Ellisandrea schäumte vor Wut. Ihre Bemühungen, mehr Gefolgsleute für Sammael zu rekrutieren, wurden von den sturen Zwergen vereitelt, die außerhalb ihres Einflussbereichs verweilten. Sie hielten Leute ab, die Ellisandrea sonst vielleicht zu sich locken könnte. Jedes Mal, wenn sie die Kontrolle über einen der schwächeren Geister am Rand ihres Walds erlangte, hinderten die Zwerge ihr Opfer daran, weiter in ihr Reich vorzudringen, und zerrten die arme Seele stattdessen aus ihrer Reichweite.
Und es gab kaum etwas, das sie aus ihrem magischen Gefängnis heraus dagegen unternehmen konnte.
Plötzlich flutete die Gegenwart Sammaels ihre Sinne. Seine raue Stimme dröhnte durch ihren Geist.
»Ellisandrea«, sagte er, »da es dir nicht gelingt, zusätzliche Helfer auf dieser Seite der Barriere zu scharen, müssen wir einen Weg finden, die Barriere zu Fall zu bringen.«
Die Barriere zu Fall bringen?
Lebhafte, über fünf Jahrhunderte alte Erinnerungen tauchten aus Ellisandreas Gedächtnis auf. Eine einfallende Horde von Dämonen, die kreischend durch ihr Land tobte und alles Leben zerstörte, das ihr in den Weg kam. Jene Dämonen glichen einer offenen Wunde, die tief in ihr immer noch schwärte.
»Irgendwo innerhalb der Barriere liegt der Zauberer, der den Schutzschild errichtet hat. Azazel konnte ihn nie finden, aber du wirst es. Dring in die Köpfe der Zwerge ein. Greif auf ihre Erinnerungen an den Protektor zu. Einer von ihnen muss diesen Zauberer gesehen haben. Durch sie können wir vielleicht in Erfahrung bringen, wo er sich befindet.«
Er wollte, dass sie Zenethar für ihn fand, ihren ehemaligen Schüler. Sie verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen, als sie daran zurückdachte, was sie ihm angetan hatte, wenn auch indirekt.
Aber die Empfindungen währten nur einen Herzschlag lang. Dann nutzte sie ihre Kräfte und entsandte sie zu den schwachen Geistern der Zwerge am Rand ihres Hoheitsgebiets.
* * *
Auf einer Wiese südlich von Aubgherle hatte Throll die erste Sitzung seines Beraterstabs einberufen. Niemand außer ihm kannte den Zweck der Zusammenkunft oder wusste, warum er sich dafür diesen abgelegenen Ort ausgesucht hatte. Aber Jared war überzeugt davon, dass Throll seine Gründe hatte. Throll war immer ein besonnener und gerechter Mann gewesen. Und obwohl es einige Zeit gedauert hatte, bis er sich in seine neue Rolle eingelebt hatte, konnte er mittlerweile mit dem Titel des Königs gut umgehen.
Als letzter traf Silas Rotbart ein. Er stieg vom Pferd ab und stampfte mehrmals mit den kurzen Beinen auf. »Hoheit, wenn Ihr auf solchen Reisen besteht, müsst Ihr für mich ein Pferd finden, das nicht so verdammt groß ist. Meine Beine sind völlig eingeschlafen.«
Throll lächelte. »Du brauchst nur zu fragen. Nächstes Mal besorge ich dir ein kräftiges Gebirgspony.«
Brummelnd nahm Silas seinen Platz im Kreis ein und rieb sich immer noch die Beine.
Throll stellte sich in die Mitte und sah nacheinander jeden an, während er sprach. »Ich danke allen für das Entgegenkommen, sich hier einzufinden. Vielleicht sollten wir mit einer Vorstellung anfangen. Grendel, würdest du beginnen?«
Grendel nickte. »Mein Name ist Grendel Hawthorne. Ich bin ein Bürgerlicher, Historiker. Es war mir eine große Ehre, die Rolle als Berater des Königs anzunehmen.«
Throll schüttelte den Kopf. »›Berater‹ wird dir nicht gerecht, Grendel. Wie wäre es mit ... Seneschall des Hauses Lancaster?«
Grendel lief rot an. »Wie Ihr wünscht, Hoheit.«
Als Nächster erhob sich Silas Rotbart. »Ich bin Silas Rotbart, Oberhaupt des Rotbart-Clans und Vertreter des Bunds der Zwergenclans aus den Eisenbergen. Der König wollte einen Berater von den Zwergen, und das bin ich.«
Damit setzte er sich wieder, und Eglerion ergriff das Wort. »Mein Name ist Eglerion Mithtanion. Ich bin Meister des Wissens in Eluanethra. Ich bin Berater und Historiker in allen undurchsichtigen Angelegenheiten für König Throll Thariginian Lancaster.«
Die Nächste im Kreis war Labri. Obwohl es ihr unangenehm zu sein schien, dass sich alle Augen auf sie hefteten, sprach sie selbstbewusst. »Mein Name ist Labriuteleanan Sirfalas, aber die meisten nennen mich Labri. Ich bin Schülerin von Eglerion aus Eluanethra.«
Throll räusperte sich. »Ihr seid ein wenig mehr als das, Hoheit.«
Labri lief rot an. »Nun ja, wenn die Zeit reif ist, werde ich die nächste Königin meines Volks. Und wenn es so weit ist, werde ich weiterhin mit Rat und Tat zur Verfügung stehen, das gelobe ich.«
Jared kam an die Reihe. »Ich bin Jared Riverton. Ich habe mich schon vor langer Zeit verpflichtet, Throll ... äh, König Throll auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Ich bin Schulleiter der Riverton Akademie für Magie. Außerdem Kampfzauberer und Schmied.«
»Ein Zauberer nach meinem Geschmack«, brummte Silas. »Ein Ambossklopfer wie ich.«
Throll schlug sich mit der rechten Hand auf die breite Brust. »Ich danke euch allen, dass ihr mich bei dieser Ratssitzung mit eurer Anwesenheit beehrt. Lasst mich nun unverblümt erklären, warum wir alle hier sind. Wie ihr aus den Prophezeiungen wisst, steht uns zu gegebener Zeit eine große Schlacht bevor – eine Schlacht, auf die wir uns die kommenden Jahre vorbereiten müssen. Wir sind bereits dabei, eine Armee von Soldaten und eine Armee von Zauberern aufzustellen und auszubilden. Es bleibt noch viel zu tun, aber ich bin zufrieden mit den Fortschritten, die wir an beiden Fronten erzielen.
Allerdings ist mir im Gespräch mit Silas und Eglerion klar geworden, dass wir an einer Front noch gar nicht mit Vorbereitungen begonnen haben – nämlich mit einer tatsächlichen Front. Mit einer Befestigungsanlage, von der aus unsere Truppen diesen Krieg führen können.
Bei der ersten Schlacht gegen die Dämonen hat sich Burg Thariginian der Horde entgegengestemmt. Ohne sie stünden wir heute vielleicht nicht hier, um darüber zu sprechen. Aber diese Burg liegt inzwischen auf der anderen Seite der Barriere, und nichts innerhalb ihrer Grenzen reicht auch nur annähernd an diese Festung heran. Das bedeutet ... wir müssen eine neue Burg bauen.« Throll zeigte auf seine Füße. »Und ich schlage vor, dass wir sie auf dem Gelände errichten, auf dem ihr gerade sitzt.«
Silas sprang auf. »Die Zwerge melden sich freiwillig, um dabei zu helfen! Wir haben Burg Thariginian errichtet, die vor über 500 Jahren der Dämonenhorde standgehalten hat. Es sollte also wieder unser Bauwerk sein.«
Throll nickte. »Danke, Silas. Wir werden gern auf dein freundliches Angebot zurückkommen.«
Grendel dachte bereits über die Logistik nach. »Dafür muss allerhand organisiert werden. Wir brauchen Arbeiter, Zeichner, Planer ... und wir müssen sicherstellen, dass die Schatzkammer ausreichend gefüllt ist, um sie alle zu bezahlen. Herr Rotbart, bitte lass mich auf jede erdenkliche Weise helfen.«
»Sorg einfach dafür, dass du einen ordentlichen Vorrat an Bier einberechnest, dann hast du schon mehr getan, als du ahnen kannst.«
Throll wandte sich an Eglerion. »Mein Freund, kannst du bitte allen berichten, was du mir über Burg Thariginian erzählt hast?«
Eglerion ließ den Blick über den versammelten Rat wandern. »Bei der Einweihung von Burg Thariginian vor fast 1000 Jahren wurde die Familienlinie der Thariginians magisch damit verbunden. Dadurch wurde das Bollwerk zu mehr, als die ursprünglichen Erbauer beabsichtigt hatten.
Ich muss gestehen, dass ich die dabei mitwirkenden Kräfte kaum verstehe. Jedenfalls wurde bei der Einweihung eine gewaltige Menge Energie aufgewandt. Genug, um den Abstand zwischen diesem Land und dem Geisterreich zu überwinden – und der Geist der Thariginianer wurde nach Trimoria eingeladen, um sich in der Burg niederzulassen. In jenem Augenblick wurde die Burg zu etwas Lebendigem, der Familienlinie der Thariginians gewidmet und auf ewig mit ihrem Schicksal verbunden.
Und als lebendiges Wesen besitzt sie einen eigenen Verstand und sogar eigene Magie. Sie kann sich selbst heilen. Ein zerbrochener Pflasterstein kann bereits am nächsten Tag wieder unversehrt sein. Dasselbe gilt für einen Sprung in einem Türsturz.
Sie ist auch mit dem Land verbunden, das sie umgibt. Es bezieht Wasser aus dem Boden und lässt ein essbares Moos wachsen, das ihre Bewohner ernähren kann. Manchmal kann sie den Bewohnern mitteilen, was an entfernten Orten geschieht. Und zu guter Letzt besitzt die Burg eine eigene Stimme. Sie kann sprechen – zumindest mit jenen, die sie hören können.«
»Und wer kann sie hören?«, fragte Jared.
»Nur Angehörige der Familienlinie und einige Zauberer, die sich auf die richtigen Schwingungen eingestellt haben.«
»In Anbetracht all der Vorteile vermute, dass mit der neuen Burg wohl Ähnliches geplant ist, richtig?«, wandte sich Jared an Throll. »Soll sie der königlichen Familienlinie gewidmet werden?«
Throll lächelte. »Nicht ganz. Eigentlich habe ich vor, sie deiner Familienlinie zu widmen.«
Jared war sprachlos und musste wohl entsprechend dreingeschaut haben, denn der König lachte ebenso wie Silas und Labri.
»Eglerion«, sagte Throll, »bitte erkläre es.«
Der greise Elf wandte sich an Jared. »Es gibt bereits eine der tharigianischen Linie gewidmete Burg. Daher kann es keine zweite geben. Und das ist auch nicht nötig. Die einzige Voraussetzung dafür, dass sich ein Geist mit einer Familienlinie verbinden kann, ist eine ausgeprägte magische Begabung der entsprechenden Familie. Deine Familie entspricht dieser Vorgabe unbestreitbar mehr als jede andere seit Jahrhunderten in Trimoria. Du, Ryan, Aubrey ... sogar Aaron besitzt eine Kraft, die man als Magie anerkennen muss, obwohl ich sie nicht verstehe. Die Linie der Rivertons ist zweifelsohne die logische Wahl.«
»Die Entscheidung ist bereits gefallen, mein Freund«, sagte Throll. »Die Strategie erfordert diese Burg von uns, und unser Schicksal verlangt Opfer. Ich ersuche dich sowohl als Freund als auch als König, diese Schenkung anzunehmen. Ohne die Vorteile einer selbstheilenden Burg mit einem eigenen Bewusstsein können wir keinen Sieg erringen.«
Jared konnte Triomoria nicht abschlagen, was das Land brauchte. »Es ... es wäre mir eine Ehre«, sagte er schließlich. Er sah Eglerion an. »Was muss ich tun?«
»Zuerst musst du die Versammlung der Zauberer wiedereinberufen. Nimm nur die stärksten deiner Zauberer und Heiler darin auf. Zusätzlich zu dir und Ryan empfehle ich persönlich den Zwergenzauberer Wat.«
»Ihr habt einen Zwergenzauberer?«, fragte Silas. »Wieso wusste ich davon nichts? Zu welchem Clan gehört er?«
»Wat ist als Waisenkind in Cammoria aufgewachsen«, sagte Jared. »Er hat einen eigenen Clan-Namen angenommen: Irrbart. Wenn du ihn siehst, verstehst du, warum.«
»Ich gebe zu, dass auch ich davor noch nie von einem Zwergenzauberer gehört hatte«, kam von Eglerion. »Aber er ist ziemlich mächtig.«
»Ich möchte diesen Irrbart kennenlernen«, sagte Silas.
»Das kann ich veranlassen«, bot Jared an.
Eglerion fuhr mit seinen Anweisungen fort. »Die Versammlung muss auch Heiler beinhalten. Aubrey wäre am besten geeignet, aber auch Arabelle ist sehr begabt. Und das ist erst der Anfang. Letztendlich werden wir mehr Energie brauchen, um den Schleier zu durchdringen, als wir selbst mit dieser mächtigen Gruppe erzeugen können, aber diese Leute sind ein guter Anfang.«
»Wenn ich meine Macht erhalte«, meldete sich Labri zu Wort, »würde ich gern bei der Einweihung mithelfen.«
Eglerion lächelte. »Labriuteleanan, wenn du deine Macht erhältst, wirst du unbestreitbar ein Segen für die Versammlung sein.«
»Ich schicke umgehend eine Nachricht an die Clans los«, kündigte Silas an. »Da ich jetzt weiß, dass es die Burg von Zauberer Riverton wird, dem Meisterschmied, sorge ich dafür, dass wir überall Damantit verwenden. Diese Burg wird uneinnehmbar sein, wenn wir damit fertig sind!«
»Und ich reise zurück nach Eluanethra, um mich mit Xinthian und den Ältesten zu beraten«, sagte Eglerion. »Ich muss noch viel nachforschen, bevor ich weitere Anweisungen für die Einweihung geben kann.«
Grendel hob die Hand. »Ich mache mich unverzüglich an die Planung. Mit dem eigentlichen Bau können wir erst beginnen, wenn die Zwerge bereit sind, aber ich treibe einheimische Arbeiter auf, um schon mit der Rodung des Geländes zu beginnen.« Der kleine Mann schien begeistert davon zu sein, ein so großes Unterfangen zu beaufsichtigen.
Throll nickte den Anwesenden zu. »Ich danke euch allen. Wir wissen alle, wie wichtig diese Aufgabe ist, und wir haben alle eine Menge Arbeit vor uns, um sie zu erfüllen. Fangen wir an.«