Aaron streckte sich im Bett und lächelte. Er hatte sich seit Wochen auf diesen Tag gefreut.
Einen freien Tag.
Kein Training, kein Unterricht, keine Hausarbeiten.
Stattdessen würde er den Tag mit Sloane verbringen. Er hatte versprochen, ihr zu zeigen, was er von den Elfen bei der Jagd mit Pfeil und Bogen gelernt hatte.
Aaron hatte noch kaum angefangen, sich anzuziehen, als sie an seine Tür klopfte. »Beeilung, Aaron! Ich hab einen ganzen Tag mit dir und will ihn voll auskosten.«
»Komm rein!«, rief er. »Ich bin größtenteils angezogen.«
Als Sloane die Tür öffnete, streifte Aaron gerade sein Hemd über. Sie trug Wanderkleidung – enganliegende Hose, Wanderschuhe und eine Bluse mit zusätzlichen Taschen. Obwohl ihre Kleidung eher praktisch als elegant war, bemerkte Aaron, wie eng die Hose saß. Ihre Beine waren lang und schlank, ihr Hintern wohlgeformt ...
»Lass das mal schön bleiben«, sagte sie barsch. »Es dauert noch ein paar Jährchen, bis wir verheiratet sind.«
Aaron schaute finster drein. »Ich werd Ryan nie verzeihen, dass er dir die Fähigkeit gegeben hat, meine Gedanken zu lesen.«
»Wenn ich es nicht könnte, hätten dich diese Meuchler vielleicht erwischt.«
»Wäre vielleicht gar nicht so verkehrt gewesen«, brummte Aaron.
»Sehr witzig. Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass ich dasselbe denke, wenn ich dich ohne Hemd sehe?«
»Ja. Äh ... vielleicht auch nicht. Ach, keine Ahnung. Lass uns das Thema wechseln. Bist du bereit für die Jagd im Wald?«
»Solange du versprichst, mich nicht wie eine Idiotin aussehen zu lassen. Während du pausenlos geübt hast, habe ich auf dem Hof gearbeitet und die Kinder gehütet.«
Aaron lächelte. »Versprochen. Immerhin warst du meine erste Lehrerin. Es wäre gemein, dich vorzuführen.«
Sloane verdrehte die Augen.
»Du, ich hab deinen Vater über einen großen Hasen reden gehört, der ihm seit Monaten entwischt. Vielleicht gelingt es uns, ihn zu schnappen.«
»Sicher, das wäre besonders klug. Genau die Beute zu fangen, auf die sich mein Vater schon so lange selbst freut. Er redet unheimlich gern darüber, wie knapp er dran gewesen ist, das dumme Vieh zu erwischen.«
Aaron runzelte die Stirn. »Guter Einwand. Vielleicht erlegen wir stattdessen einfach ein Reh.«
Hand in Hand gingen sie in die Küche, wo die Drachen auf dem Boden schliefen.
»Hallo, Rubina! Hallo, Piet!«, sagte Sloane.
Beide Drachen öffneten kurz ein Auge, bevor sie prompt weiterdösten.
Dann ertönte das Geräusch von kleinen Füßen, die den Flur entlangtapsten. »Rubina! Piet!«
Zenethar stürmte in die Küche. Die Drachen sprangen auf die Beine und rannten ihm entgegen.
»Solltest du nicht mit Ryan in der Schule sein?«, fragte Aaron.
»Ich hab Dopfweh!«, antwortete der Kleine und lachte, als Rubina ihm zart ins Beinchen biss.
»Ach, Kopfschmerzen«, meinte Aaron sarkastisch. »Ja, ich seh schon, es geht dir fürchterlich schlecht.«
»Na schön, Zenethar«, sagte Sloane. »Wenn du mit den Drachen spielen willst, dann mach das draußen.« Sie öffnete die Tür, und die drei jungen Spielkameraden huschten hinaus.
»Die Drachen werden allmählich groß«, stellte Aaron fest. »Ich glaube, Zenethar könnte schon auf ihnen reiten. Bald werden sie nicht mehr durch die Tür passen.«
»Wäre vielleicht besser so«, meinte Sloane. »In letzter Zeit fangen sie an, mit ihren Flügeln zu üben. Mutter war stinkwütend, als sie es im Haus versucht haben.«
»Sind im Wohnzimmer deshalb die Möbel alle in eine Ecke geschoben?«
»Ja. Sie haben ein heilloses Durcheinander angerichtet. Wenigstens haben sie gesagt, dass es ihnen leidtut.«
Aaron stand an der Tür und beobachtete die beiden Drachen mit Zenethar.
»Bin ich hübsch?«, fragte Rubina.
Zenethar umarmte das Drachenmädchen. »Ja. Du bist netter Drache!«
Piet stupste Zenethar mit der Nase. »Bin ich fett?«
Zenethar tätschelte Piets üppigen Bauch. »Nur bisschen.«
* * *
Als Aaron eine Bewegung vor sich wahrnahm, hielt er auf dem Pfad inne. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher und schärfte die Sinne, wie Castien es ihm beigebracht hatte. Natürlich spürte er Sloane unmittelbar hinter sich, und es überraschte ihn kaum, dass er außerdem vier Elfen in einem nahen Gebüsch wahrnahm. Sogar an Aarons freiem Tag bestand Castien darauf, dass ihn Elfenwächter vor möglichen Attentätern beschützten. Wenigstens blieben sie versteckt, damit er so tun konnte, als wäre er mit Sloane allein.
Eine Brise wehte, und Aaron schnappte den Moschusgeruch von Rehwild auf.
Er legte den Pfeil an, zog die Sehne zurück und wartete. Zehn Sekunden vergingen. Dann 20. Nach etwa einer Minute erhob sich ein Bock aus dem Blattwerk. Aber Aaron hatte noch kein freies Schussfeld.
Der Wind drehte. Bald würde der Bock ihn wittern, und dann liefe Aaron Gefahr sein, seine Beute zu verlieren.
Und tatsächlich, prompt drehte der Bock den Kopf, sah Aaron direkt in die Augen und blähte die Nüstern.
Aaron hielt den Atem an und verharrte regungslos.
Der Bock entfernte sich aus dem Blattwerk, und Aaron hatte freie Bahn. Er löste die Finger von der Sehne ...
Sloane stieß seinen Arm hoch. »Nein!«
Aarons Pfeil flog über sein Ziel hinweg und verschwand zwischen den Bäumen, ohne Schaden anzurichten. Der Bock preschte davon.
Aaron drehte sich Sloane zu, anfangs wütend, weil sie ihm den Schuss ruiniert hatte – bis er die Tränen sah, die ihr übers Gesicht liefen.
»Sloane? Was hast du? Ist es wegen dem Reh? Vergiss das einfach. Es gibt noch andere.«
Aufgelöst sah Sloane ihm in die Augen. »Aaron ... es tut mir leid. Ich kann das nicht. Ich hab die Angst des armen Tiers gespürt , als es dich gesehen hat. Es hat gewusst, dass es sterben würde. Ich ... ich kann nicht mehr mit dir jagen, Aaron. Es tut mir leid. Und um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass ich noch die Vorstellung ertragen kann, Fleisch zu essen. Nicht mehr, nachdem ich gespürt habe, was das arme Tier gefühlt hat.«
Aaron spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Er zog Sloane in seine Arme. »Ist schon gut. Wir müssen nicht jagen. Wir können einfach nach Hause gehen, oder ... was immer du willst.«
Sie drückte ihn fest an sich. »Können wir vielleicht einen Spaziergang machen? Nur wir beide?«
»Du meinst, nur wir beide und vier versteckte Elfenkrieger?«
Sie kicherte an seinem Hemd. »Ja. Sie auch. Eine bewaffnete Leibgarde ist sehr romantisch.«
»Sicher, gehen wir spazieren. Ich will eigentlich sowieso nicht wirklich jagen. Ich wollte nur den Tag mit dir verbringen.«
Sie zog sich zurück und lächelte. »Du wolltest sehr wohl jagen, aber danke. Ich sag dir was: Zu Mittag esse ich das Gemüse und du übernimmst die Brötchen mit Huhn.«
Er lachte. »Abgemacht.«
* * *
Ryan saß mit 30 anderen Schülern in Eglerions Geschichtsklasse. An diesem Tag fiel der Unterricht weniger trocken aus als sonst, da Eglerion ihnen Karten und Artefakte zeigte, die er aus Eluanethra mitgebracht hatte. Besonders interessant waren die Karten, die weit über die Grenzen des derzeit bekannten Trimoria hinausgingen. Sie stellten den gesamten Kontinent vor der Errichtung der Barrieren durch den ersten Protektor dar. Ryan fand am verblüffendsten, dass Eglerion tatsächlich alt genug war, um sich an die Zeit vor der Errichtung der Barrieren zu erinnern.
Leider befand sich auch Charlie Carbunkle, der mittlerweile zehnjährige Tyrann, in dieser Klasse. Der Junge hatte nur Flausen im Kopf und unlängst seinen Spaß an Spuckekügelchen entdeckt.
Ryan beobachtete, wie er ein Stück Pergament abriss, im Mund kaute, ein feuchtes, breiiges Kügelchen daraus formte und es auf einen jüngeren Schüler zwei Reihen vor ihm schnippte. Zum Glück ging das Geschoss daneben. Aber natürlich fertigte Charlie prompt das nächste Kügelchen an.
Ryan hatte genug. Er beschwor eine winzige Energieranke zwischen seinen Fingern herauf und feuerte einen glühenden Funken davon direkt auf Charlies Hinterteil ab.
Mit einem spitzen Aufschrei sprang Charlie vom Stuhl. Und so, wie er hustete, hatte er vor Schreck wohl sein Spuckekügelchen verschluckt.
»Jemand hat mich angegriffen!«, rief er zornig.
Eglerion verengte die Augen zu Schlitzen. »Und warum sollte dich jemand angreifen, Charlie?«
Ein anderer Schüler meldete sich zu Wort. »Er schnippt mit Spuckekügelchen herum.«
Der Blick des Lehrers verfinsterte sich. »Wenn das so ist, mein lieber Herr Carbunkle, wollen die anderen Schüler dir wohl nur dabei helfen, Selbstbeherrschung zu erlernen. Und falls es ihnen nicht gelingt ... tja, dann kannst du dich darauf verlassen, dass ich eine eigene Lösung finde. Du bist nicht das erste Disziplinproblem, das ich in den letzten 1000 Jahren hatte. Das kriegen wir schon hin. Wenn ich’s mir recht überlege ...« Er tippte sich ans Kinn. »Warum tauchst du den Kopf nicht in einen Eimer Wasser? Wenn du zurückkommst, fühlst du dich bestimmt besser.«
Charlies Augen wurden groß, und sein Gesicht lief rot an. Dann stürmte er aus dem Klassenzimmer.
Als Eglerion den Unterricht fortsetzte, lächelte Ryan. Im Gegensatz zu den anderen Schülern kannte er diese Seite von Eglerion schon. Nun wussten alle, was er bereits begriffen hatte: Mit dem Meister des Wissens der Elfen legt man sich besser nicht an.
* * *
»Was hältst du davon, wenn wir Pilze sammeln, die Mutter kochen kann?«, schlug Sloane vor, während sie und Aaron umherspazierten.
»Klar,« erwiderte er. »Ich weiß, wo es einen ganzen Haufen gibt. Sie sind mir bei einem Dauerlauf aufgefallen – natürlich in voller Rüstung.«
Sloane hängte sich bei ihm ein. »Geh voraus.«
Unterwegs benutzte Aaron die Sinne weiterhin so, wie Castien es ihm beigebracht hatte. Er spürte die Restfeuchtigkeit in der Luft vom leichten Regen des Vortags. Er roch frisch aufgewühlte Erde. Und er nahm die leisen Schritte der Elfen wahr, die sie beschatteten.
Dann jedoch hörte er etwas anderes – etwas, das er nicht hören sollte. Es war ein leises Wimmern, gefolgt vom Knirschen trockener Blätter unter Füßen.
Mit den Handzeichen, die er in Eluanethra gelernt hatte, forderte er die Elfen auf, einen Schutzkreis um Sloane zu bilden. Dann brachte er seinen Bogen in Anschlag und legte einen Pfeil an.
»Was ist los?«, flüsterte Sloane.
»Irgendetwas pirscht sich vom Waldrand aus an uns an«, flüsterte er zurück. Der Wind drehte, und er schnupperte. »Ich rieche Wölfe. Nimm sicherheitshalber den Bogen zur Hand.«
Aaron beobachtete weiter den Wald. Da – in nördlicher Richtung. Ein Aufblitzen von grauem Fell.
»Du bist schon mehr Elf als Mensch«, flüsterte einer der Leibwächter. »Ich habe das Rudel gar nicht bemerkt.«
Nach und nach zeichneten sich die Tiere am Rand des Walds ab. Junge Wölfe, mindestens ein Dutzend. Und nach den vorstehenden Rippen und dem gierigen Leuchten in ihren Augen zu urteilen, waren sie am Verhungern. Was keinen Sinn ergab – in diesem Wald tummelte sich reichlich Wild.
Er warf einen Seitenblick zu Sloane. Sie wirkte tief konzentriert.
Oh nein, dachte Aaron. Sie redet mit ihnen.
Winselnde Laute ertönten von dem Rudel. Sie wiederholten sich. Dann entfernten sich die Wölfe, trotteten in westlicher Richtung davon. Einige schauten über die breiten Schultern zurück.
»Wir müssen ihnen helfen«, sagte Sloane. Tränen kullerten ihr über die Wangen. »Ihr Vater und ihre Mutter liegen unter einem umgestürzten Baum eingeklemmt, und ihr Vater ist verletzt.« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern zog ihn einfach mit, als sie sich hinter dem Rudel her in Bewegung setzte.
Aaron blieb keine andere Wahl, als ihr zu folgen.
* * *
Sie hetzten dem Rudel eine gute Viertelstunde hinterher, bevor es in der Nähe einer abgelegenen Höhle langsamer wurde. Unmittelbar davor war ein riesiger Baum umgestürzt.
»Wir sind da«, sagte Sloane. »Ich kann die Aufregung der Welpen spüren.«
»Und ich rieche eine Entzündung«, fügte Aaron hinzu. »Ich gehe hin und sehe nach, was ich tun kann. Ob du ihnen wohl sagen könntest, sie sollen mich nicht umbringen?«
Sloane konzentrierte sich schweigend. Aaron beobachtete, wie die jungen Wölfe zur Seite gingen, sich hinhockten und Aaron anstarrten.
»Was hast du zu ihnen gesagt?«, fragte Aaron.
»Ich habe gesagt, dass mein Gefährte ihre Eltern befreien wird und sie sich beruhigen und Abstand halten sollen.«
»Und sie haben auf dich gehört?«
»Besser, als du es je tust.«
Aaron bedeutete den Elfen ihrer Leibgarde, ihnen in sicherem Abstand zu folgen, als Sloane und er sich dem umgestürzten Baum näherten. Sie hatte die Gedanken der Tiere richtig gelesen. Unter dem Baum lagen zwei Wölfe eingeklemmt, ein Männchen und ein Weibchen. Der Stamm quetschte die hintere Hälfte des Männchens. Die Wölfin hatte sich entweder selbst befreit oder war nur von den Ästen getroffen worden, aber auch sie lag regungslos da und atmete flach. Beide wiesen Anzeichen schwerer Unterernährung auf.
Sloane berührte die Vorderpfote des Männchens. »Er hat Fieber«, schluchzte sie. »Das haben sie beide.«
Aaron wandte sich an die Elfen. »Ich brauche etwas von den Heilmitteln meiner Mutter.« Die Elfen, die Aaron begleiteten, hatten immer reichlich Essen mit der Heilenergie seiner Mutter dabei, falls er sich anstrengen und seinen Vorrat auffüllen musste. Sie durchwühlten ihre Bündel und reichten ihm Dörrfleisch und Flaschen mit Milch.
»Sag der Wölfin, dass ich ihr etwas von dem Dörrfleisch gebe und sie es fressen muss«, verlangte Aaron von Sloane. »Das sollte gegen das Fieber helfen. Und sag ihr außerdem, dass ich den Baum bewegen werde, um ihren Gefährten zu befreien. Erinnere vorsichtshalber auch die jungen Wölfe noch mal daran, was wir tun.«
»Mach ich, aber eins nach dem anderen.«
Sloane setzte den mittlerweile vertrauten konzentrierten Blick auf. Die Wölfin knurrte, winselte und schnappte mit den Kiefern.
»Und?«, fragte Aaron.
»Ich fürchte, die Wölfin mag dich nicht. Du riechst nach Jagd, und anscheinend wurde sie in der Vergangenheit von Pfeilen getroffen. Aber von mir nimmt sie das Essen an.«
»Noch besser«, befand Aaron und reichte Sloane das Dörrfleisch.
Sloane näherte sich der Wölfin vorsichtig, die sich jedoch als keine Bedrohung für sie erwies und das Fleisch behutsam aus ihrer Hand annahm. Sie schluckte, dann kläffte sie.
Sloane lachte. »Sie bedankt sich, obwohl ihr Wild lieber ist. Aber sie bedankt sich bei mir und meinem Gefährten für das Essen.«
Aaron lächelte. »Sag ihr, dass jetzt der schwierige Teil kommt. Wir müssen den Baum anheben. Das könnte ihrem Gefährten wehtun.«
Nach weiteren kläffenden und winselnden Lauten nickte Sloane. »Sie versteht es. Ich glaube, sie hat sich damit abgefunden, dass ihr Gefährte stirbt, weil das noch besser ist, als dem Rudel zur Last zu fallen.«
Aaron bedeutete den Elfen, ihm zu helfen. Sie gingen alle in Stellung, um den Baumstamm gemeinsam anzuheben. Aaron rief: »Eins ... zwei ... drei ... heben!«
Sein gesamter Körper spannte sich unter der Anstrengung an, als er alle Kraft in den Versuch legte. Der Baum rührte sich kaum. Trotzdem genügte es. Kaum hatte sich das Gewicht vom Wolfsmännchen gehoben, packte die Wölfin ihren Gefährten am Nacken und zog ihn in Sicherheit.
»Runterlassen!«, rief Aaron.
Mit einem dumpfen Laut fiel der Baum zurück auf den Boden.
Aaron richtete sich auf. In seinem Rücken knackte es. »Oh, das werd ich morgen früh bereuen.«
Sloane ergriff eine der Flaschen mit heilender Milch und näherte sich langsam dem verletzten Wolf. Sie kniete sich vor ihm hin und träufelte so viel wie möglich auf die herausbaumelnde Zunge des verletzten Wolfs. Das Tier erwachte gerade lang genug aus dem Fiebertaumel, um vor Schmerzen zu jaulen.
»Er sagt, sein Bein und seine Rippen sind verletzt«, übersetzte Sloane. »Er will, dass wir ihn zum Sterben zurücklassen.«
»Sag ihm, dass die Milch ihn heilen wird«, drängte Aaron.
Nach einem weiteren Moment der Konzentration träufelte Sloane mehr Milch auf die Zunge des Wolfs. Diesmal leckte er und nahm wenigstens einen Teil davon zu sich.
Einer der Elfen trat mit einer Schale vor, die er aus seinem Bündel geholt hatte. »Vielleicht hilft das.« Aaron sah sich um und stellte fest, dass zwei der anderen Elfen verschwunden waren. Vielleicht nahmen sie wieder ihre Rolle als versteckte Wächter ein.
»Danke«, sagte Sloane. Sie füllte die Schale mit Milch und stellte sie unter die Schnauze des Wolfs. Obwohl er den Kopf nach wie vor nicht hob, konnte er so besser trinken. Sloane füllte die Schüssel langsam auf, während der Wolf sie leerte. Nachdem er zwei volle Flaschen getrunken hatte, trat sie zurück.
»Er sagt, er will versuchen, sich zu bewegen.«
Langsam, schwerfällig rollte sich der Wolf auf den Bauch. Sloane gab ihm etwas Dörrfleisch, das er gierig verschlang. Bald stand er auf den Beinen, obwohl er immer noch wacklig wirkte und entschieden zu dünn aussah. Die Wölfin kam herüber, leckte ihm das Gesicht und schmiegte sich an ihn.
Sloane drehte sich den halbwüchsigen Welpen zu, die gehorsam warteten. Sie warf ihnen den Rest der Dörrfleischstücke zu. Prompt stürzten sie sich darauf und fraßen begeistert.
An der Stelle kehrten die beiden verschwundenen Elfen zurück, und Aaron begriff, wohin sie gegangen waren und warum. In kürzester Zeit hatten sie ein Reh aufgespürt und erlegt, dessen Kadaver sie hinter sich her schleiften. Erleichtert stellte Aaron fest, dass es sich nicht um denselben Bock handelte, der Sloane zuvor zum Weinen gebracht hatte.
»Sag den Wölfen, das Reh ist ein Geschenk der Elfen und der Menschen«, forderte er Sloane auf. »Ihre Familie leidet offensichtlich große Not und braucht Nahrung. Wir wollen, dass sie essen und gesund werden.«
Sloane verständigte sich stumm mit dem Rudel. Dann drehte sie sich wieder Aaron zu. »Ich habe erklärt, dass mein Gefährte einen Teil unseres Rudels losgeschickt hat, um ihnen ein Futtergeschenk zu bringen, und dass unser Rudel ihrem Rudel Frieden und Gesundheit wünscht.«
Der männliche Wolf näherte sich Sloane und rieb den Kopf an ihrer Hüfte. Dann schaute er zu ihr auf und bellte.
»Er sagt, sein Name ist Grauwind«, übersetzte Sloane.
Der Wolf bellte erneut.
»Außerdem sagt er, wir sind jetzt Rudelfreunde, und er wird von unserer Freundlichkeit weitererzählen.«
Die Welpen stürmten daraufhin herbei und drängten sich kläffend um Sloane, die nacheinander jedem den Nacken kraulte. Mit Tränen in den Augen schaute sie zu Aaron auf. »Sind sie nicht bezaubernd?«
Aaron lächelte. »Darf ich sie streicheln?«
Sloane zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, wir sind Rudelfreunde. Warum nicht?«
»Ich weiß nicht, was das bedeutet«, erwiderte Aaron, der leichte Besorgnis verspürte.
»Ist schon in Ordnung. Komm her, du großes Baby.« Sloane bedeutete ihm, sich zu nähern.
Aaron bewegte sich vorsichtig hin und streckte langsam die Hand aus. Mehrere der Jungtiere tapsten zu ihm und beschnupperten ihn. Er streichelte ihre Köpfe, und sie knabberten verspielt an ihm.
»Wir sollten gehen«, schlug Sloane vor und stand auf. »Ich weiß, dass sie fressen wollen, und ich will nicht hier sein, um das mit anzusehen.«
»Ich verstehe.« Er nahm sie an der Hand, und als sie den Heimweg antraten, verteilten sich die Elfen um sie herum, nahmen wieder ihre Rollen ein. »Ich kann nicht glauben, dass wir uns gerade mit einem Rudel Wölfe angefreundet haben. Ehrlich, Sloane, du verblüffst mich immer wieder. Wenn du Tiere für unsere Sache gewinnen kannst, bist du am Ende vielleicht die Mächtigste von uns allen.«