Das Kind war ein Engel, so viel schöner als seine Mutter, die Schönheit hatte es vom Vater, der sich nur einmal dazu herabließ, Rose aufs Land zu begleiten, wo das Kind heranwuchs. Wenn die Sonne auf seinem Gesicht spielte, kamen Rose die Tränen. Wenn es seine Fingerchen in Roses Mund und Nasenlöcher, in ihre Ohren und Augen bohren wollte, musste sie lachen und vergaß das Weinen. Nur schade, dass sie ihre Freude bloß mit der Amme teilen konnte, bei der das Kind aufwuchs. Weder wollte Alexandre es ein zweites Mal besuchen, noch erkundigte er sich je danach.

Bevor er Louisette zum ersten Mal sah, hatte er im Spaß gemeint, wenn das Mädchen so aussehe wie seine Mutter, dann hätte man es besser mit den überzähligen Katzen in einen Sack gesteckt und in der Seine ertränkt. Entsetzt hatte Rose geschwiegen.

Wenn es einschlief, wachte Rose über seinen Schlummer und seine Träume, die fein wie Spinnweben sein mussten, da es ja noch nichts erlebt hatte, kaum dass es sehen und verstehen konnte, wovon es umgeben war. Rose fragte sich, ob es seine Mutter erkannte oder sie lediglich für ein unbekanntes Wesen hielt, das sich viel zu selten blicken ließ. Sie zeigte dem Kind mit Worten, was sie sah: Apfelbäume, an deren Blättern Weinbergschnecken klebten, die glitzernde Spuren hinterließen, Stangen, an denen Bohnen emporrankten, ein Beet voller Kohlköpfe, Löwenmäulchen, Zinnien und

All das erinnerte sie an ihre eigene Kindheit, und sie war froh, dass ihr Kind, ihr Mädchen, als Erwachsene ähnliche Erinnerungen mit sich herumtragen würde wie sie, auch dann, wenn sie ihre Mutter aus den Augen verloren oder vergessen haben würde, die dann auch tot sein konnte. Die Besuche beim Kind waren die schönsten Stunden des Monats. In Paris murmelte sie während der Hausarbeit oder in der Küche manchmal seinen Namen wie eine Zauberformel vor sich hin, zehnmal, zwanzigmal hintereinander, und sie stellte sich vor, es sauge an ihrer Brust wie an der Brust ihrer Amme, Louise – Louisette – Louise – Louisette – Louise – Louisette …

An jenem einzigen Sonntag, an dem Alexandre sie aufs Land begleitete – er angelte am Fluss mit Maden, die er in einer verwesenden Leber gezüchtet hatte –, glaubte sie aus dem Mund des Kindes die ersten gestammelten Laute zu hören. Ihr Blick fiel auf das Waschhaus, an dem wochentags reges Treiben herrschte. Jetzt war es leer.

 

Eines Tages schrieb ihr die Amme, Louisette sei von einer Wespe gestochen worden. Sie hatte den Arzt kommen lassen, der sie untersucht und weder einen Stich noch eine Schwellung festgestellt hatte.

»Wie allerliebst sie ist, wenn sie daliegt und an die Decke schaut«, schrieb die Amme, und Rose erschrak so heftig, dass sie nicht wusste, was sie denken sollte. Sie spürte eine Gefahr.

»Sie hat ihre Launen«, meinte Edmond.

Den ganzen Tag machte sie Bohnen ein. Der Wasserdampf erfüllte die Küche und ihre Lungen. Sie dachte unablässig an das Kind, das an die Decke schaute.

Da in den folgenden Tagen kein weiterer Brief von der Amme eintraf, beruhigte sie sich wieder. Hätte sich Louisettes Zustand verschlechtert, hätte sie ihr wieder geschrieben. Kinder erholen sich so leicht, wie sie erkranken. Am Sonntag würde sie Louise wiedersehen.

Sie war sich dessen sicher, denn die Zeichen des Himmels waren untrüglich: Der erste Mensch, dem sie am Samstagmorgen begegnete, war ein Mann; sie hatte ein fuchsrotes Pferd und einen buntscheckigen Hund gesehen; sie war einem Mädchen mit einer roten Mütze begegnet; sie hatte richtig geraten, dass es nach links abbog; die Anzahl der Stufen zur Wohnung, die sie beim Hinaufgehen eben gezählt hatte, war ungerade. Lauter gute Zeichen, die sie aufatmen ließen.

Sie bereitete den morgigen Besuch bei ihrem kleinen Mädchen vor, indem sie ein weißes Kleid bereitlegte, mit dem sie es wie eine Auferstandene schmücken wollte. Bei der Concierge wurde am späten Nachmittag ein Brief abgegeben.

Erst gegen sieben Uhr überbrachte sie die Nachricht; für die verspätete Übergabe entschuldigte sie sich nicht.

Als Edmond sie fragte, was geschehen sei, kamen ihr die Tränen, und sie erzählte überstürzt und aufgewühlt, ihre kleine Nichte, die Tochter ihrer Schwester, sei gestorben. Edmond versuchte sie zu trösten.

Das Kind war bereits unter der Erde. So stand es im Brief, den sie nicht aus der Hand gab. Sie versteckte ihn unter ihrer Matratze. Sie würde Louisette nicht mehr sehen, weder tot noch lebendig. Die Amme forderte sie bald auf, die angefallenen Kosten für den Arzt und die Medizin zu begleichen, die sie für sie vorgestreckt hatte.

Rose weinte jeden Abend über dem weißen Kleidchen, mit dem sie Louises Auferstehung feiern wollte, das nun ihren Tod symbolisierte.

Sie spürte das Kind in sich. Es bäumte sich auf, als wollte es ein zweites Mal geboren werden, um dann nur wieder abzusterben, es rang nach Luft und atmete flach, es röchelte, es starb, feucht und kalt und weiß. Noch nach einem halben Jahr pochte es manchmal in ihrem Bauch.

War Louisette gestorben, noch bevor sie den Namen ihrer Mutter aussprechen konnte, weil Rose den Vater mehr geliebt hatte als das Kind? War das Gottes Rache, dass sie Alexandre nicht abgeschworen hatte? Sollte diese Strafe sie lehren, an den Allmächtigen zu glauben? Wenn das Gottes Absicht war, musste er sich mit dem Teufel verbündet haben. Sie schwor sich, nie mehr eine Kirche zu betreten, nicht einmal an Weihnachten oder Ostern.

 

Inzwischen hatte Madame Colmant, die selbst für die leichteste Arbeit zu korpulent geworden war, eine fünfzehnjährige Nichte vom Land kommen lassen; Roses Hilfe war ihr längst nicht mehr genug und auch nicht gut genug. Schon am ersten Tag lobte sie das treuherzige Kind, das sich sogleich in Alexandre verliebte, der keinen Hehl daraus machte, wie reizvoll er sie fand. Es entging Rose nicht.

Der bäuerlichen Koketterie und unverfrorenen Naivität dieses Mädchens konnte ein Mann wie Alexandre nicht widerstehen. Wer hätte es gekonnt? Das Mädchen, dem Kindsein kaum entwachsen, war quicklebendig wie eine Forelle.

Madame Colmant gegenüber hielt sich Rose mit ihren Verdächtigungen zurück, um nicht selbst in den Verdacht zu geraten, sie stelle Ansprüche an ihren Sohn. Alexandre gegenüber jedoch hatte sie keine Hemmungen, ihm jedes kleinste Wort vorzuhalten, das er an seine Cousine gerichtet hatte. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, die sie in seinen Augen gewiss nicht liebenswürdiger oder begehrenswerter erscheinen ließen. Rose war sich darüber im

 

Während der Schwangerschaft und nach der Geburt Louisettes hatte sie keinen Alkohol mehr angerührt. Doch bei der nächsten Gelegenheit, als man ihr in einem Hinterzimmer, wo sich samstags die Dienstmädchen trafen, Likör und Absinth anbot, lehnte sie nicht ab. An diesem Abend trank sie – die den Alkohol nicht mehr gewohnt war – so viel, dass nur der Instinkt ihr half, den Heimweg zu finden. Als sie am nächsten Morgen um elf Uhr durch das Klopfen und Rufen Adèles erwachte, die einer der Herren Goncourt zu ihr geschickt hatte, erinnerte sie sich nicht, wie und wann sie in der vergangenen Nacht nach Hause gekommen war. Auch die Erinnerung an den Abend war so gut wie ausgelöscht.

 

Nachdem Rose Alexandres Mutter in einem Moment blinder Eifersucht, der sie zu ihrem Laden trieb, nicht nur die finanzielle Unterstützung vorgerechnet hatte, in deren Genuss ihr Sohn dank ihrer aufopfernden Hilfe gekommen war, sondern ihr auch eröffnet hatte, dass er der Vater ihres nunmehr verstorbenen Kindes war, kam es in Madame Colmants Küche zu einem lauten Streit, der in Handgreiflichkeiten zwischen Rose, Alexandre und seiner Entrüstung mimenden Mutter gipfelte. Weinend vor Schmerz und Wut war Rose aus dem Haus gestürzt.

 

Wochenlang mieden sie einander. Um Madame Colmants Laden machte Rose einen großen Bogen.

Folglich war ihre Freude groß, als sie ihn wiedersah, nicht irgendwo, nicht zufällig, nicht vor dem Laden, sondern vor dem Haus in der Rue Saint-Georges, wo er auf sie wartete. Die Hände in den Hosentaschen, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, die schönen Arme sichtbar, stand er da und blickte sie erwartungsvoll an.

»Guten Abend, Rose.«

Sie schwieg und wartete und bemerkte, wie seine Lider zuckten.

»Du brauchst Geld?«, sagte sie. »Ich habe zu tun.«

»Ich muss fort«, sagte er ernst.

»Dann geh.«

»Ich muss fort und komme vielleicht nicht wieder.«

»Was redest du?«

»Ich wollte mich verabschieden. Es sind schon viele auf dem Schlachtfeld geblieben.«

Rose starrte ihn an.

»Was redest du?«

»Ich werde eingezogen. Das Los ist auf mich gefallen.«

Kaum hatte er es ausgesprochen, kaum hatte Rose Zeit, sich auszumalen, wie er verletzt wurde, wie er im Lazarett lag, wie er starb oder als Krüppel heimkehrte, wusste sie schon, warum er gekommen war. Er brauchte Geld, um sich freizukaufen.

»Wie viel?«

»Wie viel brauchst du, um dich loszukaufen? Ist es bloß eine weitere Lüge?«

»Darum bin ich nicht gekommen.«

»Natürlich bist du darum gekommen, du kommst nur, wenn du Geld von mir brauchst.«

»Ich bin gekommen, damit du dich mit meiner Mutter versöhnst.«

»Du lügst wie du boxt, jedes Mittel ist dir recht, um zu gewinnen. Sag schon wie viel.«

»Ich werde dir vom Regiment aus schreiben. Lass uns ein Stück gehen und reden.«

Sie machten sich auf den Weg. Sie gingen und redeten, wie er es gewünscht hatte. Die gepflasterte Straße schien nirgendwohin zu führen. Zwischen den Straßenlaternen standen verkrüppelte Bäume, in denen kein Vogel saß. Er sei stolz, dem Vaterland zu dienen, notfalls dafür zu sterben, sagte er mit düsterer Miene. Sie gingen immer weiter. Sie folgte ihm blind, als wäre er ein anständiger Führer. Er legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern, und sie seufzte. Plötzlich roch es nach Zucker, Talg und Verwesung. Sie kamen an einem offenen Wagen vorbei, auf dem Schlachtfleisch lag. Schwärme von Fliegen hatten sich darauf niedergelassen und bildeten einen glänzenden Panzer; bei jeder Bewegung des Wagens flog der schillernde Panzer kurz auf, um sich gleich wieder über den Kadaver zu breiten. Zucker, Talg, Tod und Verwesung, Rose dachte an die Küche, in der sie täglich Fleisch für Jules und Edmond zubereitete. Sie war angewidert vom Fleisch und angezogen von Alexandre. An ihren Gefühlen hatte sich nichts geändert. Es war gut so, auch wenn es schlecht für sie war.

 

Im Haus der Colmants kam es zu einer Versöhnung, die Rose umso leichter fiel, als Alexandre ihr erzählt hatte, seine Cousine, deren Lebenswandel zu wünschen übrig ließ, sei nach Hause geschickt worden.

Madame Colmant warf sich ihr in die Arme und weinte. Sie verzieh ihr das Kind und bedauerte dessen Tod mit tränenden Augen. Sie bemitleidete Rose für das, was sie durchgemacht hatte. Sie spielte vorzüglich Komödie, und Rose hätte ihr beinahe dazu gratuliert. Stattdessen nahm sie ihre Entschuldigung mit wenigen Dankesworten an. Sie möge ihr verzeihen, dass sie sie so behandelt habe, sagte Madame Colmant.

 

Die Summe, die er brauchte, um sich vom Dienst loszukaufen, belief sich auf zweitausenddreihundert Francs. Rose, die keinen Sou mehr besaß, seit sie Alexandres Werkstatt eingerichtet hatte, musste das Geld zusammenbetteln.

Acht Tage lang ließ sie sich nicht mehr bei den Colmants blicken, die allmählich befürchteten, dass sie sie nie mehr sehen würden. Doch eines Abends gegen halb elf stand Rose vor ihrer Tür, grüßte kurz, trat ein, ging auf den Tisch zu, an dem Mutter und Sohn vor sich hin dämmerten, zog einen Leinwandbeutel aus ihrer Schürze und stellte ihn vor sie hin.

»Hier ist das Geld«, sagte sie trocken.

Als sie den Knoten löste und den Inhalt des Tuchs auf der

Es waren auf den Sou genau zweitausenddreihundert Francs. Es war ihr gelungen, Menschen, mit denen sie weder verwandt noch befreundet war, die sie kaum kannte, durch Schmeicheleien und Lügen so viel Geld aus der Tasche zu ziehen, wie sie selbst nie besessen hatte und nie besitzen würde, denn solange sie lebte, würde sie alles Geld, das sie verdiente, an Alexandre verlieren, ihre einzige Liebe, zu der sie wie ein Hund stets zurückkehren würde, gestreichelt oder geschlagen, ihre Bestimmung war es, losgeschickt zu werden, um die schönsten Leckerbissen zu apportieren.

Die dreihundert Francs, die sie bei den Goncourts verdiente, würden allerdings nicht ausreichen, um für die Zinsen aufzukommen, die aufgrund ihrer Schulden bald fällig werden würden. Entbehrungen und Einschränkungen wären die Folgen, und um ihre Zinsschuld zu begleichen, würde sie ihre nichtsahnende Herrschaft betrügen und bestehlen, zwei gestandene, ehrenwerte Herren. Deren

Es würden sich immer wieder Gelegenheiten finden, heimlich Geld abzuzweigen. Schließlich verwaltete sie die Ausgaben für den Haushalt. Niemand kontrollierte sie.

Ob Alexandre ihr Opfer schätzte, wusste sie nicht. Wie weit sie dafür gehen würde, blieb ihr Geheimnis.

Die Vorstellung, nicht einrücken zu müssen, entlastete ihn, dafür war er ihr zweifellos dankbar. Vor Übel gefeit zu sein, stand ihm von Natur aus zu; er hielt ihr Opfer für selbstverständlich. Die Mutter schluchzte so laut, dass es Rose reizte, ihr das Gesicht zu zerkratzen.

Rose hatte nun Schulden beim Concierge, beim Kaufmann, bei der Gemüsefrau, bei der Geflügelhändlerin, bei der Waschfrau und bei verschiedenen Lieferanten. Sie hatte sich jeder und jedem aufgedrängt, hatte – Lügengeschichten erzählend – Schande auf sich genommen, indem sie sich erfundener Fehltritte bezichtigte, die sie nun mit dem geliehenen Geld wiedergutmachen wollte; nicht alle hatten ihr geglaubt, und doch hatten ihr die meisten etwas gegeben, denn man schätzte sie und hielt sie für zuverlässig und ehrbar genug, das Geld eines Tages zurückzuzahlen. Nur wenige hatten sie abblitzen lassen, damit hatte sie natürlich gerechnet. Wie konnte sie von den anderen erwarten, besser zu sein als sie, die verkommener war als alle zusammen? Jene, die geglaubt hatten, sie habe Geld gespart, konnten nun schadenfroh den Mantel des Mitleids über sie breiten. Absagen und Almosen hatte sie ertragen, drei Dutzend

Hätte sie doch gegen das Geld auch ihre Eifersucht eintauschen und unangreifbar werden können.

Sie war auf der Lauer wie eh und je. Wann immer es ihre Arbeit zuließ, überwachte und folgte sie Alexandre heimlich.

Der zweifelhafte Erfolg ihrer Bespitzelungen blieb nicht aus. Nachdem sie eines Sonntags eine Viertelstunde hinter ihm hergelaufen war und sich jedes Mal, wenn er stehen blieb, gegen eine Hauswand gedrückt oder in eine Toreinfahrt geflüchtet hatte, musste sie mitansehen, wie aus dem Nichts in der Passage des deux soeurs eine elegante Dame in grüner Seide, die sie nie zuvor gesehen hatte – keine Hure –, auf Alexandre zueilte und ihm in die Arme fiel. Zweifellos waren sie verabredet gewesen. Sie küssten sich.

Sie bog sich unter seinem Kuss halb weg, nur scheinbar widerstrebend, in Wahrheit lustvoll ergeben; die Schamlosigkeit der beiden, die keine Rücksicht auf weniger unmoralische Passanten nahmen, zeichnete hektische Flecken auf Roses Wangen. Sie hätte sich abwenden und das Weite suchen sollen. Sie blieb stehen und starrte dorthin.

Die beiden verschwanden in einem kleinen Hotel. Rose spürte förmlich, wie Alexandres Hand sich um ihr Herz schloss und es zum Stillstand brachte. Ihre Raserei war entsetzlich. Sie griff in ihre Tasche und umfasste den Flakon, dessen Inhalt dem Verrat ein Ende machen würde.

Sie betrat das Hotel, schreckte den Portier auf, eilte an

Die Tür sprang auf, beide waren nackt. Es war genau so, wie sie es sich ausgemalt hatte. Er lag auf ihr. Die Frau starrte mit offenem Mund auf die Unbekannte, die ohne Ankündigung in ihr Zimmer eingedrungen war. Alles ging schnell, es dauerte keine Minute. Rose hatte das Fläschchen bereits aufgeschraubt und schüttete Alexandres Geliebter das Vitriol ins Gesicht. Sie zielte gut. Der Schrei ihres Opfers gellte durchs Haus. Erschrecken, Entsetzen, Schmerzen. Es musste höllisch brennen. Ihr Stand half ihr nichts. Alexandre blickte sie fassungslos an. Die Haut seiner Geliebten zischte, zersetzte sich und wurde binnen weniger Sekunden krebsrot.

Alexandre war aufgesprungen und stand nun neben dem Bett. Er rang nach Worten und fand keine. Er war unversehrt, das Fläschchen geleert, er brauchte sich nicht zu fürchten, ihn hatte Rose nicht im Visier. Die Frau im Bett wimmerte, ein hoher Dauerton, allmählich verließen sie ihre Kräfte. Die Säure hatte ihre Augen verätzt. Blind und für immer entstellt, war sie nun tausendmal abstoßender als die kleine, unscheinbare, hässliche Rose. Das ganze Hotel lief zusammen. Nur Rose blieb ruhig, lächelte, triumphierte. Sie hielt den Flakon in der Hand und ließ ihn fallen. Er zerbrach. Wollte Alexandre sie verfolgen, müsste er mit nackten Füßen durch die Scherben laufen.

Die Verwüstungen im Gesicht ihres Opfers würden sie für immer verunstalten, die Haut hatte sich wie verkohltes

Rose hatte geträumt. Ihr Traum war die einfältige Rache einer Hilflosen, die es in Wirklichkeit nicht einmal schaffte, in der Apotheke nach Vitriol zu fragen.

Eine Passantin riss sie aus ihren Hirngespinsten: »Was lachst du denn so blöd, bist du irre oder was?«

Währenddessen lagen die beiden glücklich vereint in dem Hotel, dessen Tür sich nicht mehr bewegt hatte, seit sie dahinter verschwunden waren. Natürlich war sie verriegelt.

Bis hierher, wo sie jetzt stand, doch keinen Schritt weiter, entsprach ihre Vorstellung der Wirklichkeit, sie war Alexandre heimlich gefolgt, sie hatte gesehen, wie die Fremde ihn geküsst hatte und wie die beiden im Hotel verschwunden waren. Das war alles, aber es genügte, um Rose die folgenden Tage zu verdrießen.

Dort oben lagen sie beieinander, die hübsche Frau, die sich des Kleids, ihres Unterrocks und ihrer Unterwäsche entledigt hatte, und Alexandre, von dem sie erhielt, was er Rose verweigerte. Sie kam auf ihre Kosten, ohne dass sie dafür zahlen musste. Es genügten reizvolles Aussehen, grüne Seide, erlesene Aussprache. Es genügte wenig, doch selbst das wenige fehlte Rose.

Rose wünschte ihn sich tot auf dem Schlachtfeld, Gras und Erde zwischen den Zähnen und Würmer und Ungeziefer auf ihm, das ihn vom Erdboden vertilgte. Erst wenn er verschwunden war, würde sie frei sein.

Sie machte sich langsam auf den Heimweg, zurück in

 

Likör und Absinth taten ihr gut. Wenn sie genug davon getrunken hatte, schlief sie tief. Der Rausch unterdrückte ihre Gedanken an Selbstmord, von denen sie tagsüber oft heimgesucht wurde, wenn sie an Louisette und deren treulosen Vater dachte und böse Einkehr hielt, indem sie, wie in einen tiefen Brunnen, in ihre Seele blickte, bevor sie hineinfiel, um unterzugehen. Doch wenn sie das Glas oder die Flasche an ihre Lippen führte, glitt sie sanft vom Tag in die Nacht, und wenn sie es rechtzeitig ins Bett schaffte, konnte sie sogar schlafen. Oft aber wachte sie morgens in einer Ecke ihrer Kammer auf dem Boden auf.

Beim Erwachen war die Leere wieder da. Die Tage vergingen wie auf einer unübersehbaren Fläche leeren Wassers.

Oft schlief sie am Küchentisch ein, die Küche war ihr gut gehütetes Revier, hier störte sie keiner, hier fand sie das Glück des Schlafs noch schneller als im Bett, es war auch wärmer als unterm Dach, und im Sommer kühler, sie öffnete das Fenster und hörte Geräusche von der Straße, aus anderen Küchen, aus Zimmern, Gärten, Höfen, aus Sax’ Werkstatt drangen die letzten Posaunen- und Trompetenstöße.

Kaum hatten Edmond und Jules die Wohnung verlassen, holte sie die Flaschen aus ihrem Versteck und mischte Absinth mit Likör oder Wein und trank in regelmäßigen Zügen, ohne das Glas abzusetzen, bis es leer war, dann beobachtete sie, wie die letzten Tropfen in klebrigen Schlieren am Glas hinunterrannen, manchmal zählte sie, und wenn

Doch wenn das nächste Glas vor ihr stand, hatte sie den Wunsch stets vergessen.

Immer öfter trank sie reinen Schnaps. Immer öfter trank sie schon morgens. Immer öfter trank sie tagsüber eine ganze Flasche. Der Zustand, in den sie dabei geriet, erleichterte ihr die Arbeit, der Geist stumpfte ab, die Arme und Hände erledigten von selbst, was sie seit Jahren wie kleine Automaten zu tun gewohnt waren, sie ging wie eine Schlafwandlerin durch die Wohnung, die Treppen hinunter, durch den Hof, auf die Straße, an Madame Colmants Laden vorbei, zum Markt, sie huschte und blickte kaum auf, wenn man sie grüßte oder fast mit ihr zusammenstieß, es gelang ihr immer auszuweichen. Alles, was sie tat, tat sie in einem Zustand zähflüssiger Schlaftrunkenheit, zwischen Wachsein und Traum, in Gedanken woanders und manchmal nirgendwo.

Der Geruchssinn der Junggesellen war offenbar nicht ausgeprägt, oder er schloss Rose nicht mit ein. Um kleine Spitzen üblicherweise nicht verlegen, wenn es etwas an ihr zu bespötteln gab, fiel es Edmond und Jules nicht auf, dass sie ihnen oft schon das Frühstück betrunken servierte.

 

Rose liebte Alexandre. Dann wieder hasste sie ihn und liebte ihn wieder, stärker denn je, als müsste sie Abbitte für ihre schlechten Gedanken leisten. Der Hass war immer da, so wie die Liebe immer da war, beide kämpften mit unterschiedlichen Waffen, keine war stark genug, um die andere völlig auszuschalten.

EDMOND: Hast du etwas gesagt? Hörst du nicht? Rose!

ROSE: Oh, Monsieur, ich war in Gedanken.

EDMOND: Ist alles in Ordnung?

ROSE: Oh ja, Monsieur. Noch etwas Käse?

EDMOND: Bitte.

JULES: Rose, hast du rohen Knoblauch gegessen?

Rose nickte. Sie aß alles, was den Alkoholgeruch überdeckte.

JULES: Hast du Angst vor Vampiren?

ROSE: Was sind Vampire?

JULES: Nun, etwas, wogegen Knoblauch am besten hilft.

Rose suchte nach Worten.

JULES: Wesen, die in der Nacht hilflosen Seelen auflauern, um ihnen das Blut auszusaugen. Ohne Blut können sie nicht leben. Sie sind halb Fledermaus, halb Mensch mit langen, scharfen Zähnen. Sie verführen die Menschen durch schlanken Wuchs und gutes Aussehen, durch funkelnde Augen, die sich verfärben, wenn sie zubeißen. Ihre menschliche Gestalt soll über ihre bösen Absichten hinwegtäuschen.

JULES: Hab keine Angst. Solange du zehn Meter gegen den Wind nach Knoblauch stinkst, werden sie dir nicht auf den Leib rücken, und da du ein Kreuz um den Hals trägst, bist du vor ihnen doppelt sicher.

Einmal hatte Alexandre es ihr ins Gesicht gesagt, als sie schwanger war: »Du bist hässlich, und niemand liebt eine Frau, die hässlich ist, höchstens ein Hund oder eine Katze.« Nach einer kurzen Pause war ihm noch etwas eingefallen, über das er herzlich lachen musste: »Und ein Blinder vielleicht.«

 

Das Wunder dieses missratenen, schimpflich zerbrochenen Lebens war, dass nichts davon an den Tag kam. Nichts drang nach außen, nichts davon kam über ihre Lippen, nichts war auf ihrem Gesicht zu lesen, sie bewahrte es in ihrem Inneren; ihr Auftreten war unscheinbar und verhalten, ihr Ausdruck durchsichtig und unberechenbar. Der wahre Hintergrund ihrer Existenz blieb Edmond und Jules verborgen, als wäre sie ein Kiesel unter Kieseln, über den die Wellen bei Flut und Ebbe hinwegrollten, ohne ihn je zu verrücken, er stand still. Unter anderen Bedingungen hätte sie auch zur Heiligen getaugt, das wusste sie selbst. Sie verhielt sich still und klammerte sich an die Vorstellung, dass niemand sehen konnte, was nicht zu sehen war.

Hatte Alexandre sie verhext? Zitterte sie deshalb vor Aufregung wie ein Hund beim Anblick seines Herrn, wenn er sich näherte? Es gab nichts, was er ihr antun konnte, was sie nicht schweigend ertragen hätte, er konnte mit ihr machen, was er wollte, es war ihm erlaubt, nach seinem

 

Er brauchte wieder Geld, diesmal zwanzig Francs. Sie hatte keinen Sou. Sie fragte die Concierge, die gab ihr nichts mehr, der Kaufmann gab ihr nichts mehr, die Gemüsefrau machte nachgerade einen Satz zurück, als habe der Teufel sie angefasst. Sie schaute beim Gehen und auf dem Markt angestrengt aufs Pflaster. Halb blind vor Anstrengung suchten ihre Augen die Lücken zwischen den Steinen ab. Andere fanden doch auch zufällig Geld auf der Straße, warum nicht sie? Nein, da war nichts.

Geld vom Haushaltsgeld abzuzweigen, schien ihr entschuldbar, wie hätte sie sonst ihre Zinsen und Schulden abstottern können, aber kaltblütig gestohlen hatte sie in all den Jahren, da sie bei den Goncourts gedient hatte, nie. Das änderte sich nun.

Wer wusste besser als sie, wo die Brüder ihr Geld aufbewahrten? Der Schlüssel zur Kassette lag in der Schublade des Schreibtischs, den sich Edmond und Jules für ihre gemeinsame Arbeit vom Tischler nach ihren Vorstellungen hatten anfertigen lassen. Die Goncourts waren unaufmerksam und gleichgültig, was geringfügigere Summen anging. Sie würden das Fehlen des kleinen Betrags, den Rose der Kassette entnahm, nicht bemerken.

Nach zwanzig Jahren war der Tag gekommen, jene zu bestehlen, die sie nährten. Doch der Gedanke, dass andere Dienstmädchen besser entlohnt wurden als sie, machte es ihr leichter, die Tat zu begehen, indem sie ihr einen

Sie hatte ihr Gesicht im Spiegel auf der Innenseite des Kassettendeckels matt aufleuchten sehen und nichts Außergewöhnliches darin entdeckt. Der Ausdruck war unberührt von dem geblieben, was sie tat.

 

Die einzige Veränderung, die Edmond und Jules auffiel, war, dass Rose immer begriffsstutziger wurde. Und das, was sie tagein, tagaus kochte, war inzwischen noch ungenießbarer als früher. So kam es ihnen vor.

EDMOND: Und, wie wächst dein Gras?

ROSE: Wie?

EDMOND: Dein Gras!

ROSE: Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.

Erst als er sie an die Zigarettenkiste in der Dachrinne erinnerte, fiel ihr das Kistchen wieder ein, das sie zu Beginn ihrer Liebe mit Erde gefüllt hatte, um darin Gras zu säen. Sie hatte Samen in die Erde gedrückt und das Kistchen

 

Sie war in einen reißenden Strom geraten, es gab kein Ufer, keinen Ast, keine Rettung, nichts in Sicht, an dem sie sich festhalten konnte. Sie trieb in der Mitte des Wassers und wurde immer schneller Richtung Meer geschwemmt, dessen Mündung ihre Leiche bald erreicht haben würde. Weder Alexandre noch Gott meinten es gut mit ihr.

 

Eines Sonntags lud eine der Zofen aus dem Nebenhaus sie zu einem Ausflug in die Natur ein. Also machte Rose sich hübsch, kaufte einen halben Hummer und begleitete ihre Freundin zum Boulevard de la Chopinette, wo bereits eine kleine Gesellschaft vor einem Café auf sie wartete. Es waren nicht nur junge Leute, die um die Tischchen saßen und eine Runde Crème de Cassis tranken. Danach ließ man sich in zwei Fiakern zur mächtigen Festung von Vincennes chauffieren. Einer der älteren Männer warf Steine in die Schießscharten und traf immer. Von der Festung aus ging man zu Fuß in den Wald, der sich als armseliges Gehölz erwies.

Die Pfade waren ausgetreten und voller Unrat, das Gras am Wegrand gelb und abgestorben, überall wucherte hohes, von Staub bedecktes Brennnesselgestrüpp, dem man

Alles schien Rose verkommen und krank, die grauen Bäume, das versengte Laub, die trockenen Wiesenstücke, auf denen Sonntag um Sonntag gegessen, getrunken und gefeiert wurde, wovon die Abfälle, die Flaschenkorken und das dürftige Gras zeugten; die Natur hatte der Großstadt das Feld überlassen. An den Zweigen hingen Strohhüte, Mützen und Tschakos, aus dem Gebüsch traten Waffelhändler und boten ihre süße Ware an, Knaben jagten nach erschöpften Schmetterlingen und spießten sie an Ort und Stelle auf, alle möglichen schwer verständlichen Dialekte schwirrten durch diese Landschaft, die der Sonne, dem Lärm und den Menschen schutzlos ausgeliefert war. Was sich Roses Anblick bot, war die Verhöhnung eines Waldes, ein Ort voller Unrat, wo an den Ästen morgens die Hälfte der Selbstmörder von Paris hing, wie einer der Männer behauptete.

Rose war längst verstummt, als sich die Ausflügler im Schatten einer großen Eiche im dürren Laub niederließen, das sich wie ein raschelnder Teppich unter ihnen ausbreitete. Die Gesellschaft wurde immer lauter, immer ausgelassener, doch obwohl Rose selbst ganz still war und von niemandem zum Reden aufgefordert wurde, fühlte sie sich nicht deplatziert, sondern gerade richtig, man ließ sie wie einen Säugling in Ruhe, von dem auch niemand mehr erwartet, als dass er hin und wieder gluckst. Ein sanfter

Sie erwachte, als ein Grashalm sie in der Nase kitzelte, sie griff ins Leere, und ihre Hand blieb auf dem Bart des Mannes liegen, der zuvor auf die Schießscharten gezielt und jedes Mal getroffen hatte. Er sei Maler, sagte er, und trinke gern. Nicht Künstler, sondern Schildermaler, und nicht Trinker, sondern Liebhaber des Nebels und Behagens, in das ihn der Wein versetze. Und sie verliebte sich zum ersten Mal in einen anderen Mann als Alexandre, als er ihr statt eines Stuhls einen Stein reichte, auf den sie sich setzte, bevor sie ihren Hummer auspackte und mit den anderen teilte, die ihrerseits ihren Proviant an Essen und Getränken herumgehen ließen. So sei die Welt gut, sagte der Maler, der für seine raffinierten Plakate bekannt war.

Sie verfiel ihm nicht so wie Alexandre, wachte aber auch über ihn mit der gleichen Eifersucht.

Gautruche, so hieß der trinkfreudige Maler, war seinen eigenen Worten zufolge anhänglich wie ein Zimmerefeu und, wie Rose bald merken sollte, so unzuverlässig wie das Wetter. Er war weder hübsch noch jung, hatte kaum Haare auf dem Kopf und einen unansehnlichen Bart, aber er war, selbst wenn er getrunken hatte – was so gut wie immer der Fall war –, nicht bösartig, sondern stets gut gelaunt. Er schlug sie nie und ging jedem Streit aus dem Weg.

Er hatte keine eigene Wohnung, sondern lebte in einem Hotelzimmer nahe den äußeren Boulevards, in dem er sich

Die Straße war sein Zuhause, sie hatte ihn erzogen und nährte ihn, auf ihr Angebot an Menschen und Geschichten, die sie ihm täglich lieferte, wollte er nicht verzichten. Rose, deren Geheimnis er ahnte, ohne es zu enträtseln, gehörte wohl auch dazu. Als habe man eine schon halb verdorrte weggeworfene Zimmerpflanze am Weg gefunden, gewässert und gedüngt und ans helle Licht gestellt, erblühte Rose kurz und trug nicht mehr ausschließlich Schwarz und Grau.

Als der Herbst nahte und Gautruche sich immer noch weigerte, ihr den Schlüssel zu seinem Zimmer zu geben, fiel sie allmählich in ihre alten Gewohnheiten zurück. Darüber im Bild, dass ihm eine ehemalige Geliebte nachstellte – eine Frau, die einige Jahre älter war als Rose, aber goldenes Haar hatte, wie er sagte –, passte sie ihn eines Abends ab, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Sie wartete während Stunden, erst vor dem Eingang seines Hotels »Zur blauen Hand«, dann vor seiner Tür im fünften Stock, dann wieder auf der Straße, die sie auf und ab zu gehen begann, wie eine Hure, für die sie der eine oder andere Passant sicher halten mochte. Sie machte hundert Schritte in die eine Richtung, dann hundert in die andere und weitete die Strecke mit jedem Mal um zwanzig Schritte aus. Sie dachte sich, dass sie nach einer bestimmten Anzahl von Schritten ihr Ziel erreicht haben würde und ihr Wunsch in Erfüllung ginge, dass Gautruche auftauchte und sie um Verzeihung

Als Gautruche gegen Mitternacht endlich auftauchte, lag sie schlafend vor seiner Tür. Im Tiefschlaf hatte sie nicht wahrgenommen, wie man im engen Treppenhaus, in dem es nach feuchter Wäsche und verfaulenden Küchenabfällen roch, über sie hinweggestiegen war. Die verächtlichen Blicke, mit denen man sie bedachte, hatte sie ebenso wenig bemerkt wie den Geruch der Spirituskocher, auf denen bei offenen Türen gegart und gebraten wurde, auch nicht den Gestank, der aus dem Ausguss aufstieg, in den die Hausbewohner ihr Schmutzwasser und den Inhalt ihrer Nachttöpfe leerten.

Gautruche war aufgeräumt und unbekümmert wie immer. Er hatte getrunken und war sich keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil, als sie in seinem Zimmer am Tisch vor dem Fenster saßen und gemeinsam eine letzte Flasche Rotwein leerten, unterbreitete er ihr seinen Einfall, gemeinsam in eine größere Wohnung zu ziehen, wo sie ihm wie eine gute Ehefrau den Haushalt führen würde. Zur Belohnung war außer seiner gelegentlichen Anwesenheit nichts vorgesehen, keine Heirat, keine Verpflichtungen. Sie habe nach all den Jahren in den Diensten ihrer beiden

»Es ist Zeit, erwachsen zu werden«, sagte er, als habe er nun endlich die Richtige gefunden, die dumm genug war, ihm das Alter zu versüßen und die Gebrechen zu lindern, die ihn erwarteten.

Die Medizin, die Heilung von ihrer aussichtslosen Leidenschaft für Alexandre versprochen hatte, begann ihr bitter aufzustoßen. Bitter, aber auch stark genug, um ihr die Augen für die Wahrheit zu öffnen. Nach einem kurzen, lauten Streit schlug sie die Tür hinter sich zu und verließ das Hotel, in dem Gautruche allein verrotten mochte. Ihr Leben, so sagte sie sich, war noch nicht vorbei.

 

Sie nahm die Gewohnheit an, samstagnachts, wenn Edmond und Jules im Theater waren oder bei Freunden feierten, durch die Stadt zu streifen, und fühlte sich dabei wie ein neuer Mensch. Es waren um diese Zeit stets Männer unterwegs, die auf ein kurzes Abenteuer aus waren. Frauen – außer Huren – sah man kaum je allein. Es gab geschminkte Männer, die nach Männern Ausschau hielten, junge und alte. Männer, die mit ein paar Francs für ihre Dienste bezahlt wurden, gab es auch.

Sie ließ sich schon am ersten Abend ihrer neu entdeckten Freiheit darauf ein. Je ungenierter sie den Unbekannten beim Nachtspaziergang in die Augen blickte, desto eher konnte sie damit rechnen, dass sie sich umdrehten, ihr folgten, sie einholten, sich bei ihr einhakten, sie küssten, sie aufforderten. Dass sie nichts kostete, schien man ihr von weitem anzusehen.

Wer sich von ihr aufgefordert fühlte, mochte ihr folgen.

 

Keiner dieser Männer hielt dem Vergleich mit Alexandre stand, doch sie genoss es, begehrt zu werden. Ihre Verehrer waren alt, hässlich, ungepflegt, sie rochen nach Schweiß und hatten Flöhe, doch Rose ignorierte es und freute sich über die Befriedigung, die sie ihnen verschaffte. Es war nicht viel, was sie zu tun hatte, wenn sie in einer dunklen Gasse oder hinter einem Tor ihre Röcke hob, oft war nicht mehr als eine kurze Handreichung nötig, deren Ergebnis sie an bröckelndem Mauerwerk oder an ihrem Taschentuch abwischte.

Viel mehr als ihre Freimütigkeit war offenbar nicht nötig, um Männer zu erregen, die sich lediglich in der Heftigkeit ihrer Bewegungen und in der Zeitspanne unterschieden, in der sie zum Ende kamen.

Manchmal wünschte sie sich, Alexandre würde sie verdächtigen, aber natürlich zerbrach er sich nicht den Kopf über ihren Lebenswandel. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, ihr heimlich zu folgen. Hätte sie ihm ihre nächtlichen Ausschweifungen gestanden, hätte er sie bloß ausgelacht.

Von ihm überrascht zu werden, blieb also ein Wunsch, der so wenig in Erfüllung ging wie ihre Hoffnung, ihn ganz aus ihren Gedanken streichen zu können; auch wenn sie ihn seit vielen Wochen nicht gesehen hatte, geisterte er doch weiter darin herum. Sie hörte von seinen Siegen und Niederlagen bei den öffentlich ausgetragenen Boxkämpfen, besuchte selbst aber keinen.

 

Manchmal träumte sie davon, eine ganze Garnitur solcher Arme sei in ihrem Zimmer aufgereiht wie die Holzmodelle in Alexandres Werkstatt. Sie drohten ihr unbeweglich, doch rechnete sie jeden Moment damit, dass sie sich zu regen begannen.

Als der Vater tot war, lagen seine Arme abgemagert und fremd – wie Spinnenbeine – auf dem weißen Tuch, mit dem man seinen Leichnam zugedeckt hatte. Es war das beste Laken im Haus, hatte die Mutter unter Tränen versichert, versehen mit einem Monogramm, dessen ineinandergreifende Buchstaben Rose nicht entziffern konnte. Es hatte ihr widerstrebt, den Toten anzufassen, doch ihre Tanten, die Schwestern des Vaters, hatten sie gezwungen, ihre Hand auf seine Hand zu legen, die sie so oft geschlagen hatte. Leicht hätte sie ihm jeden Finger brechen können.

Bei dem Gedanken, dass die Mutter nicht um den Vater, sondern um das Laken weinte, das sie für ihn hergeben musste, hatte sie das Lachen nur mit Mühe unterdrücken können.

 

Nachdem sie von den fremden Männern genug hatte, wandte sich Rose erneut Alexandre zu, der inzwischen von zu Hause ausgezogen war, ohne ihr zu sagen, wo er jetzt wohnte. Sie lauerte ihm vor seiner Werkstatt auf und stellte ihn zur Rede. Sie forderte das Geld zurück, das sie ihm ausgeliehen hatte, nur um irgendetwas zu sagen, obwohl sie wusste, dass er ihr nie auch nur einen Centime zurückzahlen würde. Wie erwartet lachte er.

Sie folgte ihm nach Feierabend, als er seinen Laden schloss und sich in seine neue Wohnung begab. Längst hatte sie Übung, Menschen abzupassen und zu verfolgen. Sie redete sich ein, sich glücklich zu schätzen, ihre Schritte in seine Fußstapfen zu setzen. Sie gingen eine halbe Stunde bis nach Batignolles, und er drehte sich kein einziges Mal um, unbeobachtet und frei, wie er sich fühlte. Sie war der Schatten dieses Mannes, und wie ein Schatten huschte sie hinter ihm her.

Nun harrte sie manchmal stundenlang vor seinem Haus aus, bis er es verließ, und hielt erneut mit ihm Schritt. Sie ging hinter ihm her wie ein Tier, das eine Fährte aufnimmt, und schien dabei noch zu schrumpfen. Sie ging, bis sie ihn aus lauter Erschöpfung aus den Augen verlor.

Verließ er das Haus nicht, beobachtete sie die Frauen, die ein und aus gingen, und folgte ihnen, sie verdächtigte jede.

Verfluchte Liebe, die sie wie an einer unsichtbaren Kette

Welch eine Genugtuung, wenn sie ihn einmal tatsächlich mit einer Unbekannten am Arm überraschte. Ihr Lachen wehte an ihr vorbei, dazu ein unschuldiges Wölkchen Lavendelparfum. Die Frauen waren alle jünger als sie, und wenn nicht das, dann hübscher.

 

Am 21. November 1861 wartete sie stundenlang vor einem Cabaret, in dem er sich mit Kumpanen und Mädchen betrank und vergnügte, die Fensterläden waren geschlossen, doch wie an jenem Abend, als sie Adèle gefolgt war, presste sie ihr Ohr an den Laden und erhaschte Bruchstücke von dem, was drinnen gesprochen wurde. Sie merkte nicht, dass der Regen, der eingesetzt hatte, ihre Kleider, die immer schwerer wurden, allmählich durchtränkte.

Sie wartete wie ein Spieler, der sich vom Spieltisch nicht losreißen kann, bevor er nicht sein ganzes Geld verloren hat.

Jemand sang und wurde unterbrochen.

Wie lange stand sie da und wartete und wurde nass bis auf die Haut? Sie blieb. Wenn einer der Gäste das Cabaret verließ, machte sie sich unsichtbar, indem sie sich abwendete; wer die dunkle Gestalt sah, hielt sie für eine Obdachlose, zu müde, um zu betteln.

Als sie einem jungen Paar hinterherblickte, das sich unter einem hastig aufgespannten Regenschirm rasch entfernte, spürte sie plötzlich etwas Warmes in ihrer Hand, als

Kurz darauf stand Alexandre, der Rose nicht bemerkte, in der Tür und rief nach dem Hund, der einen Atemzug lang zögerte und zu Rose aufsah, bevor er seinem Herrn folgte. Erst da bemerkte sie, in welchem Zustand ihre Kleidung war, und machte sich endlich auf den Heimweg.

Zwei Tage später war sie weiß wie Schnee, zitterte am ganzen Körper, klapperte mit den Zähnen und glühte vor Fieber, was selbst Edmond und Jules nicht entging, die diesen Tag später in ihren Gesprächen als den Beginn von Roses Ende bezeichneten. Noch rechnete niemand mit dem tödlichen Ausgang.

Edmond ließ nach dem Arzt rufen, obwohl sich Rose dagegen sträubte. Auch nach dessen Besuch weigerte sie sich, im Bett zu bleiben. Tagsüber zu liegen sei wie Sterben, meinte sie, und ihr Lachen ging in ein raues Husten über, das nicht aufhören wollte. Doktor Simon hatte sie abgehorcht und ihr abführendes Crotonöl verschrieben, er allein wusste, wozu das gut sein sollte; er hatte nicht mit letzter Sicherheit zu diagnostizieren vermocht, woher die Beschwerden in Roses Brust rührten, ein Schmerz, der ununterbrochen von innen an ihre Brust hämmerte. Drei Tage später horchte er sie von Neuem ab und bemerkte, es sei ein Wunder, dass sie die Brustfellentzündung – denn um nichts anderes handelte es sich, wie er nun meinte – überlebt habe.

»Eine Pferdenatur, Ihr Mädchen«, lobte er sie gegenüber den Junggesellen, in einem Ton, als sei es deren Verdienst.

Sie arbeitete wie gewohnt, auch wenn sie bereits nach der Zubereitung des Frühstücks so erschöpft war wie früher erst am Abend. Am helllichten Tag schlief sie auf dem Stuhl neben dem Herd ein, so fest und tief, dass sie nicht merkte, wenn Jules oder Edmond sich in die Küche verirrten. Ihre Hände hingen wie Seile an ihr herunter. Dann riss sie der Husten aus dem Schlaf.

Eines Nachts wurde der Husten wieder schlimmer, ihr war, als müsste sie ersticken. Den Arzt schienen die neuerlichen Anfälle nicht zu beunruhigen, sie hätten, so erklärte er bei seinem nächsten Besuch, durchaus heilende Kraft. Die Lunge kuriere sich durch den Husten selbst, sagte er. Die Lunge sei, insbesondere bei Frauen, ein robustes Organ.

»Schwindsucht? Auf keinen Fall.«

Er sprach nicht zu Rose, sondern zu ihren Arbeitgebern, zumal sie desinteressiert wirkte. Ihre Brustfellentzündung sei noch nicht ausgeheilt.

»Rückfälle sind kein Grund zur Beunruhigung. Im Gegenteil.«

Sie hustete ihm ins Gesicht, zu kraftlos, um sich umzuwenden.

»Kein Blut, sehen Sie? Noch eine gute Nachricht«, sagte Doktor Simon. »Das wird schon. Kein Blut, kein Grund zur Sorge.«

Die Küche war nicht der Ort, um schneller gesund zu werden. Der beißende Qualm der Braunkohle, mit der sie den Herd unterhielt, bereitete ihr Kopfschmerzen und Brechreiz. Der Ruß, den sie einatmete, ließ sich nicht völlig aushusten. Flach zu atmen nützte wenig, sie glaubte, erwürgt zu werden, und hustete fast bis zum Erbrechen. Aus dem Ofenrohr schlug der Rauch in den Ofen zurück und erfüllte die Küche. Halb betäubt, wie die bedauernswerten Büglerinnen, die tagelang im Kohlenebel standen, riss sie das Fenster auf, beugte sich weit hinaus und atmete die eisige Luft ein, die messerscharf in ihre Luftröhre schnitt.

Doch sie blieb auf den Beinen, ließ sich keine Schwäche anmerken und legte sich erst ins Bett, wenn die Tagesarbeit beendet war.

Sie zeigte sich im Viertel, um bei ihren Gläubigern nicht als verschwunden zu gelten, was diese leicht dazu hätte bringen können, bei den Goncourts vorzusprechen und sich nach ihr zu erkundigen, was wiederum deren Misstrauen geweckt haben würde. Dies alles bedachte Rose. Sie handelte danach, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Aber das Fieber und der Husten ließen sich davon nicht beeindrucken.

Der Winter verrann schleppend und zäh. Kaum betrat Rose die nasse Straße, hatte sie eiskalte Füße. Doch sie erledigte, was zu erledigen war, Besorgungen, Einkäufe, Präsenz, sie blieb die gehorsame Magd. Das tägliche Leben, das sie führte, rechtfertigte ihren Platz in der Welt.

Nachts lag sie wach und zählte bis fünfzig und zurück,

Wenn der Morgen dämmerte, war ihr übel vor Erschöpfung. Die Aussicht, gleich aufstehen und ihre Arbeit aufnehmen zu müssen, brachte sie fast um. Aber sie stand auf, und niemand bemerkte an ihr auch nur die geringste Veränderung. Nichts würde sie umbringen als der Sensenmann.

Wie kalt es auf dem Dachboden auch war, immer öfter setzte sie sich auf den Bettrand und betrachtete im Schein der Kerze ihren mageren Körper im schmalen Spiegel, der an der Wand gegenüber lehnte; das Erbstück einer Vorgängerin, in der sich schon mehr als eine Magd gespiegelt hatte. Das Fenster der Lukarne war schwarz vom Ruß aus den Kaminen der umliegenden Häuser und ließ kein Licht durch; der Riss, der durch die gesprungene Scheibe lief, war kaum zu sehen.

Wenn sie sich betrachtete, spürte sie Alexandre hinter sich. Er war da, wenn sie die Augen schloss. Sein warmer Atem traf ihren kalten, steifen Nacken, sein Blick lag auf

Manchmal schlief sie im Sitzen. Sie erwachte zerschlagen, erstarrt in der Kälte und ähnelte so einer unvollendeten Statue, deren Brüste noch nicht geformt waren, weil der Steinmetz das Interesse an ihr während der Arbeit verloren hatte.

Sie stand auf, schlug das Eis in der Waschschüssel mit ihren rissigen Fingerknöcheln auf und wusch sich hastig; zitternd trocknete sie sich ab und kleidete sich an, alles in Eile, alles im Halbdunkel, vom flackernden Schein einer Kerze beleuchtet, dem einzigen Luxus, den sie sich leistete, dem letzten, den sie sich leisten konnte außer der Vorstellung, Alexandre wäre nicht aus ihrem Leben verschwunden. Sein Schatten war noch da, an die Wand geheftet wie eine unfertige Skizze Gavarnis, dem Freund der Goncourts, der die Brüder oft besuchte und stets missmutig wirkte, wenn sie ihm Mantel und Hut abnahm; doch unfreundlich war er nicht. Einmal hatte er sie gebeten, ihm die Hand entgegenzustrecken, zu öffnen und ganz still zu halten. Er hatte ein Gesicht auf ihren kleinen Handteller gemalt, einen winzigen Spiegel, denn die Zeichnung zeigte ihr Gesicht. Tagelang hatte sie die Hand geschont, bis die Tinte erst verblasste und dann verschwand.

Alexandres warmer Atem wurde von der Kälte

Gleich würde sie den Brüdern das Frühstück bereiten.

Sie hörten sie die Treppe hinuntereilen und drehten sich in ihren Betten um. Der Husten ließen keinen Zweifel daran, dass sie es war.

Die ersten warmen Frühlingstage brachten etwas Besserung, die Kalte Sophie jedoch einen Rückfall, Rose blieb eine leichte Beute der Naturgewalten.