Rache

Ryan eilte hinter Ohaobbok her, der Schwert und Schild in Anschlag brachte.

»Was ist los, Ohaobbok?«, fragte Arabelle.

Oda zückte seinen Streitkolben und seinen Schild. »Das ist ein Megafüßler. Auf den Pässen trifft man sie sehr selten an, in Tälern nie.«

Ryan blickte die hoch über ihnen aufragende Felswand hinauf. Und dort entdeckte er sie – eine riesige Kreatur mit länglichem Körper und mehr Beinen, als er zählen konnte. Die kurzen, schmalen Beine bewegten sich blitzschnell, als das Monster im Zickzack die Felswand herabkam und den Weg unmittelbar vor ihnen ansteuerte. Die bedrohlichen Mundwerkzeuge ragten weit nach vorn. Die Augen waren tiefschwarz, die gepanzerte Haut blassgelb.

In Ryans Händen flammte Energie auf, als er sich dafür wappnete, seinen Freunden im Kampf gegen einen schrecklichen Feind zu helfen.

»Bleibt hinter mir«, sagte Ohaobbok. »Megafüßler sind sehr gefährlich. Sie können Säure bis zu zwanzig Fuß weit spucken.«

»Du kämpfst gegen ihn, wenn er sich aufbäumt«, sagte Oda zu dem Oger. »Ich knöpfe mir seine Beine vor, wenn sie am Boden sind. Alle anderen bleiben zurück. Wir kommen aus den Bergen. Seht zu und lernt.«

Sloane spannte ihren Bogen. »Die Kreatur ist nah genug, dass ich Bilder aus ihrem Geist sehen kann. Sie hat Ryan und Aaron im Kopf. Dominic muss sie geschickt haben!«

Aaron legte einen Pfeil an. »Na toll. Noch etwas, wofür ich dem lispelnden Idioten etwas schulde.«

Das Geräusch von Hunderten gepanzerten Beinen, die den Felshang herabkrabbelten, wurde lauter. Die Wölfin wich winselnd in den hinteren Bereich der Gruppe zurück.

Auf dem Bergpass vor ihnen näherte sich die polternde Masse des Megafüßlers, dessen Beine wie Hunderte über Schiefertafeln kratzende Fingernägel klangen. Das Ungetüm schien kein Ende zu nehmen.

»Wie lang ist dieses Vieh eigentlich?«, entfuhr es Aaron.

Oda hielt seinen Schild hoch. »Sie können über fünfzig Fuß lang werden, sich bis zu fünfzehn Fuß hoch aufrichten und so viel wiegen wie ein Haus. Am besten verteidigt man sich gegen sie, indem man außer Reichweite der Mundwerkzeuge bleibt und sie wütend macht.«

»Wütend machen? Bist du verrückt?«

Oda schlug sich zur Flanke des Monsters durch, während Ohaobbok den Schild in Anschlag brachte und sich dem Ungetüm von vorn näherte.

»Oda hat recht«, rief der Oger. »Am verwundbarsten ist die Kreatur, wenn sie sich aufbäumt und die Unterseite entblößt. Das macht sie nur, wenn sie sich bedroht fühlt.«

Oda schlug mit dem Streitkolben gegen zwei der Beine des Monsters und zertrümmerte die harte Panzerung. Das Monster kreischte vor Schmerz oder Wut und peitschte den Körper in Richtung des Zwergs. Oda hechtete mit einem Überschlag über die Bestie hinweg und huschte außer Reichweite.

Ohaobbok nutzte die Ablenkung. Er schwang sein riesiges Schwert gegen den gepanzerten Körper. Als es davon abprallte, sprang er flink zurück, um den vor Gift triefenden Mundwerkzeugen der Kreatur auszuweichen.

Wat und Ryan entfesselten gleichzeitig zwei Ströme feuriger Energie gegen das Ungetüm. Sie versengten zwar lediglich die Panzerung des gigantischen Insekts, verärgerten es aber eindeutig. Es stimmte ein markerschütterndes Kreischen an, bevor es sich meterhoch aufrichtete.

Mit Gebrüll griff Oda das hintere Ende des Rieseninsekts an, indem er mit dem Streitkolben einige weitere Beine zertrümmerte, während Aaron zwei Pfeile in den Unterbauch des Viehs abfeuerte. Den wirkungsvollsten Treffer jedoch erzielte Ohaobbok. Er schlitzte mit dem Schwert über den Bauch des Megafüßlers. Ganze Eimerladungen einer dampfenden, grünlichen Flüssigkeit quollen hervor.

Die Bestie zuckte heftig, warf den Kopf vor Schmerz hin und her und spie einen Schwall dicker, klebriger Flüssigkeit direkt in Ryans Richtung. Der junge Zauberer verstärkte die Energie seines Schutzschildes, und die dampfende Säure schwappte harmlos über ihn hinweg.

»Ryan!«, kreischte Arabelle.

Ryans Schild verbrannte den säurehaltigen Schleim zu wallenden Wolken aus beißendem grauem Rauch. »Es geht mir gut!«, rief er.

Als Ryan wieder klar sehen konnte, hatte sich das Monster für einen weiteren Angriff aufgebäumt, diesmal jedoch nicht so hoch. Ohaobbok stieß das Schwert tief in die weiche Unterseite des Kopfs. Sloane und Aaron schossen zwei weitere Pfeile tief ins Maul des Ungetüms. Ryan sammelte gerade Energie für einen weiteren Angriff, als zwei Dolche in die schwarzen Augen der Bestie einschlugen. Der Megafüßler zuckte unkontrolliert.

Oda musste die Beine in die Hand nehmen. Die Kreatur ruckte krampfhaft bald hierhin, bald dorthin. Tröpfchen ihrer Säure spritzten in alle Richtungen. Dann brach das Monster zusammen, erschlaffte und rührte sich nicht mehr. Tot.

Oda kehrte zu den anderen zurück. »Na? War das nicht unterhaltsam?«

Ryan schüttelte den Kopf. »Für deine Vorstellung von Spaß vielleicht. Das Ding war grauenhaft.«

»Genau dadurch ist es doch unterhaltsam.«

Ryan sah, dass Arabelle auf den Kopf der Bestie zuging. »Sei vorsichtig, Liebste. Gut möglich, dass überall Säure austritt.«

Sie hielt nicht inne. »Wenn du glaubst, ich lasse meine Dolche im Kopf dieses Monsters zurück, irrst du dich gewaltig.«

»Tut mir leid,« gab Ryan lachend zurück. »Warte, ich helfe dir.«

* * *

Die Wölfin heulte, als sie einen Bach erreichte. Die Antwort stammte von flussabwärts. Sie trabte in die Richtung des Geräuschs, und die Gruppe folgte ihr. Sloane versuchte, den Gedanken der Wölfin zu lauschen. Aber nach dem Zwischenfall mit dem Megafüßler war sie zu sehr damit beschäftigt, auf Bedrohungen in der Umgebung zu achten.

Während sie dem Verlauf des Bachs folgten, wurde das Gelände zu beiden Seiten rasch steiler, bis sie sich in einer praktisch V-förmigen Schlucht befanden. Was Sloane Unbehagen verursachte, da sie in diesem Gelände nur allzu leicht von oben überfallen werden konnten. Sie wollte ihre Bedenken gerade Aaron mitteilen, als sie auf den Rest des Wolfsrudels stießen, das sie geduldig erwartete. An der Stelle verlief der Bach in eine Spalte im Steilhang des Bergs.

Grauwind tapste zu ihr.

»Menschenfrau Sloane«, sagte er, »der saure Geruch der Beute ist überall auf dieser Lichtung. Aber am stärksten ist der Gestank im Inneren des Bergs.«

Sloane wiederholte die Worte für die anderen. »Führt diese Spalte in eine Höhle?«, fragte sie.

Der Rudelführer winselte und kläffte. »Tut mir leid. Im Inneren von Bergen mag ich es nicht. Ich möchte zwar helfen, aber ich kann nicht hineingehen.«

Sloane streichelte Grauwinds Kopf, um ihn zu beruhigen. »Ist schon gut. Ich sehe selbst nach.«

»Was ist?«, fragte Aaron.

Sloane bat mit erhobener Hand um Ruhe, während sie ihren Geist in die Spalte entsandte. Als sie angestrengt versuchte, hinter der Felswand etwas wahrzunehmen, brach ein gewaltiges Niesen aus Oda hervor. Im selben Moment fiel ein Stock von der Wand der Schlucht herab und landete neben Oda. Der Zwerg kniete sich hin, um den Stock im Augenschein zu nehmen. Plötzlich schnappte Sloane in der Spalte Dominics Gedanken auf. Sie übermittelte die Neuigkeit wortlos in die Köpfe ihrer Gefährten.

Ryan winkte alle näher. »Da der Spalt so schmal ist, können wir nur im Gänsemarsch hinein. Und Ohaobbok passt unmöglich durch.«

Er schilderte seinen Plan. Ryan sollte als Erster gehen, gefolgt von Oda, Aaron und Wat. Wenn alles wie geplant verliefe, würde Ryan zuerst Dominics Magie entschärfen, bevor Oda und Aaron ihn aus der Höhle schleiften. Wenn nicht, würden Ryan und Wat zusammen versuchen, Dominic auszulöschen, während Oda und Aaron tun würden, was sie am besten konnten: auf ihn einprügeln. Und falls es Dominic durch irgendein Wunder gelingen sollte, an ihnen vorbeizukommen, bliebe es Arabelle und Sloane überlassen, ihn aus der Höhle zu locken, damit sie ihre Kräfte mit den Wölfen und Ohaobbok bündeln konnten.

»Wenn wir davon ausgehen, dass wir Dominic außer Gefecht setzen und herausholen«, fügte Ryan abschließend hinzu, »kann Sloane versuchen, seine Erinnerungen zu durchforsten, um herauszufinden, was ihn antreibt. Also, sind alle bereit?«

* * *

Während sich Ryan durch die Spalte zwängte, verstärkte er seinen Schild, bis die einzelnen Fäden vor geballter Energie summten. Er konzentrierte sich so intensiv, dass er die raue Oberfläche der Wand wahrnahm, als sein Schild sie streifte.

Nach etwa fünf Metern verbreiterte sich die Spalte. Nach einigen weiteren Metern mündete sie in eine Kammer, in der undurchdringliche Finsternis herrschte.

Ryan zog eine unangezündete Fackel von der Hüfte. Doch bevor er sie entfachen konnte, öffneten sich flammende Augen in der Dunkelheit, und ein Energiestrahl erschütterte Ryans Schild. Die aufspritzenden Funken ließen ihn rückwärts gegen Oda taumeln.

Während Ryan seine Kräfte heraufbeschwor, um zurückzuschlagen, konzentrierte er sich darauf, die Fäden der Magie zu finden, die den Kopf seines Angreifers umgaben. Die schiere Menge der Energie, die er entdeckte, verblüffte ihn. Wenn es auf ein reines Kräftemessen hinausliefe, würde Ryan vielleicht unterliegen.

Also entsandte er stattdessen einen unsichtbaren Energiestrahl, der nicht auf Dominics Körper zielte, sondern auf den Kern seiner Macht – auf das Geflecht der Fäden, die grell in Ryans Sicht leuchteten. Sein Angriff pflügte mitten hinein und verhedderte die Fäden ineinander. Funken sprühten, die nur Ryan sehen konnte. Obwohl Dominic es noch nicht wusste, war seine Magie außer Gefecht gesetzt. Und mittlerweile erkannte Ryan, dass es sich tatsächlich um Dominic handelte. Für Ryans Augen glich sein funkensprühender Kopf einem Leuchtfeuer, das die gesamte Höhle erhellte.

Dominic lächelte. Offensichtlich dachte er, Ryan hätte ihn verfehlt. Seine Augen loderten nicht mehr, dennoch ließen sie immer noch erkennen, in was für eine gefährliche Kreatur er sich verwandelt hatte. Er setzte sich in Ryans Richtung in Bewegung und riss dabei die Arme nach vorn. Nichts geschah. Dominic riss die Augen weit auf und erstarrte verdattert. Er versuchte es erneut. Wieder nichts.

Erst da gestattete sich Ryan ein Lächeln. Er gab Oda und Aaron ein Zeichen. Die beiden schoben sich an Ryan vorbei, packten Dominic und schleiften ihn aus der Höhle.

* * *

Dominic stöhnte, als Oda grob seine Arme fesselte. Ryan sah Sloane an, die mit einem Nicken ihre Bereitschaft anzeigte. Dann trat er vor Dominic hin, den Oda, Aaron und Wat bewachten. Das gesamte Wolfsrudel bildete einen Kreis um sie und stimmte ein stetes, leises Knurren an.

Dominic grinste spöttisch zu Ryan hoch. »Was jetzt?«

Ryan unterdrückte den Drang, einem der wenigen Menschen, die er je zu hassen gelernt hatte, das Grinsen mit Gewalt aus der Visage zu wischen. »Warum versuchst du, meinen Bruder und mich umzubringen?«

Dominic lachte. »Nicht nur dich und deinen Bruder. Ich wollte deine gesamte Familie vernichten lassen. Keiner von euch gehört nach Trimoria. Ich kann eure fremdartigen Fressen nicht ausstehen.«

»Er glaubt tatsächlich, was er sagt«, übermittelte Sloane in Gedanken.

»Was hat dir meine Familie je getan?«

Das Funkeln in Dominics Augen flammte kurz auf, aber er schwieg.

»Frag weiter in die Richtung«, kam von Sloane. »Ich habe etwas aufblitzen gesehen.«

Ryan überlegte kurz. »Wann hast du gemerkt, dass du ein Zauberer bist?«

Dominic schnaubte höhnisch. »Neidisch?«

»Ich hab gerade flüchtig eine Elfenfrau gesehen«, übermittelte Sloane zu Ryan. »Dominic hat seine Gedanken fest im Griff. Versuch, ihn wütend zu machen. Dadurch könnte er etwas Kontrolle verlieren.«

»Hast du schon die Elfin kennengelernt?«, fragte Ryan herablassend. »Wohl eher nicht. Sie und ich sind eng befreundet, aber ... ich bezweifle stark, dass sie dir diese Ehre je erweisen würde.«

Dominic starrte ihn finster an. Seine Augen versprühten reinen Hass. »Was könnte ein Niemand wie du über sie wissen?«, spie er hervor. Spucke spritzte von seinem Mund, als er gegen seine Fesseln ankämpfte. »Ellisandrea hat sich bereits mir versprochen. Du bekommst sie niemals!«

Oda und Aaron brachten Dominic wieder unter Kontrolle.

»Das hat geklappt«, meldete Sloane. »Ellisandrea hat ihn dazu angestiftet. Er hat seine Macht an einem Sammael gewidmeten Altar erhalten. Ich habe jetzt ein geistiges Bild davon, wo er ist. Ich glaube, ich könnte uns hinführen.«

Vom Höhenzug über ihnen ertönte plötzlich ein gewaltiges Grollen. Ryan schaute auf und sah, wie eine Lawine aus Steinen, Erde, Bäumen und Schlamm auf sie herabstürzte. Staubwolken fegten wallend über das Gelände und brachten Ryan und seine Gefährten heftig zum Husten. Dunkelheit umhüllte sie.

»Sind alle in Ordnung?«, brüllte Ryan, als es schließlich endete. »Arabelle? Sloane? Ohaobbok? Wat?«

Als sich der Staub lichtete, sah Ryan, dass Ohaobbok knietief in Geröll stand und in einem Steinhaufen grub.

Ryan drehte sich Aaron und Oda zu. »Bewacht den Gefangenen.«

Dann rannte er zu Ohaobbok und erblickte Sloanes und Wats verdreckte Gestalten, die sich Erde und Zweige von den Körpern schüttelten. Sie wirkten mitgenommen, aber ansonsten unversehrt.

Wo ist Arabelle?, dachte Ryan. Seine Gedanken überschlugen sich. »Hast du Arabelle gesehen?«, fragte er Ohaobbok, der wie besessen Erdklumpen beiseite warf.

Der Oger zerrte einen zerbrochenen Baumstamm aus dem Boden. Darunter kam Arabelles dunkles Haar zum Vorschein. Ryan warf sich zu Boden, um dabei zu helfen, sie auszugraben.

»Holt die Heiltränke!«, brüllte er. »Sie sind auf den Lasttieren. Wir brauchen alles davon!«

Der Oger hob einen weiteren Baumstamm weg und legte Arabelles blutenden Körper frei. Ryan tastete nach einem Puls. Ein eiskalter Schauder lief ihm über den Rücken, als er nur einen kaum noch wahrnehmbaren, unregelmäßigen Herzschlag spürte.

»Wo bleiben die Heiltränke?«, schrie er. »Sie liegt im Sterben!«

Aaron befand sich mittlerweile in seiner Nähe und half Wat, sich durch einen weiteren Schutthaufen zu wühlen. »Wir versuchen gerade, an sie ranzukommen. Arabelle hat die Lasttiere gehütet, als der Erdrutsch losgebrochen ist. Sie sind zusammen mit ihr verschüttet worden.«

Ryan hielt Arabelle fest, während ihr Lebenssaft langsam in den Boden sickerte. Behutsam wischte er ihr Erde aus dem herzförmigen Gesicht. Tränen tropften von seinem Gesicht und vermischten sich mit dem Blut, das aus ihrer Nase und ihren Ohren floss. Als ihre Atmung mühsamer wurde, hörte er ein Gurgeln und konnte nur annehmen, dass es von Blut in ihrer Lunge ausging.

»Ryan ...« Aarons Stimme klang brüchig. »Wir haben die Tiere gefunden, aber ... die Heiltränke sind alle zerquetscht. Wir haben nichts. Es tut mir so leid.«

Ryans gesamte Welt brach über ihm zusammen. Innig hielt er Arabelle fest, wartete, hoffte. Er vergrub das Gesicht in Arabelles dreckverkrustetem Haar. Tief atmete er ihren Duft ein. Er wollte sie so in Erinnerung behalten, wie sie vor dem Unfall gewesen war.

Plötzlich drang gehässiges Gelächter über die Lichtung. Dominic, der vor Schadenfreude prustete.

»He, Trottel!«, rief er herüber. »Weißt du eigentlich, dass die Lawine für dich bestimmt war? Ich hatte sie so eingerichtet, dass ich nur an einem Stock ziehen musste, um sie auszulösen.« Sein Gelächter klang wahnsinnig. »Ich habe den Stock auch gezogen, nur ist nichts passiert. Jedenfalls nicht sofort. Ist also nicht wie geplant gelaufen. Aber das Gute daran ist, dass ich so stattdessen deine Freundin erwischt habe.«

Ryan konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen und diesen Abschaum und sein Gewäsch zu ignorieren. Verzweifelt durchforstete er sein Gedächtnis und versuchte, sich an all den Unterricht über Anatomie bei Eglerion zu erinnern. Der weise Elf hatte ihm viel über den Körper beigebracht, allerdings nichts, was Ryan in dieser Lage weiterhelfen konnte. Die schlimmsten Verletzungen hatte Arabelle eindeutig innerlich erlitten. Sie blutete aus der Nase und den Ohren. Ein Teil ihres Brustkorbs sah eingedrückt aus, und ihre Atmung ging immer schwerer, während das Blut in ihrer Lunge blubberte. Ryan wünschte, er besäße die Heilkräfte seiner Mutter.

Arabelles Körper verkrampfte sich. Ein weiterer Schwall Blut drang ihr aus Nase und Mund. Ryan neigte ihren Kopf zur Seite, damit sie nicht am eigenen Blut erstickte.

Plötzlich fiel ihm eine Lektion ein, die er beinah vergessen hatte.

»Oda!«, brüllte er. »Bring diese Dämonenausgeburt her!«

Oda schleifte Dominic über die Lichtung und ließ ihn eine Armeslänge von Ryan entfernt zu Boden plumpsen.

Dominic grinste höhnisch. »Zufällig ist heute mein Geburtstag. Herzlichen Dank für das wunderbare Geschenk. Ich liebe es, einen langsamen, qualvollen Tod zu beobachten.«

Ryan jedoch betrachtete Dominic nicht länger voll Abscheu, sondern als Lösung, um Arabelle zu retten.

Ryan erinnerte sich an den Tag, an dem er Arabelle dabei beobachtet hatte, wie sie Energie von sich auf die Gesundheitstränke übertrug, und daran, wie ihre Energiefäden dabei vibrierten. Der Schlüssel lag darin, die Kräfte abgestimmt aufeinander auf eine spezielle Art und Weise zu nutzen. Wenn er seine eigenen mit jenen von Dominic zusammenlegte, könnte er vielleicht die Fähigkeit erzielen, zu heilen.

Er konzentrierte sich auf den Kern der Lebensenergie, die Dominic in sich trug. Er ließ die Fäden der Macht des dunklen Zauberers unterschiedlich pulsieren, experimentierte mit ihnen. Nur die richtige Kombination würde zu Heilung führen. Als er Anordnungen ausprobierte, die nicht dem richtigen Muster entsprachen, schillerte um ihn herum ein Schauer nutzloser Funken. Ryans restliche Gefährten versammelten sich um ihn und sahen schweigend zu, während Dominic schadenfroh vor sich hin kicherte.

Verzweifelt versuchte Ryan, das richtige Muster nachzubilden, das er bei Arabelle gesehen hatte. Bei jedem Versuch ordnete er eine weitere Reihe von falsch abgestimmten oder ausgerichteten Fäden so an, wie er es im Gedächtnis hatte. Je besser er sich dem Muster annäherte, desto weniger Funken sprühten.

Schließlich warf Ryan sein gesamtes Energienetz aus und heftete es an Dominics Lebenskraft. Er weinte vor Erleichterung, als er daran zog und sich endlich etwas tat. Langsam verließen die Energieströme Dominic und drangen in Arabelle ein.

Zuerst ließ der dunkle Zauberer keine Wirkung erkennen, was jedoch nicht lange so blieb. Schon bald trat ein Ausdruck blanken Entsetzens in seine Züge, und er kämpfte gegen seine Fesseln an. Oda und Aaron hielten ihn fest. Ryan entzog Dominic weiter dessen Energie, doch seine Aufmerksamkeit galt dabei allein seiner geliebten Arabelle. Während die Lebenskraft in sie strömte, bildeten sich die blauen Flecken auf ihrer Stirn nach und nach zurück. Dann dehnte sich die eingedrückte Seite ihres Brustkorbs, und ihr angestrengter Atem ging etwas leichter. Die Schattierung ihrer Haut ging von einem tödlichen, bläulichen Schwarz zu Rosa über.

Der Strom der in sie fließenden Lebenskraft wurde dünner und versiegte letztlich.

Flatternd öffnete Arabelle die Lider. Als sie hustete, spuckte sie Erde und Blut aus. »Ich liebe dich, Ryan«, flüsterte sie.

Er wiegte sie sanft in den Armen. »Ich liebe dich, Arabelle.«

Sie erwiderte seine Umarmung. »Wie?«

Ryan drehte sich Dominic zu, der auf dem Boden lag. Seine Augen starrten blicklos ins Leere. »Ich habe sein Leben gegen deines eingetauscht.«

»Ein guter Tausch, wenn ihr mich fragt«, brummte Oda. »Willkommen zurück, Mädel. Hätte nicht gedacht, je wieder zu sehen, wie sich deine hübschen Augen öffnen.«

Arabelle warf einen traurigen Blick zu Dominic. »Ich hoffe, wir haben aus ihm herausbekommen, was wir brauchen.« Sie schloss die Augen. »Kann ich mich ausruhen? Ich würde zu gern ein kleines Nickerchen machen.«

»Natürlich kannst du dich ausruhen«, flüsterte Ohaobbok sanft. »Wir anderen schlagen ein Lager auf. Wir gehen nirgendwohin, bis sich Arabelle erholt hat.«

* * *

»Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen, und lass mich einen Blick darauf werfen, Ohaobbok«, schimpfte Arabelle.

»Es geht mir gut«, beteuerte der Oger. »Das heilt auch so, du musst dich dafür nicht anstrengen.«

Arabelle stampfte mit dem Fuß auf. »Das reicht, Ohaobbok! Zeig mir sofort deine Hände!«

Verlegen sank der Oger auf die Knie und streckte ihr die Hände entgegen. Notdürftige, schmutzige Verbände, die sie bei den toten Lasttieren gefunden hatten, umhüllten sie.

Arabelle entfernte sie, dann japste sie beim Anblick der rohen Fleischbrocken, die von Ohaobboks Fingern geblieben waren. Sie trieften vor Blut, und aus den Wunden sickerte eine übelriechende, grünliche Substanz.

»Deine armen Hände! Wie konnte das passieren?«

»Ich habe gesehen, dass du verschüttet warst«, sagte Ohaobbok. »Da wusste ich, dass ich dich schnell ausgraben muss.«

Arabelles Unterlippe bebte. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Bringt mir jemand etwas zu essen. Der tapfere Anführer unserer Gruppe hat sich beim Versuch, mich zu retten, fast die Hände ruiniert. Ich lasse nicht zu, dass er an einer Entzündung stirbt, nur weil er störrisch wie ein Maultier ist.«

Dann konzentrierte sie sich auf die Hände des Ogers, ließ ihre Heilkraft in ihn fließen und vertrieb den sich anbahnenden Wundbrand.

* * *

Ryan erinnerte sich daran, dass sein Vater in der Zeit vor Trimoria immer wieder Telekonferenzen mit Menschen auf der ganzen Welt hatte. Er hatte das Gefühl, dasselbe zu tun, während alle um das Feuer saßen und Ryan Nachrichten über seinen Verständigungsring verschickte. Sie brauchten vom Beraterstab des Königs Anweisungen, was sie als Nächstes tun sollten.

Ja, tippe er. Es geht allen gut. Dominic haben wir in einem ungekennzeichneten Grab verscharrt.

Als eine Antwort kam, verkündete Ryan sie für die Zwerge. »Eglerion meldet sich. Er sagt: ›War der Sammael gewidmete Altar in Ellisanethra?‹«

Im weiteren Verlauf sprach er alles laut aus.

Ryan: Sloanes Beschreibung passt zu dem, was ich vom Haus der Elfenkönigin in Erinnerung habe.

Jared: Was immer in dem Altar verborgen ist, muss beseitigt werden.

Throll: Denk daran, dass der Keim vom ersten Protektor versiegelt wurde. Sei sehr vorsichtig. Die Elfenkönigin hat versucht, das Versteck des Keims zu öffnen, und wurde selbst darin gefangen.

Jared: Eglerion und Labri werden dorthin eskortiert, wo der Hammerwerfer-Clan wartet. Sie betreten das Reich der Elfenkönigin zusammen mit euch.

Throll: Silas möchte, dass ihr alle Mattias Hammerwerfer aufsucht. Oda weiß, wie man ihn findet. Erinnert Ohaobbok daran, etwas Violettes auf der Schulter zu tragen.

Ryan schaute zu Ohaobbok auf. »Violett?«

Der Oger griff sich eine Handvoll Beeren von einer herabhängenden Ranke und zerdrückte sie auf seiner Schulter, wodurch ein violetter Fleck entstand. »Zwerge und Oger sind von Natur aus Feinde. Mich erkennen die Zwerge durch diesen violetten Fleck als Freund.«

»Weißt du, wie man Hammerwerfer-Clan findet?«, wollte Ryan von Oda wissen.

Oda lachte. »Natürlich! Die Hammerwerfer leben seit Generationen neben den Steinfausts.«

Ryan tippte auf seinen Ring.

Ryan: Verstanden. Wir treffen uns mit Eglerion und Labri im Gebiet der Hammerwerfer.

Throll: Braucht ihr etwas? Ihr müsst es nur sagen.

Ryan ließ den Blick über die Gruppe wandern. Alle schüttelten den Kopf.

Ryan: Niemand sonst will etwas. Aber ich möchte die Erlaubnis, die Welt von Ellisanethra und dem verfluchten Altar hinter jenem Haus zu befreien.

Throll: Eglerion ersucht euch, auf seine Ankunft zu warten, bevor ihr das Reich der Elfenkönigin betretet. Aber du hast meine Erlaubnis und den Segen deiner Eltern, jeden Hinweis auf diesen Ort des Bösen aus Trimoria zu tilgen.

Ryan: Verstanden und danke.

Jared: Seid alle vorsichtig. Gute Nacht. Bis demnächst.