Ryan nahm pflichtbewusst Eglerions Schelte dafür hin, was der Elf als »experimentellen Gebrauch seiner Kräfte an anderen« bezeichnete. Wenngleich sowohl Ryan als auch Sloane mit dem Ergebnis recht zufrieden waren, musste Ryan zugeben, dass Eglerion wahrscheinlich recht hatte. Der Versuch, den Geist seiner Freundin zu beeinflussen, war riskant gewesen. Aber als er den losen Faden gesehen hatte, war für ihn offensichtlich gewesen, was er damit tun sollte. Vielleicht gehörte dazu, dass man sich bis zu einem gewissen Grad auf Instinkte verließ. Dennoch musste er einräumen, dass es wohl dumm gewesen war, es ohne vorherige Überlegung, Rücksprache mit Eglerion oder Nachlesen in den Büchern zu tun.
Mittlerweile war es später Abend. Alle außer Aaron, Sloane und Arabelle hatten sich früh in ihre Zimmer begeben. Ryan hatte ungefähr die letzte Stunde damit verbracht, Aarons neue Rüstung aus Damantit aufzuladen. Ryans Erfahrung mit dem seltsamen Metall beschränkte sich auf die eine Probe, die er in Azazels Turm gefunden hatte. In Eluanethra hatte er gelernt, dass dieses Metall vom Blut verwundeter Dämonenfürsten stammte. Eglerion hatte ihm beigebracht, dass es in einer Zeit vor vielen Tausend Jahren die Barriere zwischen der Niederwelt und Trimoria nicht gegeben hatte. Damals war Dämonenblut häufiger vergossen worden. Ryan hatte keine Ahnung, wie ein Dämon aussah oder blutete. Aber er wusste mit Sicherheit, dass dieses Metall relativ leicht war, stärker als jedes andere, das er kannte, und mehr Energie aufnehmen konnte als praktisch alles, was ihm je untergekommen war. Er musste so viel Energie aufwenden, um Aarons Rüstung aufzuladen, dass er dabei Nahrung im Umfang von fast 20 vollwertigen Mahlzeiten zu sich nehmen musste.
Als er das letzte Stück der hell schimmernden Rüstung auf den Tisch legte, betrachtete er das Ergebnis voll Stolz. Die Rüstung leuchtete in feurigem Rot. Ryan hörte das Summern der gewaltigen Energiemengen, die er auf das Metall übertragen hatte. Als Aaron den Anblick sah, brachte er nur hervor: »Wow.«
Ryan lächelte. »Dad hat die Rüstung hergestellt. Wahrscheinlich hat er tagelang daran gearbeitet. Ich habe sie nur aufgeladen.«
»Silver träumt gerade von einem Mann, der sich unter einem Gebüsch versteckt«, sagte Sloane plötzlich. »Ich erkenne die Umgebung. Ich glaube, das Versteck ist ganz in der Nähe vom Haus.«
Ryan runzelte die Stirn. »Ich frage mich, ob das der Kerl ist, vor dem wir uns in Acht nehmen sollen.«
»Sloane, was machst du denn?«, fragte Aaron.
Mit konzentriert gerunzelter Stirn starrte sie Silver an. Plötzlich erwachte Silver und gab eine Reihe keckernder Laute von sich.
Ryan flüsterte Aaron zu: »Ich glaube, deine Verlobte redet mit unserem Kater.«
Silver legte den Kopf wieder hin und schloss die Augen.
Sloane drehte sich aufgeregt Aaron zu. »Er hat mich verstanden!«
»Und du verstehst diese merkwürdigen Geräusche von ihm?«, fragte Aaron.
»Nein, nicht die Töne. Aber während er gesprochen hat, konnte ich irgendwie die Bedeutung in seinem Kopf sehen. Er hat gesagt, dass draußen zwei stinkende Menschen in der Erde liegen. Sie riechen nach Angst und Gefahr.«
Aaron umarmte sie. »Du bist spitze. Wenn das die sind, für die ich sie halte, hast du uns vielleicht gerade das Leben gerettet.«
»Weißt du genau, wo sie sich verstecken?«, hakte Ryan nach.
»Ja. Ich kann euch die genaue Stelle zeigen. Sie liegt in Sichtweite von unserer Haustür.«
* * *
Beide Drachen setzten sich auf und kreischten. »Füttere mich«, verlangte Piet von Gwen. Sie lächelte, während sie ein Tablett außer Reichweite der beiden hielt.
»Ryan! Aaron! Eure Drachen wollen Futter. Was kann ich ihnen geben?« Merkwürdig, dachte sie, als sie keine Antwort bekam. Müssen wohl früh zu Bett gegangen sein.
Die Drachen bettelten zu Gwens Füßen wie Welpen.
»Esst ihr gebratenen Speck?«, fragte sie. Zu Gwens Erstaunen nickten beide Drachen.
Gwen ergriff behutsam einen Streifen Speck und warf ihn den Drachen zu. Piet schnappte ihn sich sofort und kaute begeistert darauf herum.
Rubina sah Gwen an und quiekte: »Und ich?«
Lachend reichte Gwen auch ihr einen Streifen. Das Drachenmädchen nahm ihn vorsichtig aus Gwens Fingern an und mampfte zufrieden. Während Rubina ihr Stück aß, leckte Piet mit der schlangenartigen Zunge sämtliche Krümel vom Boden auf. Gwen erstaunte, wie gut sich die Drachen benahmen. Alle Geschichten, die sie über diese Geschöpfe gehört hatte, deuteten an, sie wären brandschatzende, dumme Tiere, die alles in Sichtweite zerstörten. Was auf diese beiden eindeutig nicht zutraf.
Als Piet anscheinend keine weiteren Krümel fand, schaute er zu Gwen auf. »Mehr?«
Gwen lächelte. »Kommt mit in die Küche. Ich mache euch einen Abendimbiss. Offenbar haben euch die Jungs nicht genug gegeben. Keine Sorge. Irgendwie gelingt es mir schon, alle im Haus satt zu bekommen.«
Beide Drachen tapsten beflissen hinter Gwen her in Richtung der Küche.
* * *
Ryan schlich durch das Haus, um seine Eltern nicht zu wecken. Gemäß dem Plan, den er sich mit Aaron ausgedacht hatte, sollte Aaron inzwischen in seiner neuen Rüstung stecken. Sie wollten sich an der Eingangstür treffen, um sich zu zweit um die Bedrohung draußen zu kümmern, ohne dass sonst jemand eingreifen müsste.
Aber als Ryan das Wohnzimmer durchquerte, flammte eine Lampe auf. Sloane und Arabelle standen vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. Dahinter befanden sich Ryans Eltern, Throll und Gwen. Auch Aaron erblickte er. Throll hatte die große Pranke um seinen Nacken gelegt.
»Ryan. Wie schön, dass du dich uns anschließt«, sagte Throll. »Vielleicht erklärst du mir, warum du und dein Bruder mitten in der Nacht durch mein Haus schleichen?«
Aaron zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, Ryan. Ist nicht so einfach, sich in voller Rüstung lautlos zu bewegen.«
»Und für mich ist es nicht so einfach zu überhören, wie ihr zwei Pläne schmiedet«, fügte Sloane hinzu. »Weißt du, deine Gedanken haben euren Plan durch das ganze Haus ausgestrahlt.«
»Jungs«, ergriff Dad das Wort, »das ist ernst. Sagt uns, was los ist.«
Ryan erzählte ihnen von Sloanes Unterhaltung mit Silver und von dem Plan, den er mit Aaron ausgeheckt hatte, um die beiden Meuchelmörder zu stellen.
Throll runzelte die Stirn. »Die Grundlage eures Plans ist ja in Ordnung. Aber ihr bekommt meine Unterstützung, ob ihr wollt oder nicht.«
»Meine auch«, fügte Dad hinzu.
Ma stupste ihn in die Rippen. »Unsere .«
Plötzlich ereilte Ryan ein Gedanke, der ihm zuvor nicht in den Sinn gekommen war. »Sloane? Meinst du, dass du dich gedanklich mit jemanden in Verbindung setzen kannst, der draußen sein Lager aufgeschlagen hat? Mit Ohaobbok zum Beispiel? Oder Castien?«
»Natürlich!«, sagte Aaron. »Was für eine tolle Idee. Wir rufen die Elfen zu Hilfe!«
Ein konzentrierter Ausdruck trat in Sloanes Gesicht. Als er sich legte, öffnete sie die Augen und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich habe Castien und Ohaobbok gerade zugerufen, sie sollen bitte zur Eingangstür kommen. Keine Ahnung, ob sie mich gehört haben.«
Wenige Augenblicke später klopfte es an der Tür.
Als Throll lachte, blitzten seine weißen Zähne zwischen dem dichten Bart auf. »Ich glaube, es hat geklappt.«
Als er die Tür öffnete, traten Castien und Ohaobbok ein.
Rasch klärte Ryan sie über die Lage auf.
»Keiner von euch wird sein Leben aufs Spiel setzen«, entschied der Elf, als Ryan fertig war. »Das schreit nach Verstohlenheit. Ganz gleich, wie gut ihr zu sein glaubt, für euch ist aussichtslos, euch an jemanden anzuschleichen, der auf euch lauert.«
»Und du meinst, du kannst es?«, fragte Throll.
Castien nickte. »Ich und einige meiner Kundschafter.«
»Kannst du die Männer auch lebendig fassen?«, wollte Ryan wissen. »Wir müssen herausfinden, wer sie angeheuert hat.«
Castien runzelte die Stirn. »Das könnte schwierig werden. Ist nämlich nicht so einfach zu verhindern, dass sich ein Meuchler selbst das Leben nimmt. Das tun sie oft.«
»Ich könnte mitkommen und sie lähmen«, bot Ryan an.
»Verstohlenheit, schon vergessen?«
Statt einer Antwort konzentrierte sich Ryan auf einen besonderen Schild, an dem er gearbeitet hatte. Er baute ihn auf, wickelte ihn um sich und schloss ihn. »Wie wär’s damit?«, fragte er.
»Oha!«, entfuhr es Aaron. »Wo bist du hin?«
Ryan lächelte. »Schätze, es hat funktioniert. Ich habe mir überlegt, wie ich Licht so um mich wickeln kann, dass es den Eindruck vermittelt, man könnte durch mich hindurchsehen. In Wirklichkeit seht ihr um mich herum.«
Dad stieß einen Pfiff aus. »Unsichtbarkeit. Ich bin beeindruckt. Das muss ich auch ausprobieren.«
Ein konzentrierter Ausdruck trat in sein Gesicht. Durch das Summen in der Luft spürte Ryan, dass sein Vater einen Schild erschaffen hatte, der ihn jedoch nicht unsichtbar werden ließ. Stattdessen erzeugte es verschiedenste blinkende Lichter und Verzerrungen, von denen Ryan schwindlig wurde.
»Ich brauche wohl mehr Übung«, meinte Dad und ließ den Schild sinken.
»Ryan, du kannst mitkommen«, entschied Castien. »Aber denk daran: Dass man dich nicht sehen kann, heißt noch lange nicht, dass man nicht hören kann, wie du dich näherst. Geh auf den Fußballen und verhalte dich sehr leise.«
Ryan nickte.
»Falls du gerade nickst: Ich kann es nicht sehen.«
»Oh, richtig. Entschuldigung«, sagte Ryan. »Ja, ich habe verstanden.«
»Dann komm mit«, sagte der Elf.
Ma hatte Tränen in den Augen. »Sei vorsichtig. Ich bin hier, falls ihr mich braucht.«
Arabelle hielt Sloanes Hand. »Sloane, kannst du bitte im Auge behalten, was Ryan sieht, und es uns sagen? Ich mache mir Sorgen.«
Ryan lächelte, als er merkte, dass alle dachten, er wäre bereits gegangen. Alle außer Castien.
»Bleib einfach links hinter mir«, murmelte der Elf, als er das Haus verließ. Er gab mit der Hand ein Zeichen. »Wenn ich so mache, hast du deinen Auftritt. Verstanden?«
»Verstanden.«
* * *
Wachsam wartete Gerald. Die Sonne würde erst in ein paar Stunden aufgehen, aber er hatte den Oger gesehen, der die Eingangstür zum Haus der Lancasters bewachte, und den Elf, der hineingegangen und wieder herausgekommen war. Das war ungewöhnlich. Und Gerald verdingte sich schon lang genug als Meuchelmörder, um zu wissen, dass alles Ungewöhnliche sowohl gefährlich sein als auch eine Gelegenheit bieten konnte.
Ein Funke sprühte von einem Stück Feuerstein an der Stelle von Rolands Versteck. Roland hatte den gleichen Gedanken gehabt.
Auf einmal verwandelte sich Geralds Welt in reinen Schmerz. Seine Muskeln verkrampften sich schlagartig. Er hatte keine Herrschaft mehr über sie und wurde aus seinem versteckten Bunker gezerrt. Zwei raue Hände packten seinen Mund und rissen ihn auf, während eine andere herumgrub und die Giftkapsel zwischen Wange und Zahnfleisch fand. Die Kleidung wurde ihm vom Leib gerissen, seine Waffen wurden entfernt.
Die werden mich foltern, dachte er.
Man fesselte ihm grob die Arme und Beine. Dann wurde er in Richtung des Hauses der Lancasters geschleift.
Ich frage mich, ob Roland entkommen ist.
* * *
Ryan und Castien schleppten den nackten Meuchler ins Haus. Im Wohnzimmer hielten sich mittlerweile nur noch Throll, Aaron und Sloane auf.
»Sloane«, ergriff Throll das Wort. »Ich erlaube dir nur, hier zu sein, damit du deine neue Fähigkeit einsetzen kannst. Bitte benimm dich reif.«
Sloane verdrehte die Augen.
»Wo ist der andere?«, fragte Aaron.
Castien hob den Mann auf einen Stuhl und band ihn mit einem Seil daran fest. »Dem anderen ist es gelungen, sich umzubringen«, flüsterte er. »Es gab nichts, was wir tun konnten. Das Gift hat zu schnell gewirkt. Den hier hat dein Bruder gelähmt, bevor er etwas Ähnliches versuchen konnte.«
Sloane sprach direkt in Ryans Gedanken. »Im Augenblick denkt er nur an seine Schmerzen. Tust du gerade etwas, das die verursacht?«
Ryan beendete den geringen Energiestrom, den er in den Meuchler fließen ließ. Erleichtert erschlaffte der Mann auf dem Stuhl.
»Frag ihn, was du willst«, übermittelte Sloane ihm. »Ob er antwortet oder nicht, ich kann dir sagen, was er denkt.«
Ryan stellte sich vor den Meuchelmörder. »Wer bist du? Und wer hat dich angeheuert?«
Ein Aufblitzen von Überraschung huschte über die Züge des Mannes, bevor der Ausdruck von Verachtung ersetzt wurde. Er schwieg.
»Sein Name ist Gerald. Der Mann, der ihn angeheuert hat, heißt Dominic. Das Bild, das er von dem Mann hat, ist ziemlich verstörend.«
Dominic?, dachte Ryan. Das kann doch nicht derselbe Dominic sein, oder?
Er lächelte Gerald an. »Weißt du, ich suche schon seit Jahren nach meinem guten Freund Dominic. Ich schulde ihm noch eine Messerwunde.«
Gerald wehrte sich gegen seine Fesseln, bis Castien ihm einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste.
»Wie viele Leute hat Dominic angeheuert?«, fragte Ryan.
Gerald schwieg weiter.
»Nur zwei. Der Mann, der gestorben ist, war Geralds Bruder. Roland.«
»Tut mir leid, dass Roland gestorben ist«, sagte Ryan.
Damit erzielte er eine Reaktion. Gerald mochte ein Mörder sein, aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schmetterte es ihn aufrichtig nieder, vom Tod seines Bruders zu hören.
»Welche Anweisungen haben du und Roland erhalten?«, fuhr Ryan fort.
»Sie wurden angeheuert, um dich und Aaron zu töten. Die einzige besondere Anweisung war, dass ihr gleichzeitig sterben müsst.«
Ryan nickte. »Letzte Frage. Wo ist Dominic?«
»Warte«, übermittelte Sloane. »Oh. Ja, ich erkenne den Ort. Er liegt in einer der schäbigeren Gegenden von Aubgherle.«
Ryan lächelte. »Gerald, du warst ein Quell der Hilfe. Danke.«
»Richtig«, bestätigte Throll. »Brauchen wir ihn noch?«
»Nein. Ich denke, wir haben alles, was wir brauchen.«
Throll versetzte Gerald einen mächtigen Schlag gegen die Schläfe, der ihm nicht nur das Bewusstsein raubte, sondern ihn samt Stuhl zu Boden schickte.
»Was hast du mit ihm vor?«, fragte Ryan.
»Ich habe vor, ihn bei Tagesanbruch auf dem Stadtplatz hinzurichten«, antwortete Throll mit knurrendem Unterton. »Wir können keine Angriffe auf einen zukünftigen Prinzen von Trimoria dulden.«
»Prinz?«
Sloane seufzte. »Du bist genauso begriffsstutzig wie dein Bruder. Ich bin doch jetzt Prinzessin, richtig? Und ich werde deinen Bruder heiraten. Also ...«
Ryan und Aaron sahen sich gegenseitig an. Die Erkenntnis ereilte sie gleichzeitig. »Oh«, stießen sie wie aus einem Mund hervor.