Es wird geübt

»Ruhig, Ryan. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schwer es ist, so viel Milch mit Energie aufzuladen«, sagte Arabelle. »Ich muss mich konzentrieren.«

Ryan lehnte sich zurück und beobachtete seine Verlobte bei der Arbeit an der Aufgabe, die seine Mutter ihr gestellt hatte. Die beiden befanden sich allein im Klassenzimmer. Auf einem Tisch standen ein riesiges Behältnis mit Milch und mehrere Lederflaschen, die Arabelle füllen sollte, sobald die Milch mit Heilenergie durchwirkt wäre.

Als Arabelle angestrengt die Stirn runzelte, benutzte Ryan seine besondere Sicht, um zu beobachten, was sie tat. Ihm war schon früher aufgefallen, dass manche der Fäden ihres Geists vibrierten, wenn sie Magie wirkte, und sie sprachen immer in bestimmten Gruppen an wie Akkorde. Mittlerweile kannte er einen solchen Akkord, der Arabelle Heilenergie entzog, und einen anderen, der die Energie in die Milch übertrug.

Als sie fertig war, wirkte ihre Aura deutlich trüber, dafür strahlte die Milch einen leichten Schimmer ab.

»Du solltest jetzt essen«, riet er. »Du wirkst erschöpft.«

Sie begann, die Flaschen zu füllen. »Mache ich, sobald ich mit dem Aufladen fertig bin. Kommst du nicht zu spät zum Unterricht bei Eglerion?«

Ryan schaute aus dem Fenster und betrachtete den Stand der Sonne am Himmel. »Du hast recht! Ich muss los.« Unpünktlichkeit duldete Eglerion nicht.

Ryan steuerte auf die Tür zu, doch Arabelle bremste ihn. »He! Willst du gehen, ohne mir einen Kuss zu geben?«

Lächelnd kehrte Ryan um und drückte ihr einen Schmatz auf die Lippen. »Soll ich mich noch mehr verspäten?«

»He, ich hab dich nicht gezwungen, mich die letzte halbe Stunde zu beobachten.«

»Ich liebe dich«, sagte er und rannte zur Tür. »Eglerion wird mir das Fell über die Ohren ziehen!«

* * *

»Im Kampf«, sagte Eglerion, »stößt man auf alle möglichen Ablenkungen. Heute lernen wir eine Möglichkeit kennen, um zu verhindern, dass solche Ablenkungen eure Konzentration stören. Ryan, bitte stell dich in die Mitte.«

Die Kampfzauberer-Schüler saßen draußen in einem Kreis. Ryan fühlte sich nervös, als er aufstand und in die Mitte ging. Man wusste nie, was Eglerion im Schilde führte.

Der Elf holte eine Holzkugel aus seiner Tasche und warf sie. »Charlie, fang.«

Ryan fiel auf, dass Zenethar wieder bei Charlie saß. Irgendwie hatten sich die beiden angefreundet. Seit dem Vorfall mit den Spuckekügelchen war einige Zeit vergangen. Charlie hatte sich seitdem zusammengerissen und bemühte sich, mit den anderen auszukommen. Irgendwie hatte das Kleinkind in ihren Reihen den neuen Charlie als einer der ersten akzeptiert. Vielleicht, weil sie beide einen gewissen Hang zu Schabernack teilten.

»Charlie«, sagte Eglerion, »ich möchte, dass du damit gut auf Ryans Kopf zielst. Wenn du bereit bist, schleuderst du die Kugel, so fest du kannst.«

Sichtliche Anspannung breitete sich durch die Klasse aus, und Charlie wirkte unsicher, aber Ryan war unbesorgt.

»Ist schon in Ordnung«, versicherte er dem Jungen. »Nur zu. Wirf.«

Charlie schaute zwar immer noch beunruhigt drein, aber er zielte auf Ryans Stirn und warf die Kugel, wenn auch nicht annähernd mit voller Kraft. Sie traf auf Ryans Schild, den er mittlerweile geradezu beiläufig ständig aufrechterhielt, und prallte mit einem leichten Funken davon ab.

Aufregung brach unter den anderen aus. Sie hatten noch nie zuvor einen Schutzschild im Einsatz erlebt.

»Habt ihr das gesehen? Die Kugel hat ihn nicht mal berührt!«

»Ich glaube, sie hat ihn an der Stirn getroffen!«

»Habt ihr den Funken gesehen?«

Eglerion brachte die Klasse mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ihr habt gerade einen der Hauptunterschiede zwischen einem gewöhnlichen Buschzauberer, der fiese Tricks beherrscht, und einem wahren Zauberer bezeugt, der sich vor körperlichen Angriffen abschirmen kann. Derzeit sind die Einzigen, die einen solchen Schutzschirm beherrschen, Ryan und der Schulleiter.« Er lächelte. »Das wird sich demnächst ändern.«

Während Eglerion die Klasse einteilte und begann, einige Tests und Übungen mit den anderen durchzugehen, hatte Ryan frei und konnte zusehen. Schmunzelnd lehnte er sich ins Gras zurück. Die anderen hatten keine Ahnung, was ihnen bevorstand.

Aber er nutzte auch seine einzigartige Beobachtungsgabe, um besser zu verstehen, was vor sich ging. Wenn er sah, wie eine Kugel gegen den Kopf eines Schülers knallte, schienen sich jene Energiefäden, aus denen sich die magischen Fähigkeiten zusammensetzten, zu berühren und Funken zu schlagen. Sein Vater würde das einen »Kurzschluss« nennen.

Nach einer Weile stand Ryan auf und ging zu Eglerion hinüber. »Ist es in Ordnung, wenn ich etwas ausprobiere?«

Eglerion runzelte die Stirn. »Solange du meine Schüler nicht verletzt. Zumindest nicht schwer.«

Wat Irrbart war damit an der Reihe, an seinem Schild zu arbeiten, während die anderen ihn mit Dingen bewarfen. Ryan ging zu ihm.

»Keine Sorge, ich will nichts auf dich werfen. Ich will nur ... ein Experiment durchführen. Ist das in Ordnung?«

Wat schaute nervös drein, drückte sich aber nie vor einer Herausforderung, besonders nicht vor der Klasse. Er wappnete sich und nickte. Sein schlangenartiger Bart wackelte bei dieser Bewegung.

Ryan entsandte seine Macht und strich leicht über die Energielinien, die kreuz und quer über Wats Kopf verliefen. Die Fäden, die nur er sehen konnte, berührten einander und entfesselten einen unsichtbaren Funkenregen. Wats Gesichtsausdruck verriet, dass er nichts spürte.

»Also gut, Wat,« sagte Ryan. »Ich möchte, dass du jetzt deine Kräfte einsetzt. Tu irgendwas, egal was.«

»Ich dachte, du willst ein Experiment durchführen.«

»Das ist das Experiment.«

Wat zuckte mit den Schultern, dann konzentrierte er sich. Die Fäden an seinem Kopf funkelten intensiv, sonst jedoch geschah nichts.

Erschrocken klappte sein Mund auf. »Ich kann nicht! Was hast du gemacht?«

Ryans Experiment hatte gerade bestätigt, was er vermutet hatte. Er hatte gewusst, dass man einen Zauberer betäuben konnte, damit er die Fähigkeit verlor, auf seine Magie zuzugreifen, aber diese Herangehensweise dafür ... erschien ihm beinah zu einfach.

Tränen glitzerten in Wats Augen. »Bring das in Ordnung«, flüsterte er. »Das kannst du doch, oder?«

»Tut mir leid. Natürlich kann ich das. Alles gut. Halt still.«

Er betrachtete die Linien, die heftig auf dem Kopf des Zwerges vibrierten, dann schirmte er sie behutsam ab und beendete die Schwingungen. Als sie aufgehört hatten, sagte er: »So, Wat, jetzt versuch’s noch mal.«

Der Zwerg konzentrierte sich auf den Boden vor ihm ... und er fing Feuer. Die Klasse brach in Beifall aus, und Wat lächelte erleichtert. Rasch trat Ryan die Flammen aus.

»Bitte mach das nicht noch mal«, sagte Wat. »Jetzt, da ich kennengelernt habe, was es heißt, ein Zauberer zu sein, würde ich lieber meinen Bart als meine Magie verlieren.«

»Du hast recht. Entschuldige, Wat, ich hätte dich vorwarnen sollen. Aber ich verspreche dir, es ist alles wieder normal.«

»Nun«, ergriff Eglerion das Wort, »da wir jetzt gesehen haben, wie schnell eure Fähigkeiten außer Gefecht gesetzt werden können, sollten wir darüber reden, wie sich das verhindern lässt. Jetzt beginnt eure Ausbildung erst richtig ...«

* * *

Arabelle stand mit den anderen RAM-Schülern an und wartete darauf, an die Reihe zu kommen. Jared wollte, dass alle Buschzauberer lernten, wie man mit Bögen und Wurfmessern kämpfte. Erklärend hatte er gesagt: »Wer von euch nicht aus der Ferne töten kann, wird wahrscheinlich aus der Ferne getötet werden.«

Arabelle wusste, dass ihre Fähigkeiten als Heilerin am nützlichsten hinter der Front sein würden, aber sie wollte sich nicht darauf beschränken. Also hatte sie es sich zum Ziel gesetzt, ihren Wert auch auf andere Weise unter Beweis zu stellen.

Ohaobbok befand sich in der Schlange unmittelbar vor ihr. »Man wird mich auslachen«, grummelte er.

Arabelle musste den Kopf weit in den Nacken legen, um zu dem riesigen Oger aufzuschauen, obwohl er kniete. »Ich würde dich nie auslachen, Ohaobbok. Warum glaubst du, dass es irgendjemand tun würde?«

Er beugte sich ihr zu und flüsterte: »Ich habe vor letzter Woche nie einen Dolch in der Hand gehabt. Auf diesen Kurs habe ich mich vorbereitet, indem ich allein auf ein Ziel geworfen habe. Ich habe die ganze Woche gebraucht, damit die Dolche überhaupt stecken geblieben sind.«

»Das ist doch gut! Das bedeutet, du triffst das Ziel.«

Ohaobbok seufzte. »Mein Ziel war die Scheunenwand.«

Arabelle hüstelte, um ihre Belustigung zu verbergen. »Mach dir nichts draus. Ich hatte auch schon lange keinen Dolch mehr in der Hand. Ich dachte, wir würden mit Bögen anfangen. Deshalb habe ich mich genau wie du ein bisschen aufgewärmt – ich schieße seit einigen Tagen mit Sloane mit dem Bogen. Und das bringt mir jetzt überhaupt nichts.«

Castien rief: »Der Nächste!«

Ohaobbok war an der Reihe.

Ihr Ziel bestand aus einem Holzklotz, der von einem Seil hing. Das Seil war um einen hohen Ast geschlungen. Castiens Helfer zogen am anderen Ende, um den Klotz in Schwingung zu versetzen und auf und ab zu bewegen. Jeder Schüler sollte ein Dutzend Dolche auf das Ziel werfen, um das Grundkönnen zu bestimmen.

»Hebt das Ziel um sechs Fuß an«, befahl der Schwertmeister. »Alle sollen zuerst mit Gegnern auf Brusthöhe üben.«

Mit einem Nicken bedeutete er Ohaobbok zu beginnen. Der Oger ergriff den ersten Dolch und wog ihn in der Hand. Die Elfen fingen an, das Seil zu bearbeiten, brachten den Klotz zum Schwingen und Tanzen.

Arabelle hielt den Atem an und wünschte Ohaobbok in Gedanken Glück, als er warf.

Zwölf Würfe später hatten sich drei seiner Dolche fest in das Holz gebohrt. Nicht übel. Die anderen Dolche jedoch waren alle irgendwo gelandet. Einige tief im Boden, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Andere waren weit über den Hügel hinter dem Ziel hinweggeflogen.

»Ein guter Versuch«, befand Castien. »Kein Grund, sich zu schämen. Obwohl ich mich frage, ob wir dich stattdessen mit Schwertern werfen lassen sollten. Die Dolche sehen in deiner Hand wie Zahnstocher aus. Mit einem Schwert hättest du vielleicht ein besseres Gespür für das Gewicht.«

Ohaobbok drehte sich zu Arabelle um und lächelte verhalten. Sie nickte ihm zu. Niemand hatte über ihn gelacht.

»Arabelle, du bist die Nächste!«, rief Castien.

Einer der Elfen brachte ihr ein Dutzend frischer Dolche und wünschte ihr Glück. Arabelles Nervenanspannung wurde nur noch schlimmer, als sie bemerkte, dass Sloane und Aaron eingetroffen waren, um zuzusehen. Sloane lächelte und winkte.

»Bereit, Heilerin?«, fragte Castien.

Sie nickte, und er forderte alle auf, zurückzutreten.

Arabelle ging vor dem Ziel in Stellung. Sloanes Stimme ertönte in ihrem Kopf. »Viel Glück.«

Sie ergriff den ersten Dolch und wog ihn in der Hand. Wie sie Ohaobbok erzählt hatte, sie hatte schon Dolche benutzt – allerdings noch nie zum Werfen. Es überraschte sie, wie vertraut sich die Waffe in ihrer Hand anfühlte, beinah wie eine Verlängerung ihres Arms. Sie schätzte den Schwerpunkt ab, hielt den Dolch an der Spitze der Klinge und beobachtete die Bewegungen des Holzklotzes.

Dann warf sie den Dolch mit einem schnellen Ruck aus dem Handgelenk. Und wusste sofort, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie hatte dorthin gezielt, wo sich der Klotz gerade befunden hatte, nicht dorthin, wo er sein würde. Der Dolch landete ein Dutzend Schritte hinter dem Ziel.

Arabelle holte tief Luft und verdrängte alle Gedanken aus dem Kopf. Als sie den nächsten Dolch ergriff, beobachtete sie die Elfen, die am Seil zogen, um den Klotz zu bewegen. Dabei stellte sie fest, dass sie erkennen konnte, wie sich der Holzklotz verhalten würde, indem sie die Arme der Elfen beobachtete. So konnte sie erahnen, wo sich das Ziel in den nächsten Sekundenbruchteilen befinden würde.

Als sie sich konzentrierte, spürte sie, wie sich ihre innere Unruhe legte. Sie verengte die Augen, blendete alles außer dem Holzklotz und den Bewegungen der Elfen aus. Dann hielt sie den Atem an und warf.

Sie wusste, dass ihr der Wurf gelungen war, noch bevor die Klinge mit einem befriedigenden Fupp in die Mitte des Klotzes einschlug.

Die anderen Schüler jubelten, dann verstummten sie unter Castiens missbilligendem Blick. Er hielt nichts vom Feiern.

Als Arabelle nach dem nächsten Dolch griff, fühlte sie sich lockerer und wohler. Sie wiederholte den Vorgang genau wie gerade eben und warf.

Diesmal ertönte kein dumpfes Pochen, sondern das Klirren von Metall auf Metall. Der dritte Dolch prallte auf den zweiten. Ihr Wurf war so genau ausgefallen, dass sie zweimal dieselbe Stelle getroffen hatte.

»Halt!«, rief Castien den Elfen zu, die den Klotz in Bewegung hielten. Er ging zu Arabelles Dolch hinüber, zog ihn aus dem Holzklotz und kehrte zu seiner Beobachtungsposition zurück. »Der letzte Wurf zählt als Volltreffer. Bitte mach weiter, Heilerin.«

Die nächsten neun Würfe lang blendete Arabelle alles außer dem Ziel aus. Alle neun trafen genau in die Mitte.

Nach dem letzten Dolch brach Jubel aus den bis dahin angespannt schweigenden Schülern hervor. Und diesmal versuchte Castien gar nicht erst, sie zum Schweigen zu bringen. Tatsächlich sah er Arabelle mit einem für ihn ungewöhnlichen Lächeln an.

»Das ... war unglaublich!«, sagte Sloanes Stimme in ihrem Kopf.

Dann vibrierte ihr Ring mit einer Nachricht von Ryan. Den Gruppenring hatte sie für die Übung abgenommen, aber sie würde nie ihre Verbindung zu ihm ablegen.

Aaron hat uns jeden Wurf in Echtzeit geschildert. Du bist unglaublich, Liebste. Wir sehen uns heute Abend.

Bevor Castien den nächsten Schüler aufrief, kam er auf Arabelle zu. »Wenn ich mit den Übungen fertig bin, müssen wir beide uns unterhalten. Über ... Möglichkeiten, die dir gefallen könnten.«

Arabelle nickte und spürte die Wärme all des Lobs. Sie konnte das Lächeln nicht unterdrücken, das in ihr Gesicht trat.