Clankton Hammerwerfer führte die anderen Zwerge durch die Tunnel aus dem Gebirge, das sie ihr Zuhause nannten. Sie waren guter Dinge, als sie die Höhle erreichten, die ins Gebiet von Aubgherle mündete. Die Höhlenwände wölbten sich sanft über ihnen und bildeten einen Baldachin aus trockenem, dunklem Gestein. Draußen vor dem Eingang stand die Sonne tief über dem entfernten Horizont. Clankton empfand den Anblick als beruhigend.
»Also gut, Jungs«, sagte er. »Kundschaften wir die Umgebung aus, solange es noch hell ist. Vergewissern wir uns, dass keine Gefahren lauern. Geht zu zweit los. Bei Tagesanbruch brechen wir nach Aubgherle auf.«
Die Mitglieder des Hammerwerfer-Clans verteilten sich, um seiner Aufforderung nachzukommen.
Clankton verkörperte den Gesandten des Hammerwerfer-Clans und hatte den Auftrag, dem kürzlich gekrönten König in Aubgherle Bericht zu erstatten. Sein Vater – Mattias, Oberhaupt des Hammerwerfer-Clans – hatte ihm diese Verantwortung übertragen. Clankton wusste, dass sein Vater hoffte, sein Sohn würde dabei Führungsqualitäten unter Beweis stellen. Als Jugendlicher war er schüchtern gewesen und hatte die Missbilligung seines Vaters über die Jahre hinweg deutlich gespürt.
»Clankton«, hatte sein alter Herr einmal gesagt, »du solltest überlegen, deiner Schwester die Führung des Clans zu überlassen, wenn ich nicht mehr bin. Du bekommst nicht den Respekt, den ein Anführer haben sollte.«
Während seine Zwerge kundschafteten, zündete er ein Feuer an. Als die ersten zurückkehrten, hatten die Flammen die Höhle bereits angenehm gewärmt.
»In die Richtung von Azazels Turm ist alles in Ordnung«, berichtete einer.
Clankton nickte. »Fangt an, das Abendessen zuzubereiten. Ich denke, ein feiner Hammelbraten würde gut zum Herbstbier passen.« Er selbst wandte sich seinen Karten zu und plante eine Route für den nächsten Morgen.
Paarweise kehrten nach und nach die anderen Kundschafter zurück und gaben Entwarnung. Nur das letzte Duo verspätete sich, und schließlich kam nur einer der beiden an. Er sah zerlumpt und abgekämpft aus, als hätte er eine lange Reise hinter sich.
»Wir haben uns wie geplant in südlicher Richtung umgesehen«, berichtete der müde Zwerg. »Dort ist es verdammt gruselig. Weder hört man noch sieht man irgendetwas Lebendiges, das kann ich euch sagen. Ich habe nur Wald, Nebel und Stein entdeckt. Da wollte ich umkehren, aber Halas hat sich geweigert. Er hat gesagt, er hätte ein wunderschönes Lied gehört und wollte unbedingt die Quelle finden. Ich konnte nichts hören, das habe ich ihm auch gesagt. Halas hat überhaupt nicht mehr auf mich geachtet. Ich glaube, irgendetwas ist mit seinem Gehirn passiert. Er ist einfach weitermarschiert. Deshalb bin ich zurückgekommen, um dir Bescheid zu geben.«
Clankton tobte: »Du hast deinen Kameraden allein in den Spukwald wandern lassen? Wie um alles in der Welt kommst du darauf, das wäre eine gute Idee?« Er schüttelte den Kopf. »Na schön, Hammerwerfer. Macht Asche auf das Feuer. Wir müssen unseren Vetter finden, und zwar sofort.«
* * *
Halas stand auf einer Lichtung inmitten eines nebelverhangenen Walds. Vor ihm befand sich ein uralt wirkendes Haus mit dunklen Fenstern, und doch schien es in grünliches Licht getüncht zu sein. Seltsam war, dass sich Halas nicht daran erinnern konnte, wie er hier gelandet war. Er wusste noch, dass er mit seinem Kameraden gekundschaftet hatte, und dann ... war er auf einmal hier.
Er hörte eine Stimme. Oder ... eine Melodie. Und sie löste Visionen aus. Er sah sich selbst, wie er eine wunderschöne Frau umarmte. Sie war unheimlich groß und dünn und hatte blondes Haar. Völlig anders als die Frauen, die sonst Halas’ Aufmerksamkeit erregten. Sie war nicht mal eine Zwergin. Aber wunderschön, und sie würde ihm gehören.
Halas setzte sich in Bewegung, ging um das Haus herum. Als er einen schlichten Steinaltar erblickte, wusste er irgendwie, dass sich die Schönheit dort versteckte. Mit ihr würde sein Leben für immer glückselig sein. Er musste sie nur finden.
Eine Hand packte ihn am linken Arm. Eine andere ergriff seinen rechten.
»Halas! Ist dein Gehirn verkohlt? Nichts wie weg von diesem verfluchten Ort.«
Halas schrie und wehrte sich gegen seine Häscher. »Lasst mich in Ruhe!«, brüllte er. »Ich sage euch, sie braucht mich, und sie will nur mich. Das wird mir keiner von euch nehmen!«
* * *
»Was soll das heißen, ich war im Wald? Und warum haltet ihr mich wie einen Gefangenen?«
Sie befanden sich wieder in der Höhle. Clankton stand über Halas, den die anderen Mitglieder des Clans zu seiner eigenen Sicherheit fesselten. »Halas, ich glaube, wir alle haben dir gerade das Leben gerettet. Du bist in die Klauen der Hexe geraten. Verdammt, sogar ich hatte Visionen von ihr.«
Und sie waren betörend gewesen. Clankton hatte eng umschlungen mit der schönen Elfenhexe im Bett gelegen. Und so abstoßend der Gedanke auch war – ein Zwerg mit einer Elfin –, es hatte zu den berauschendsten Gefühlen gehört, die er je empfunden hatte.
»Was jetzt?«, fragte einer der anderen Zwerge.
»Wir müssen die Reise nach Aubgherle verschieben und nach Hause zurückkehren, um die anderen Clans zu warnen. Wir müssen ihnen berichten, was wir erlebt haben, damit niemand mehr den Verlockungen der Hexe zum Opfer fällt. Die Anführer der Clans sollen dann entscheiden, ob noch mehr getan werden muss.«
Die um das Feuer versammelten Zwerge nickten zustimmend. Clankton war zufrieden. Ich habe die Richtung vorgegeben, und die Männer haben sie widerspruchslos akzeptiert. Wir haben einen der unseren gerettet und warnen unsere Leute vor einer möglichen Gefahr. Ich würde sagen, das ist gute Führung.
* * *
Mehr als zwei Monate waren vergangen, seit Gerald und sein Bruder ihren Auftrag übernommen hatten, und immer noch hatten sie ihre Beute nicht mal zu Gesicht bekommen. Gerald stand kurz davor, aufzugeben. Er hatte genug davon, im Dreck zu leben. Er wollte die Anzahlung mit einem Boten zu Dominic zurückschicken und flüchten. Allerdings war Roland überzeugt davon, der Zauberer würde sie finden und töten, wenn sie wegliefen.
Gerald befürchtete, das würde er so oder so tun. Dominic schien ihm kein Mann zu sein, der Zeugen seiner Handlungen hinterlassen würde.
Er hielt wie immer durch sein Periskop Ausschau, als sich ein Trupp bewaffneter Elfen die Straße entlang in Richtung des Bauernhauses näherte. Was hatten Elfen hier zu suchen?
Dann erhaschte er einen flüchtigen Blick auf ihre Zielpersonen, die sich mitten unter den Elfen befanden. Endlich!
Wenn die Jungen doch nur allein wären.
Die Gruppe setzte den Weg bis zum Bauernhaus fort. Die beiden Jungen gingen hinein, gefolgt von zwei seltsamen Hunden mit Flügeln. Die Truppe der Elfen ging vor dem Haus in Stellung, hielt unübersehbar Wache. Das gestaltete die Sache schwieriger.
Roland sandte ein kurzes Zeichen aus reflektiertem Licht. Es bedeutete: Bleib wachsam. Nun, natürlich würde er wachsam bleiben. Immerhin tat sich zum ersten Mal seit zwei Monaten etwas.
Er lächelte. Endlich hatte das Warten ein Ende. Und bald würde dasselbe für das Leben der Jungen gelten.
* * *
Als Ryan mit den Elfen zum Bauernhaus ging, lächelte er. Zwar würde er Eluanethra vermissen, trotzdem war er froh, wieder zu Hause bei den vertrauten Geräuschen und Gerüchen zu sein. Gleichzeitig empfand er alles als unterschwellig anders, denn etwas hatte sich verändert: er selbst. Er spürte die Macht, die ihn durchströmte, wie nie zuvor in seinem Leben.
Und nicht nur er hatte sich verändert. Auch Aaron. Seine Züge wirkten wie gemeißelt, sein schlanker Körper war deutlich muskulöser geworden. Gleichzeitig schien er leichtfüßiger zu sein und sich anmutig wie ein Elfenkrieger zu bewegen.
Als sie sich dem Haus näherten, öffnete sich die Tür. Ryans Mutter erschien mit Freudentränen in den Augen auf der Schwelle. Ryan hatte eine Warnung vorausgeschickt, deshalb kam sie nicht heraus. Doch kaum hatten die Wächter die Brüder zur Tür begleitet, schloss sie beide in die Arme und überhäufte sie mit tränenreichen Küssen.
Danach erhielt Ryan dieselbe Begrüßung von Arabelle, wenngleich mit einer noch innigeren Umarmung. Sogar, als sie sich alle am Tisch versammelt hatten, ließ sie seine Hand noch nicht los.
Über die Verbindungsringe hatte er bereits den Großteil berichtet – unter anderem, dass er mit Seder gesprochen hatte und dadurch von der tödlichen Gefahr wusste, in der Aaron und er schwebten. Aber bisher hatte er keine Einzelheiten genannt. Als sich alle niedergelassen hatten, begann er damit.
»Seder hat mir mitgeteilt, dass Sammael einen neuen Diener als Ersatz für Azazel gefunden hat. Dieser Mann hat Meuchler angeheuert, die Aaron und mich umbringen sollen. Ich weiß nicht, wer dieser Diener oder die Meuchler sind, nur, dass die Gefahr echt ist. Und dass sie vorhaben, uns gleichzeitig zu beseitigen.«
»Tja, das wird ihnen nicht gelingen«, meinte Jared entschlossen. »Erst recht nicht mit den neuen Rüstungen für alle. Weil wir gerade davon reden: Ryan, du musst ein paar Dinge für mich aufladen.«
»Neue Rüstungen?«, fragte Aaron. »Was war denn falsch an meiner alten Rüstung?«
»Nichts war falsch daran. Aber mir ist klar geworden, dass sie noch besser sein könnte. Also habe ich in eurer Abwesenheit eine Vereinbarung mit Silas Rotbart ausgehandelt. Ryan, du erinnerst dich bestimmt an ihn von den Höhlen in der Nähe von Azazels Turm. Ich habe jetzt neues Metall, mit dem ich arbeiten kann. Und ich denke, ihr werdet zufrieden sein.« Dad zwinkerte und grinste.
Aaron öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch in dem Moment tapste Rubina auf Ryan zu und rief mit schriller Stimme: »Hunger!«
Arabelles Mund klappte auf. »Sie können sprechen? «
Ryan kramte ein Stück Dörrfleisch aus der Tasche und warf es seiner Drachendame zu. »Das konnten sie schon bei ihrer Geburt, da jedoch nur in Drachensprache. Jetzt lernen sie gerade Trimorianisch. Es ist unglaublich.«
Zu dem Zeitpunkt legte letztlich Silver seinen Auftritt hin. Ryan hatte es Kopfzerbrechen bereitet, wie die riesige Sumpfkatze und die Drachenbabys aufeinander reagieren würden und ob es zu einem Gewaltausbruch kommen könnte.
Einen Moment lang schien die Lage angespannt zu sein. Silver beäugte die Drachen misstrauisch, die den Blick unbeirrt erwiderten. Dann fingen die Drachen an, seltsame Geräusche von sich zu geben, die Ryan noch nie von ihnen gehört hatte. Es war weder Trimorianisch noch die quiekende Drachensprache, eher eine Abfolge von keckernden Lauten.
Und zur Überraschung aller keckerte Silver prompt zurück. Dasselbe Geräusch hatte er früher als gewöhnliche Hauskatze gemacht, wenn er durchs Fenster einen Vogel gesehen hatte.
So ging es eine Minute weiter, dann legte sich Silver auf den Boden, die beiden Drachen rollten sich neben ihm ein, und alle drei schnurrten.
»Kurz dachte ich, es würde heute gebratene Katze oder Drachenfrikassee zum Abendessen geben«, merkte Throll scherzhaft an.
»Bin froh, dass es nicht so ist«, sagte Aaron. »Elfenessen ist schön und gut, trotzdem freue ich mich seit zwei Monaten auf gutes altmodisches trimorianisches Essen von den besten Köchinnen, die ich kenne.«
Wie zur Betonung knurrte sein Magen. Ma und Gwen lachten.
»Manche Dinge ändern sich nie«, merkte Sloane kopfschüttelnd an.
* * *
Als nach dem Abendessen die Teller abgeräumt waren, nahm Ryan die Aura der Anwesenden in Augenschein. Dabei fiel ihm eine Merkwürdigkeit bei der von Sloane auf. Normalerweise verbanden all die dünnen Fäden, die von jemandes Kopf ausgingen, in einem wilden Gewirr einen Teil des Gehirns mit einem anderen. Bei Sloane hingegen erwies sich ein solcher Faden als lose, nur an einem Ende verbunden.
»Sloane, vertraust du mir?«, fragte er.
Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine seltsame Frage.«
»Tut mir leid, es ist nur ... Ich sehe da etwas Ungewöhnliches an deiner Aura und möchte es ein wenig erforschen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nichts spüren wirst. Ist das für dich in Ordnung?«
»Meine Aura?«
»Das ist eine lange Geschichte, aber ja ... Also, vertraust du mir?«
Sloane wirkte zögerlich, aber sie nickte. »Denke schon.«
Ryan stellte sich hinter sie und betrachtete eingehend ihren Kopf. Er fand den losen Faden wieder und versuchte, ihn mit der Hand zu ergreifen. Seine Finger fuhren geradewegs hindurch. Er versuchte es stattdessen mit Energie. Diesmal bewegte er sich.
»Hast du das gespürt?«, erkundigte er sich.
»Ich spüre nur, dass du über mir bist.«
Er hielt den Faden mit seiner Magie fest, verfolgte ihn zurück zu seinem Ursprung und begutachtete die Form der Öffnung, aus der er kam. Aus Eglerions Buch wusste er, dass die Fäden in der Regel zwei Öffnungen der gleichen Form miteinander verbanden. Nachdem er sich also die Form der Ursprungsöffnung eingeprägt hatte, suchte er nach einem freien Loch, das genauso aussah. Es dauerte einige Minuten. Sloane wetzte unruhig auf ihrem Sitz, und Aaron brummelte vor sich hin. Schließlich jedoch fand Ryan dieselbe Form – nicht auf ihrer Kopfhaut, sondern tief in ihrem Geist.
Mit behutsamem Einsatz von Energie manövrierte er das lose Ende an die passende Stelle. Es rastete ein, als wäre es dafür bestimmt, und plötzlich veränderte sich der Schimmer um Sloanes Kopf.
Sie schnappte nach Luft.
»Alles in Ordnung?«, fragte Aaron. »Hat er dir wehgetan?«
Sloane legte einen Finger an die Lippen, bevor sie in schneller Abfolge von einem Anwesenden zum anderen schaute. Als sich ihr Blick auf Aaron heftete, errötete sie.
Dann sprang sie auf und drückte Ryan innig. »Oh danke, danke, danke!«
»Was ist los? Was hast du gemacht, Ryan?«, fragte Aaron barsch.
Ryan hätte ihm gern geantwortet, aber er wusste es selbst nicht. Er hatte nur getan, was er für naheliegend und richtig gehalten hatte.
»Du bist besorgt um mich!«, rief Sloane aufgeregt.
»Natürlich bin ich besorgt. Ich will nicht ...«
Sloane wirbelte zu Arabelle herum. »Ryan ist unheimlich besorgt darüber, du könntest eifersüchtig auf Labri sein. Er hofft so sehr auf dein Verständnis. Es ist nie etwas zwischen ihnen passiert. Ist das nicht süß?«
Arabelle schaute verwirrt drein. »Was?«
»Moment mal!«, rief Ryan. »Wie kannst du ...«
Sloane drehte sich so schnell Gwen zu, dass ihr blondes Haar ins Aaron Gesicht peitschte. »Mutter, der Kleine ist wach, aber er hört uns einfach beim Reden zu.« Dann sagte sie zu Ma: »Aubrey, Rebecca träumt gerade vom Füttern.«
»Oh Mann ...«, stieß Ryan hervor. »Du liest Gedanken.«
Als Test dachte er sich spontan etwas Lächerliches aus. Das Losungswort ist Bubba , dachte er.
Sloane sah ihn stirnrunzelnd an. »Bubba?«
»Das hat sie gerade aus meinem Kopf gelesen!«, rief Ryan.
Sloane hob die Hände vor den Mund. »Oh! Ich kann sogar Silver und die Drachen beim Schlafen hören!«
»Das ist wirklich unglaublich«, sagte Jared.
Alle zeigten sich beeindruckt – bis auf Aaron, der finster dreinschaute.
»Soll das ein Scherz sein, Ryan? Du hast Sloane beigebracht, Gedanken zu lesen? Jetzt komme ich nie wieder mit irgendwas davon!«