Handwerks«, sagte die Gestalt. »Stimmt das?«

Roland schaute immer noch zu den Kerzen. »Billige Tricks beeindrucken mich nicht«, raunte er knurrend. »Und ich kann’s nicht leiden, wenn meine Fähigkeiten in Frage gestellt werden. Du. Erklär uns, warum du um die Hilfe der Meuchlergilde gebeten hast.«

Die Gestalt zog die Kapuze zurück und enthüllte flammende Augen. Der Mann war nicht mal ... menschlich.

Gerald erbleichte. Oh nein, Roland. Was hast du uns da eingebrockt?

In der Kammer wurde es kälter, und aus den flammenden Augen schossen zwei Lichtpfeile auf Roland zu. Er schrie vor Schmerz auf, fiel zu Boden und zuckte unter Krämpfen.

Die Gestalt wandte sich seelenruhig Gerald zu, völlig gleichgültig gegenüber Rolands Qualen. »Verzeih. Ich habe mich nicht richtig vorgestellt. Ich bin Dominic. Und Sie sind?«

Gerald bemühte sich, ruhig zu atmen. »Ich bin Gerald.«

»Gerald.« Dominic lächelte. »Was hältst du davon, was ich mit deinem Freund gemacht habe?«

Bleib ruhig ... bleib ruhig ...

»Hätte ich deine Fähigkeiten und würde so beleidigt wie du von Roland«, antwortete er, »würde ich ihm auch Manieren beibringen.«

Aus der Gestalt mit der grauen Robe brach raues, grölendes Gelächter hervor. »Zum Glück für deinen Freund brauche ich zwei Meuchler. Also ...«

Er schnippte mit den Fingern, und Rolands Zuckungen endeten.

»Ich hoffe, du weißt meine billigen Tricks nun ein bisschen mehr zu schätzen, Roland«, sagte Dominic. »Jetzt steh auf. Ich erwarte, dass du dir anhörst, was ich zu sagen habe.«

Roland zitterte heftig und musste sich am Stuhl abstützen, um sich vom Boden aufzurappeln. Er hatte sich in die Hose gemacht und sich übergeben. »Ja, Herr«, sagte er kleinlaut. »Ich höre zu.«

Dominic lächelte herzlich. »Seht ihr? Ist es so nicht viel besser? Nun ... ich glaube, ich habe gefragt, ob es zutrifft, dass ihr die Besten dieses Handwerks seid.«

Roland nickte ruckartig. »Ja, Herr. Mein Bruder und ich wirken schon in den Schatten, seit wir zehn Jahre alt waren. Wir sind beide Fachmänner im Umgang mit Bogen und Messer. Außerdem beherrsche ich meisterlich Gifte. Gerald besitzt eine Ausbildung im Knacken von Schlössern.«

Dominic beobachtete die beiden Männer mit einem hölzernen Grinsen. Gerald wischte sich eine Schweißperle weg. Er hatte das Gefühl, dass es in der Kammer wärmer geworden war.

»Ich will zwei Leute beseitigt haben«, erklärte Dominic. »Aber sie müssen gleichzeitig getötet werden. Und ich warne euch, dass diese beiden keine wehrlosen Ladenbesitzer oder holden Maiden sind. Der eine ist ein junger, aber begabter Krieger, der andere ein Zauberlehrling.«

Gerald versuchte, ruhig zu wirken, obwohl sich Panik in ihm ausbreitete. Ein Zauberer? Der Mann ist verrückt.

Aber Roland kratzte sich am Kinn. »Meinst du mit gleichzeitig den gleichen Tag oder buchstäblich die gleiche Zeit?«

Dominic lehnte sich vor und stützte sich auf die Ellbogen. »Ich meine nicht nur zur gleichen Zeit, ich meine haargenau im gleichen Moment. Sie und ihre Mitstreiter haben eine Möglichkeit, sich über große Entfernungen zu verständigen. Wenn einer vor dem anderen stirbt, werden Leute gewarnt, und eure Mission scheitert.«

»Kein Problem.« Roland klang zuversichtlich, obwohl sich Gerald nicht vorstellen konnte, wie sie es bewerkstelligen sollten. »Wie lauten ihre Namen? Weißt du etwas über ihre Gewohnheiten?«

»Ich weiß, dass sie morgens zur gleichen Zeit das Haus verlassen und tagsüber üben. Das könnte der einzige Zeitpunkt sein, zu dem sie mit Sicherheit zusammen sind. Sie sind Brüder und heißen Ryan und Aaron Riverton.«

Geralds schlimmste Befürchtungen bestätigten sich. Roland verzog zwar keine Miene, dennoch konnte Gerald die Panik in den Augen seines Bruders erkennen.

»Also sind es die Jungen, die beim König und der Königin leben?«, fragte Roland. »Die Jungen, die einen Oger als Freund auf dem Anwesen haben und daran beteiligt waren, Azazel zu vernichten und seine Truppen verschwinden zu lassen?«

Bei der Erwähnung von Azazels Namen verwandelte sich Dominics Lächeln in eine Grimasse. »Ja, genau diese Jungen. Ist das ein Problem, Roland?« Er beugte sich näher.

Roland lächelte matt. »Ganz und gar nicht, Herr.« Was sollte er sonst sagen?

Dominic zog zwei Beutel aus den Gewändern und warf sie den Meuchlern zu. »Dies ist eure erste Zahlung. Wenn ihr schnell und genau arbeitet, bekommt ihr eine zweite, wesentlich höhere Zahlung.«

Gerald öffnete seinen Beutel. Die Münzen darin wiesen etwas auf, das nach elfischen Runen aussah. Etwas Vergleichbares war ihm noch nie untergekommen. Sie mussten Hunderte Jahre alt sein.

»Denk nicht mal daran, euch mit meinem Geld aus dem Staub zu machen. Wenn ihr den von mir erteilten Auftrag nicht erledigt, sterbt ihr, das kann ich euch versichern. Gelingt es euch hingegen, mache ich euch sehr reich. Aber handelt schnell. Heute hat sich etwas im üblichen Tagesverlauf der Gebrüder Riverton geändert. Das beunruhigt mich. Und euch sollte es auch beunruhigen.«

»Wenn sich Muster ändern, ist es oft am besten, langsam vorzugehen und genau zu beobachten«, rutschte Gerald heraus, bevor er sich bremsen konnte.

Jäh beugte sich Dominic vor. Seine gespenstischen Augen flackerten in der Dunkelheit der Kammer. »Es muss sofort erledigt werden. Das ist dringend. Geht jetzt. Und denkt daran: Ich beobachte euch.«