Die Ausbildung beginnt

Aaron hetzte hinter seinem Lehrer her und hatte Mühe, den Elfen nicht aus den Augen zu verlieren. Castien rannte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald und ließ nicht die geringsten Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Aaron hingegen schnappte bereits schwer nach Luft. Und fiel zurück.

»Folg mir, wohin ich auch laufe, und verlier mich nicht aus den Augen.« So hatten Castiens Anweisungen gelautet. Dann hatte er unheilvoll hinzugefügt: »Oder ich werte deine erste Prüfung als nicht bestanden.«

Die letzte Äußerung hatte Aaron motiviert, sich zu beweisen. Versagen kam für ihn nicht in Frage. Niemals.

Natürlich hatte er auch nicht damit gerechnet, dass der Elf so schnell sein würde.

Die ersten zwanzig Minuten war Castien wenigstens auf einem ausgetretenen Waldpfad geblieben. Und trotz des schier unmöglichen Tempos, das er vorgab, konnte Aaron ihn zumindest Sichtweite behalten, wenn auch nur knapp. Mittlerweile jedoch hatte der Elfenkrieger den Weg verlassen und pflügte mitten durch das dichte Unterholz. Und als er nach einer weiteren Kurve einen steilen Hügel hinaufstürmte, konnte Aaron nur den Kopf schütteln.

Bei Castien sah es so einfach aus. Er huschte zwischen Büschen hin und her und duckte sich zielsicher unter Lianen und Ästen hindurch. Aaron entschied sich für ein weniger elegantes Vorgehen und pflügte mitten durch die Hindernisse. Doch trotz aller Entschlossenheit Aarons passierte es schließlich: Er verlor den Elfen aus den Augen.

Grummelnd kämpfte sich Aaron noch angestrengter den Hang hinauf.

Als er durch das Blattwerk hervorbrach, fand er Castien auf einem felsigen Überhang auf ihn wartend vor. Der Elf wirkte zufrieden – und nicht ansatzweise erschöpft. Aaron sackte indes auf die Knie. Schweiß strömte ihm über den gesamten Körper.

»Du hast dich besser als erwartet angestellt«, lobte Castien. »Ich musste die Geschwindigkeit nur auf die eines unserer weniger begabten Kinder drosseln.«

Aarons Magen drohte, sich seines Inhalts zu entledigen. »Das kann jetzt bloß ein Scherz sein. Das war noch nicht mal volle Geschwindigkeit? Ich hab das Gefühl, ich muss gleich sterben.«

Castien lachte leise. »Wir müssen eindeutig noch an deiner Ausdauer arbeiten, bevor ich mit dir fortgeschrittenere Übungen durchführen kann. Zu deinen offensichtlichsten Problemen gehört, dass du ständig gegen deine Umgebung ankämpfst. Sieh dich nur an. Du hast überall an den Armen und im Gesicht Kratzer. Deine Kleidung ist praktisch zerfetzt.«

Der Elf legte die Hand auf Aarons Stirn und drückte fest dagegen.

»Aua!«

»Außerdem hast du einen üblen Bluterguss auf der Stirn. Ich vermute, der gesamte Wald hat das Krachen gehört, als du gegen den Ast geknallt bist. Zu deinem Glück haben Menschen dicke Schädel. Du einen dickeren als die meisten, nehme ich an.«

Er deutete auf den Rucksack, den Aaron trug. »Eglerion hat mir erklärt, dass Nahrung deinen Energievorrat beschleunigt auffüllt. Also iss. Du wirst deine Kraft brauchen.«

Aaron nahm den Rucksack ab und machte sich über einen Laib Brot her. Schon bald spürte er, wie Energie in seine Glieder zurückkehrte.

»Meinst du, bis ich abreise, kann ich mit dir bei voller Geschwindigkeit mithalten?«

Castien lachte. »Wenn du das Kunststück vollbringen könntest, wäre ich zutiefst beeindruckt. Vorerst arbeiten wir mal an deiner Ausdauer und der Fähigkeit, dich natürlicher fortzubewegen. Ich verspreche dir, wenn du dir richtig Mühe gibst, wirst du eine deutliche Verbesserung erleben. Vielleicht gelingt es dir sogar, mich zu überraschen. Aber das bezweifle ich.«

Schließlich beruhigte sich Aarons Atmung ausreichend, dass er seine Umgebung genauer betrachten konnte. Der Felsvorsprung überblickte eine schattige Senke, in die an verschiedenen Stellen schräg das Sonnenlicht einfiel.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte er. »Hier ist es wunderschön.«

Castien seufzte. »Hierher komme ich gern, wenn ich den Kopf frei kriegen will. Jetzt beeil dich mit dem Essen. Ich wittere, dass Regen naht. Wenn du den Weg jetzt schon für schwierig gehalten hast, dann warte, bis er nass ist.«

Aaron verschlang einen zweiten Laib Brot und leerte eine Wasserflasche. »Oh ja, das klingt nach Spaß«, meinte er matt und alles andere als überzeugend.

* * *

Jared entspannte sich in der Hütte und blätterte in einigen Büchern über Zauberei, die Eglerion für ihn zurückgelassen hatte. Er musste zugeben, dass sich der Ort hervorragend zum Lernen eignete. Im Vergleich zu der zweckmäßigen Unterkunft, an die er sich in Aubgherle gewöhnt hatte, empfand er die Umgebung als geradezu opulent. Die Möbel bestanden aus einem sehr dunklen Holz, das Jared an Ebenholz erinnerte.

Bei genauerer Überlegung war es surreal. Er saß in einer Elfenstadt in einem uralten Wald und studierte Zauberei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass kein Schulberater je »Zauberer« als Berufsweg für mich vorausgesehen hat, dachte er ironisch.

Die Bücher erwiesen sich als faszinierend, und bald fand er etwas über Elfen heraus, das er sonst nie erfahren hätte. Unter ihnen gab es immer nur einen Zauberer, ob Frau oder Mann, und die kollektiven magischen Kräfte des gesamten Volks schienen sich irgendwie in diesem einen Zauberer zu bündeln. Wenn er oder sie starb, ging dieselbe Macht auf einen Erben über.

Eglerion, so stellte sich heraus, war nicht der aktuelle Zauberer. Obwohl er mehr über Zauberei wusste als wahrscheinlich jeder andere in ganz Trimoria, konnte er sie nicht wirken . Für ihn war es ein rein akademisches Unterfangen. Dennoch nahm er seine Arbeit äußerst ernst. Eines der Bücher stammte aus seiner Feder. Es erläuterte die Lehrmethoden und -verfahren, die er bei seinen Schülern anwandte. Jared hatte bereits beschlossen, dass er darum bitten würde, sich das Buch ausleihen zu dürfen, und wenn er darum betteln müsste – genau das brauchte er, um einen Lehrplan für die neue Akademie zu erstellen.

Und wenn er schon hier war, wäre es wohl lohnend, auch einen Blick in Eglerions Klassenzimmer zu werfen. Immerhin blieb ihm nur eine kurze Zeit in der Elfenstadt, und er hatte nicht vor, sie ausschließlich mit der Nase in einem Buch zu verbringen. Also legte er die Schmöker beiseite, verließ die Hütte und schlenderte in Richtung der Stadtmitte. Unterwegs ließ er jede Einzelheit auf sich wirken.

Als er einen Elfen passierte, der ein Bündel Anmachholz auf dem Rücken trug, winkte er ihn heran. »Entschuldige«, sagte er, »kannst du mir sagen, wo ich Eglerions Klassenzimmer finde?«

»Ah, du musst Fürst Riverton sein!« Die Züge des Elfen hellten sich auf. »Wenn du dem Weg hier folgst und nach links abbiegst, sobald du dich dem Markt näherst, siehst du ein großes Gebäude ohne Eingänge. Das ist das Haus unseres Meisters des Wissens.«

Jared zog eine Augenbraue hoch. »Ein Gebäude ohne Eingänge, sagst du?«

»Ja, Herr. Unser Meister des Wissens ist ein wenig ungewöhnlich. Er verbringt die meiste Zeit dort oder bei seiner Schülerin Labriuteleanan, die unsere Königin werden soll. Man munkelt, dass er sich mit kaum etwas anderem als dem Studium der Zauberei befasst.«

»Tja, danke«, sagte Jared. »Tut mir leid, dass ich dich aufgehalten habe.«

»Hat überhaupt keine Umstände gemacht.«

Jared ging in die Richtung, in die Elf ihn geschickt hatte. Schon bald fand er ein Gebäude, auf das die Beschreibung zutraf. Als er davorstand und überlegte, was er als Nächstes tun sollte, öffnete sich eine versteckte Tür an der Seite des Gebäudes, und eine wunderschöne junge Elfin steckte den Kopf heraus.

»Bitte, nur herein, Fürst Riverton.«

Jared seufzte. »Irgendwie hatte ich mich darauf gefreut, das Rätsel zu lösen. Bist du Eglerions Schülerin? Labrut... Also die künftige Königin?«

Die junge Elfin lächelte. »Schuldig im ... ha... ha... HATSCHI!« Sie schniefte. »Tut mir leid. Ja, schuldig im Sinne der Anklage. Nenn mich ruhig Labri.«

Die Tür führte zu einem Raum, bei dem es sich offensichtlich um ein Klassenzimmer handelte. Tabellen mit Fakten und Zahlen, anatomische Abbildungen und verschiedene Diagramme, die Jared nicht verstand, übersäten die Wände. In Regalen standen Flaschen mit verschiedenen Exemplaren von Tieren und Pflanzen, die in Flüssigkeit trieben. Dazwischen befanden sich Gebilde, die wie verknotete Rätsel aus Draht aussahen. Und natürlich gab es Bücher. Überall.

Ryan saß an einem Schreibtisch. Eglerion stand über ihm. Die beide analysierten gerade ein Schaubild eines menschlichen Gehirns. Kaum war Jared eingetreten, schaute Ryan auf.

»Hast du gerade ›künftige Königin‹ gesagt?«

Labri lachte. »Hast du das nicht gewusst?«

»Du hast es mir nicht gesagt«, konterte Ryan. »Ich dachte, die Königin wäre im Keim von Trimoria gefangen.«

»Ist sie auch«, bestätigte Eglerion. »Und wenn sie stirbt, geht ihre Macht auf Labri über.«

Ryan sah Labri mit großen Augen an.

Eglerion wandte sich an Jared. »Dein Sohn will nicht einsehen, warum er vor praktischen Übungen erst die Grundlagen lernen muss. Mir scheint, er ist es gewohnt, seine Theorien einfach ... willkürlich auf die Probe zu stellen.«

Jared zuckte zusammen. »Tut mir leid, das ist meine Schuld. Zu experimentieren, war die einzige Möglichkeit, die wir hatten, um zu lernen.«

»Nun, ich fürchte, diese schlechte Angewohnheit muss abgelegt werden. Nur weil ein Kleinkind eine Fackel tragen kann, ist es noch lange keine gute Idee, es mit Feuer herumlaufen zu lassen.«

»Ich bin kein Kleinkind ...«, grummelte Ryan.

»Ryan«, sagte Jared. »Dein Lehrer weiß mehr über Magie, als du und ich je in einem Leben lernen könnten. Wenn du nicht auf jedes seiner Worte hörst, bringst du dich nur in Verlegenheit. Eglerion will sicherstellen, dass du die Theorie und die Vorsichtsmaßnahmen verstehst, bevor du etwas tust, das Schaden anrichten könnte.«

Ryan errötete.

»Er hat den Überschwang und die Ungeduld der Jugend«, meinte Eglerion. »Vielleicht würde es helfen zu veranschaulichen, warum Vorsicht angebracht ist. Fürst Riverton, wärst du so freundlich?«

»Was immer du brauchst«, erwiderte Jared.

»Gut. Gehen wir nach draußen. Ich will nicht das Gebäude niederbrennen.«

»Das Gebäude niederbrennen?« Ryan klang nervös.

Jared hingegen grinste und folgte Eglerion, der sie einen Pfad hinunter zu einer großen Lichtung führte. Der Lehrer wies Ryan an, sich in die Mitte der Lichtung zu stellen. Die restliche kleine Gruppe reihte sich entlang der Baumgrenze auf.

Dann rief der Meister des Wissens zu Ryan: »Bist du damit vertraut, eine Energieranke auf etwas wie einen Stein oder eine schwirrende Fliege in der Nähe deines Kopfs zu entfesseln?«

Ryan nickte. »Ja, ich weiß, wie das geht.«

»Gut. Und kannst du auch ein Netz aus Energie erschaffen?«

Ryan lächelte. »So, meinst du?«

Ein dünner Strang funkelnder Energie kroch aus seiner Hand und teilte sich der Länge nach. Die so entstandenen Ranken teilten sich in immer feinere Fäden auf, bis vor ihm eine schleierartige Wand schwebte. Ein paar Insekten, die das Pech hatten, hineinzufliegen, fielen betäubt zu Boden.

Jared spürte, wie sein Herz vor Stolz auf die Fähigkeiten seines Sohns anschwoll.

»Sehr gut«, lobte Eglerion. »Ein solches Netz ist ausgesprochen nützlich. Denn so mächtig ein Zauberer sein mag, er ist bei körperlichen Angriffen genauso verwundbar wie jeder andere. Ein Treffer am Kopf oder sonst etwas, das deine Konzentration ausreichend stört, und schon bist du hilflos. Deshalb ist es für einen Zauberer von entscheidender Bedeutung, dass er ein solches Netz zu einem Schild formen kann.«

Jared nickte. Er selbst hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Ryan diese neue Fähigkeit beizubringen, und er wartete gespannt, wie Eglerion dabei vorging. Das würde für ihn genauso lehrreich werden wie für Ryan.

Der Meister des Wissens ging die Technik mit Ryan durch, der schnell den Dreh herausbekam. Bald wiederholte Eglerion das gleiche Experiment, das Jared mit Aaron durchgeführt hatte – er warf Kieselsteine.

Wir sind uns wirklich sehr ähnlich , dachte Jared.

Zuerst hielt Ryans Schild den Kieseln stand, die davon abprallten, und Ryan lächelte siegessicher. Aber damit gab sich Eglerion nicht zufrieden. Er hob eine ganze Handvoll auf und schleuderte sie wie ein Schnellfeuer auf Ryans Schild, einen nach dem anderen. Jedes Mal, wenn ein Kiesel aufprallte, wurde das Netz eingedellt und neigte sich. Schließlich schlüpfte einer der Steine durch die Maschen und traf Ryan an der Stirn. Sofort brach sein gesamter Schild mit einem lauten Wusch! und aufflackernden Flammen in sich zusammen.

Während Ryan das kleine Grasfeuer zu seinen Füßen ausstampfte, sagte Eglerion: »Wie du bemerkt hast, bewegt sich dein Schild, wenn er getroffen wird – und sei es nur von schlichten Kieselsteinen. Deshalb musst du ihn verankern. Leg diesmal mehr Energie hinein – viel mehr. Je mehr Energie, desto starrer wird der Schild. Außerdem möchte ich, dass du dich beim nächsten Mal vollständig damit umgibst. Ein Schutzschild hat keinen Sinn, wenn sich jemand einfach von hinten an dich anpirschen kann.«

Ryan nickte und erschuf ein neues Netz. Diesmal formte er es wie einen Kokon, der ihn vollständig umgab.

»Ich hab’s geschafft!«, rief er. »Nur kann ich jetzt nichts mehr sehen. Alles ist verschwommen.«

Da rief Labri über die Lichtung: »Leg mehr Kraft hinein. Letztlich wird der Schild durchsichtig.«

Eglerion blickte finster auf sie hinab. »Junge Dame, willst du den Unterricht leiten?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Hatte ich denn unrecht?«

Der alte Elf brummte.

Ryan konzentrierte sich, und der Schleier legte sich allmählich. Er lächelte, aber Jared merkte seinem Sohn an, dass er Mühe hatte, den nötigen Energiefluss aufrechtzuerhalten.

Eglerion legte die Kieselsteine beiseite und hob einen Stein der Größe eines Baseballs auf. »Bereit?«

»Ja, Herr«, antwortete Ryan selbstsicher.

Eglerion warf den Stein. Als es Ryans Schild traf, prallte er mit einem mächtigen Funken davon ab.

»Oha! Das hab ich gespürt!«, rief Ryan.

Eglerion lächelte. »Ich schlage vor, du achtest darauf, den Schild dicht zu weben. Dadurch verteilt sich der Druck von Einschlägen besser über deinen Körper. Im Augenblick ist dein Schild wie ein Kettenhemd. Er wird zwar nicht durchdrungen, aber du spürst die Treffer und kannst trotzdem verletzt werden. Mit etwas Übung wirst du in der Lage sein, den Schild in eine Art Plattenpanzer zu verwandeln. Selbst dann wirst du Treffer noch spüren, aber nicht mehr so stark, dass sie dich verletzen können.«

Interessant. So hatte Jared es noch nicht betrachtet, aber es klang einleuchtend. Er beschloss, diese Technik selbst anzuwenden. Aber vorerst wollte er etwas anderes ausprobieren.

Er wandte sich an Eglerion. »Darf ich einen magischen Angriff versuchen?«

Der Elf runzelte die Stirn. »Ich habe noch nie zwei Zauberschüler gehabt, daher konnte ich das nie ausprobieren. Aber theoretisch sollte der Schild auch magischen Angriffen widerstehen.« Seine skeptische Miene wurde von einem Lächeln abgelöst. »Wann immer du bereit bist, Fürst Riverton.«

Jared feuerte einen schimmernden Energieblitz auf Ryan ab. Er traf den Schild, der erstrahlte, als er den Energiestoß knisternd und knackend zerstreute.

»Hat geklappt!«, rief Ryan.

Eglerion brach in Gelächter aus. »Sehr gut. Aber nicht übermütig werden. Du bist nicht unbesiegbar. Wenn ein Berg auf dich fällt, spielt es keine Rolle, wie stark der Schutzschild ist, den du erzeugst, er wird nicht ausreichen. Außerdem musst du deine Energiespeicher erweitern. In Kriegszeiten, die vor uns liegen, wie wir wissen, musst du in der Lage sein, einen Schutzschild aufrechtzuerhalten, während du kämpfst.«

Jared hob die Hand, als wäre er lediglich ein weiterer Schüler des Lehrmeisters – was wohl auch zutraf. »Ich wusste nicht, dass wir unsere Energiespeicher erweitern können. Wie geht das?«

»Durch Übung natürlich«, antwortete Eglerion schlicht. »Wie alles andere auch. Je mehr die Energie regelmäßig benutzt wird, desto mehr Ausdauer entsteht. Die Langlebigkeit von Elfen ist der Grund, warum unsere Zauber überragende Ausdauer besitzen. Labriuteleanan zum Beispiel führt ihre mentalen Übungen seit über einem Jahrhundert durch.«

Ryan ermüdete offensichtlich, ließ den Schild sinken und schloss sich wieder den anderen an. »Ich habe eindeutig noch viel zu lernen. Und zu üben. Ich bin bereit, alles zu tun, was nötig ist.«

Eglerion zog eine Augenbraue hoch. »Gut. Fang damit an, den Schild wieder herzustellen und aufrechtzuerhalten. Ich möchte, dass du ihn während deiner gesamten wachen Stunden beibehältst – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Ich werde dich unangekündigt testen. Labriuteleanan auch. Wenn du den Test nicht bestehst, trifft dich ein Stein am Kopf. Oder vielleicht an noch unangenehmerer Stelle.«

Labri warf einen Kieselstein auf Ryan und hätte ihn beinah an einer Stelle erwischt, an der er lieber nicht getroffen werden wollte.

»He!«, stieß Ryan hervor, dann stimmte er ins Gelächter der anderen ein – und richtete seinen Schutzschild sehr schnell wieder ein.

* * *

»Willkommen in meinem bescheidenen Heim, Fürst Riverton«, sagte Xinthian. »Bitte tritt ein.«

Jared kam der Einladung nach – und fühlte sich auf Anhieb wie in einer Bibliothek. Regale füllten jede Wand vom Boden bis zur Decke, alle vollgestopft mit Büchern.

»Xinthian, bist du auch der Bibliothekar von Eluanethra?«

Der alte Elf lächelte. »Fürst Riverton, wie um alles in der Welt kommst du darauf?«

»Na ja, ich würde sagen, die unzähligen Bücherregale könnten ein Hinweis darauf sein. Und bitte hör auf mit diesem ›Fürst Riverton‹. Wir sind jetzt nicht in der Öffentlichkeit. Wenn ich dich Xinthian nennen darf, dann kannst du mich auch Jared nennen. Ich bestehe darauf.«

»Natürlich, Jared. Gehen wir nach oben, setzen wir uns hin und entspannen wir uns. Ich sehe vielleicht nicht so aus, als würde ich auf die tausend Jahre zugehen, aber ich spüre es in den Knochen und habe mittlerweile einen feinen Kamin und einen bequemen Sessel schätzen gelernt.«

Xinthian führte Jared die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Auch dort füllten Bücher die Wände aus. Jared lächelte, als er die warmen Gerüche von Leder, Pergament und Holz einatmete. In einer Ecke brannten in einer kleinen Feuerstelle Ziegeln, die annähernd wie Torfmoos aussahen. An einer Wand stand ein Schreibtisch aus Holz, in der Nähe des Kamins befanden sich zwei gepolsterte Sessel.

Xinthian ging zu einem Handwagen, auf dem eine Karaffe und mehrere undurchsichtige Gläser standen. In zwei davon schenkte er eine bernsteinfarbene Flüssigkeit ein. Er reichte Jared eines der Gläser, als sie sich auf den Sesseln am Feuer niederließen.

»Das ist ein Wein, den wir in Eluanethra herstellen. Ich hoffe, er schmeckt dir.«

Jared nippte daran. Der Wein besaß einen herben, erfrischenden Geschmack mit leichter Geißblattnote. »Der ist wunderbar.«

Xinthian trank einen viel größeren Schluck. »Dem stimme ich zu«, meinte er augenzwinkernd. »Also. Ich nehme an, du bist hier, weil du Fragen an mich hast.«

»Nun, ja, die habe ich in der Tat. Hauptsächlich über Seder.«

Der Elf nickte wissend, als hätte er damit gerechnet, dass es darum gehen würde. »Ja. Bestimmt war es recht erschreckend, zum ersten Mal von ihm im Traum besucht zu werden.«

»Zum ersten Mal? Soll das heißen ... mit dir hat er nicht zum ersten Mal gesprochen?«

»Zum zweiten Mal. Das erste Mal war vor über 500 Jahren, kurz bevor die Dämonen in Trimoria eingefallen sind. Nur seiner Warnung war es zu verdanken, dass unsere Armeen nicht völlig aufgerieben wurden. Stattdessen konnten wir den Angriff der Dämonen abwehren und die Überreste von Trimoria gegen weitere Überfälle abschotten.«

»Mir scheint, ein Besuch von Seder kündigt dunkle Zeiten an.«

Xinthian nickte düster. »Das war damals so, und ich fürchte, es trifft wieder zu.«

Jared seufzte. »Obwohl wir das durch die Prophezeiung ohnehin schon gewusst haben. Aber jetzt ... jetzt weiß ich, dass ich eine Menge Arbeit vor mir habe. Seder hat zu mir gesagt, ich muss eine Akademie gründen und dafür sorgen, dass Zauberei in Trimoria wieder stark verbreitet wird. Außerdem soll ich die Versammlung der Zauberer wiederauferstehen lassen ... was mir unmöglich erscheint, da ich in dieser Welt nur drei Zauberer kenne. Ryan, mich selbst und eure Königin. Und sie dürfte eher ... ungeeignet für die Versammlung sein.«

Jared schwieg einen Moment. Er wählte die Worte sorgfältig, um nicht beleidigend zu klingen. »Aufgrund von Tagebüchern, die wir gefunden haben, glaube ich, dass Königin Ellisandrea in einer Kugel gefangen ist, in der etwas ausgesprochen Böses haust. Und diese Erfahrung könnte sie verdorben haben.«

Jared beobachtete Xinthian aufmerksam.

»Du liegst mit deiner Einschätzung unserer Königin nicht weit daneben«, sagte er leise. »Was sie erlebt hat, ist eine lange und traurige Geschichte. Lass uns darüber an einem anderen Tag sprechen. Was hat Seder dir noch erzählt?«

»Er hat ein Wesen namens Sammael erwähnt, einen Geist des Chaos – und Seders Bruder. Ich soll einiges rückgängig machen, das Sammael in Gang gesetzt hat. Weißt du etwas über diesen Sammael?«

Xinthian nippte an seinem Wein und schürzte die Lippen. »Sammael ist alles, was Seder nicht ist. Manche kennen ihn als den Seelenzerstörer, während Seder vielen als der Schöpfer bekannt ist. Ich denke, wenn man verallgemeinern möchte, könnte man sagen, dass Sammael über jene mit Bösem in den Herzen herrscht, während Seder ein Leitlicht für alle ist, die das Gute bevorzugen. Wenn du möchtest, kann ich unsere Gelehrten bitten, in unserer Geschichte nach mehr darüber zu suchen.«

Jared nickte. »Ich wäre dir für jede Hilfe oder Anleitung dankbar, die du mir geben kannst.«

Xinthian lehnte sich im Sessel zurück. »Einen Rat kann ich dir sofort geben: Vertrau deinem Gefühl und lass dich nicht von Sorgen zu etwas verleiten. Ich habe im Verlauf meines Lebens mehrere Leute gekannt, die Botschaften von Seder erhalten haben. Anfangs erscheinen sie immer geheimnisvoll, aber mit der Zeit klären sie sich.«

Jared lächelte. »Bis jetzt hat mir Besorgnis in dieser Welt gute Dienste erwiesen. Manchmal glaube ich sogar, dass man hier nur mit Verfolgungswahn überleben kann.«

* * *

Jared rieb sich zufrieden den Bauch, als er zu seiner Unterkunft zurückkehrte. Das Essen mit dem Rat der Ältesten war überaus produktiv verlaufen. Er hatte ihnen nicht nur die Zusage abgerungen, beim Bau der neuen Akademie für Magie zu helfen, sondern auch bei deren Betrieb. Obwohl der Hauptgrund dafür wohl der war, dass er bereits Xinthians Rückendeckung hatte.

Er erreichte die Hütte gleichzeitig mit Ryan, der erschöpft wirkte. Kaum befanden sie sich drinnen, ließ sich Ryan auf sein Bett plumpsen.

»Ich glaube, mir explodiert gleich der Kopf, Dad. Ich bin durchgeschüttelt worden. Stöcke sind mir auf die Birne gefallen. Ich musste auswendig lernen, wie ich meine Kräfte auf eine Weise nutzen kann, zu der ich laut Eglerion längst nicht bereit bin. Am positivsten ist noch, dass ich beinah einen Baum in Brand gesetzt hätte.«

Jared unterdrückte ein Grinsen. »Meinst du, dass du zwei Monate davon aushältst?«

»Ganz ehrlich? Ich hab keine andere Wahl. Sofern es mich nicht umbringt, werde ich wohl irgendwann auf mein derzeitiges Wissen zurückblicken und entsetzt darüber sein, wie ahnungslos ich war.«

»Ich bezweifle, dass Eglerion dich umbringen will.«

»Ich weiß nicht recht, Dad. Früher dachte ich immer, du hättest mich hart rangenommen. Aber im Vergleich zu Eglerion war es bei dir wie im Urlaub.«

»Tja, das ist gut«, meinte Jared. »Ich habe nämlich vereinbart, mir Eglerion als Lehrer für die Akademie zu leihen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Dir ist klar, was das heißt? Auch wenn du hier fertig bist, kommst du weiterhin in den Genuss seiner besonderen Lehrmethoden.«

Ryan stöhnte. »Das ist nicht hilfreich, Dad.« Dann schaute Ryan auf, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Heißt das, Labri kommt auch mit?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eglerion und sie sich trennen würden.«

Ryan stöhnte erneut.

»Was ist?«, fragte Jared. »Magst du Labri nicht?«

»Doch, sie ist ganz in Ordnung. Sogar nett, wenn sie nicht gerade mit Steinen nach mir wirft. Aber hast du gewusst, dass Elfen öffentlich baden und nichts dabei finden, sich vor anderen nackt zu zeigen? Arabelle dürfe nicht allzu begeistert davon sein, wenn ich mit einer nackten Elfin abhänge.«

Jared brach in Gelächter aus. »Dann liegt es wohl an dir, sie über die menschlichen Sitten aufzuklären. Erklär ihr einfach, dass dir ihre Nacktheit unangenehm ist und sie dich in Schwierigkeiten mit deiner Verlobten bringen könnte. Sie wird es verstehen.«

Die Tür schwang auf und knallte gegen die Wand. Aaron wankte herein. Zumindest glaubte Jared, dass es sich um seinen jüngeren Sohn handelte. Er sah eher aus wie ein schmuddeliger, schlammbedeckter, menschenförmiger Fleischklumpen. Und genau wie zuvor Ryan ließ er sich kraftlos aufs Bett plumpsen.

»Anscheinend hattest du einen vergnüglichen Tag im Wald«, zog Ryan ihn auf. »Aber du hättest nicht gleich die Hälfte davon mitbringen müssen.«

Jared schmunzelte. »Ryan, hilf deinem Bruder vom Bett, bevor er es völlig versaut. Zeit zu futtern. Ich hab jede Menge vom Abendessen mitgebracht, weil ich nicht sicher war, was ihr bekommen würdet.«

Kaum hatte Jared Essen erwähnt, richtete sich Aaron abrupt auf.

Jared verteilte auf dem Tisch, was er mitgebracht hatte, und seine Jungs verschlangen es geradezu. Er hatte gedacht, es würde auch fürs Frühstück für sie alle reichen – aber als sie fertig waren, blieb kein Krümel übrig.

»Tja, Aaron, da du jetzt eine ganze Tagesration in dich reingeschaufelt hast, könntest du uns vielleicht erklären, warum du von Kopf bis Fuß voll Schlamm bist.«

Aaron schüttelte grinsend den Kopf. Das Essen hatte seine Stimmung deutlich gebessert. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie stark Castien ist, Dad. Und er bewegt sich wie ein Reh durch den Wald. Ich schwör dir, er könnte Throll besiegen, ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen. Die nächsten Monate werden spitze

Jared lachte. »Je schwieriger die Herausforderung, desto mehr scheinst du sie zu genießen.« Liebevoll zerzauste er Aaron das schmutzige Haar.

»Oh! Ich hab da was, das ich euch zeigen will.« Aaron eilte zu seinem schlammbespritzten Rucksack und holte zwei runde Steine daraus hervor. »Ich bin – wie so oft heute – in eine Schlammgrube gefallen, und die Steine hier haben dort total fehl am Platz gewirkt. Ich bin mir nicht sicher, aber ich dachte, es könnte Damantit sein, Dad. Sie haben diese roten und schwarzen Einschlüsse, die du beschrieben hast.«

Jared wog einen der Steine in der Hand. Eindeutig leichter als das Metall, das er in Azazels Turm gefunden hatte. »Scheint zwar metallisch zu sein, aber das Gewicht passt nicht für Damantit. Ich hab keine Ahnung, was das ist.«

Ryan beugte sich näher. »Wollen wir ausprobieren, ob das Material eine Ladung halten kann? Und wie viel?«

»Immer noch experimentierfreudig«, sagte Jared und reichte seinem Sohn die Steine. »Ich vermute, das wird dir Eglerion wohl nicht abgewöhnen können.«

Ryan grinste. »Eglerion ist selbst experimentierfreudig, auch wenn er’s nicht zugeben will.«

Er legte die Steine auf den Tisch und leitete mit zwei winzigen Ranken Energie in sie. Beide begannen zu leuchten.

»Fang an zu zählen!«, sagte Aaron aufgeregt.

Jared wollte es gerade tun, doch in dem Moment sprühten beide Steine Funken.

Ryan lehnte sich zurück. »Verflixt. Sie sind schon voll.«

»Seltsam«, sagte Jared. »Vielleicht sind sie innen hohl und deshalb so leicht. Oder vielleicht haben sie viele Unreinheiten.«

»Kann ich einen behalten?«, wollte Ryan von Aaron wissen. »Ich würde ihn gern genauer studieren. Schlimmstenfalls eignet er sich als Nachtlicht«, fügte er schmunzelnd hinzu.

Aaron nickte. »Klar. Vielleicht benutze ich den anderen auch als Nachtlicht.«

Jared lachte. »Sieh sich einer meine Jungs an. Beide praktisch verheiratet, trotzdem brauchen sie immer noch Nachtlichter.« Er hob seinen Verständigungsring an. »Soll ich Sloane und Arabelle eine Nachricht schicken und ihnen verraten, dass ihr beide Angst vor der Dunkelheit habt?«

Aarons Augen wurden groß. »Dad, das würdest du nicht tun.«

»Ein Vorschlag: Du gehst dich – gründlich – waschen, und ich behalte dein kleines Geheimnis für mich.«

Jared hatte gar nicht gewusst, dass sich sein jüngster Sohn so schnell bewegen konnte.