Die Natur war Jules’ erklärter Feind, das Landleben, das fand auch Edmond, ein Friedhof, ein niemals ruhender Acker, ein Feld, ein Wald, der dem Kreislauf der Natur unterworfen und dem Menschen in fast jeder Hinsicht überlegen war, denn sie war immer da; selbst wenn der Mensch Hand anlegte und sie veränderte, bestellte, umformte, bepflanzte, blieb die Natur stärker, vom Menschen vielleicht niedergerungen, seinen Vorstellungen angepasst, aber niemals von ihm vollständig besiegt, kein Sklave, sondern ein immerwährender Herr, selbst im Winter schlief sie nicht, sondern sammelte neue Kräfte für ihre Auferstehung.

Die grüne Erde war wie ein unüberschaubarer, endlos sich erstreckender Friedhof, endlos bis ans Meer, in der die Erde sich unsichtbar in der unerreichbaren Tiefe fortsetzte. Sie nahm den Menschen mit offenen Armen auf und verschlang ihn, sobald sich ihr eine Gelegenheit bot, ein geduldig mahlender Menschenverzehrer und Wiederkäuer. Sie hatte Zeit. Sie weidete sich an ihm, verschlang und spuckte ihn Stück für Stück in neuer Gestalt wieder aus. Bäume, Pflanzen, Gras, Kraut und Unkraut wuchsen aus allem empor, was Aas war, aus allem, was tot war, aus dem Vieh, aus den Menschen, die in die Erde versenkt wurden, und auch aus jenen, die auf ein kühles Grab verzichten mussten wie die unglückseligen Soldaten, die man auf den Schlachtfeldern zurückließ; die Natur holte sie alle, Vogel,

Für Jules war nur lebendig, was seine Seele nicht berührte: das Kleid einer Dame, der Schritt eines Mädchens, ein gemaltes Porträt aus vergangener Zeit, eine Erinnerung, ein originelles Wort aus dem Mund eines Mannes, der untröstliche Seufzer eines Kindes.

Die Natur hingegen war abscheulich.

 

Da sich die Brüder von einem sommerlichen Landaufenthalt eine Besserung von Roses Zustand erhofften, machten sie ihr das Angebot, sie nach Bar-sur-Seine zu begleiten, wo sie einige Wochen bei ihrer Cousine Augusta verbringen würden, der Tochter ihres Onkels väterlicherseits, deren Mann Léonidas Labille ein wohlhabender Großgrundbesitzer war.

Ihr Vorschlag kam einem Befehl gleich, der keinen Widerspruch duldete, und Rose nahm ohne Zögern an. Allein und ohne Beschäftigung in Paris darauf zu warten, dass Jules und Edmond zurückkehrten, erschien ihr so wenig verlockend wie eine Reise zu ihrer eigenen Familie, zu der sie längst jede Verbindung abgebrochen hatte; sie mied selbst die Schwester, die in Paris lebte, die sich ihrerseits nicht

Edmond bemerkte, dass auf Roses Augen ein feuchter Glanz lag, als sie sich für die Einladung bedankte. Gefühlsausbrüche waren sonst nicht ihre Art. Sie hatte vermutlich wieder Fieber.

»Uns liegt viel daran, dass du wieder gesund wirst. Dein Husten ist beängstigend und dauert schon viel zu lange.«

Sie öffnete den Mund, aber dann fehlten ihr die Worte.

»Du sollst uns erhalten bleiben. Die Landluft wird dir guttun.«

Da die Labilles genug Personal hatten, das sich um die beiden Cousins kümmern konnte, war es Roses einzige Pflicht, zu genesen. Sie musste schwören auszuruhen.

Sie sahen sie manchmal stundenlang nicht, aber sie hörten sie husten. In Paris war ihnen ihr beharrlicher Husten kaum aufgefallen; doch bei den Labilles, wo sie im Stockwerk unter ihr schliefen, gab es keine Möglichkeit, ihn zu ignorieren, das Haus war zu hellhörig.

Wenn Roses Anfälle sich in den Morgenstunden in immer kürzeren Intervallen manifestierten, war nicht mehr daran zu denken, wieder einzuschlafen. Jules, dessen Zimmer direkt unter ihrem lag, war zu höflich, seine Cousine um ein anderes Bett in einem anderen Flügel des Hauses zu bitten.

Der Husten klang gepresst, als würde sie gewürgt; sie mochte Widerstand leisten, doch sie hatte keinen Erfolg, der Husten war mächtiger als ihre hilflosen Versuche, ihn aus Rücksichtnahme gegenüber den anderen Hausbewohnern zu unterdrücken. Er war kein Eindringling, er war längst ihr treuer Begleiter, und nichts gab Anlass zur Hoffnung, dass er sich je verabschieden würde.

Dass sie an diesem Husten sterben würde, wurde beiden immer klarer. Der Acker wartete bereits auf sie, der Boden war bereitet. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das Laken der Natur sie bedecken würde.

Die Krankheit arbeitete sich langsam vor. Bei anderen mochte sie unauffälliger vorgehen, sich unbemerkt vorantasten, um dann zuzuschlagen, wenn man am wenigsten damit rechnete, hier kündigte sie sich unverschleiert an.

»Ich könnte sie umbringen, ich halte diesen Husten nicht mehr aus«, sagte eines Morgens Jules zu Edmond, außer sich.

Roses Bewegungen waren nicht mehr dieselben wie früher, ihr Blick war nicht mehr der gleiche, ihre Physiognomie hatte sich verändert. Wenn Jules und Edmond aus der Ferne beobachteten, wie sie arbeitenden Bauern oder spielenden Kindern, wachsamen Hunden und dösenden Kühen zusah, fanden sie, sie wirke verloren und von der Welt und den Menschen vergessen, und es erstaunte sie nicht, dass die anderen sie wie Luft behandelten. Die Bauern sprachen nicht mit ihr, und die Kinder gingen nicht auf sie zu. Die Hunde sprangen nicht an ihr hoch. Sie mieden sie.

Es war, als legte sie schrittweise ab, was ein menschliches Wesen umhüllt und ihm die Persönlichkeit verleiht, die sich nun aufzulösen begann. Sie fiel von ihr ab, wie welkes Laub von einem herbstlichen Baum. Die Krankheit lichtete aus und holzte ab, was Rose einst stark gemacht hatte. Die

Der Mensch, der ihnen lieb geworden war, verglühte und erlosch vor ihren Augen. Das Unbekannte griff nach Rose, fremdartig und eisern.

Eines Abends saßen die Brüder – Edmond war eben vierzig geworden, Jules einunddreißig – auf einer alten Mauer in Chaumont und blickten in eine verglimmende, glasklare Landschaft, in der noch ein Überrest des vergangenen Tages der aufziehenden Nacht standhielt; das entschwindende Licht schien seine Seele zurückgelassen zu haben. Ein Kind, das neben ihnen stand, betrachtete wie sie den verlöschenden Himmel. Sie wussten so wenig, was es dachte, wie sie es von sich selbst wussten, weil das Schauen stärker war als der Gedanke an das, was sie sahen. Das Kind, ein Junge, wendete sich zu ihnen und blickte sie an. Jetzt erst bemerkten sie, dass seine Augen milchig waren.

Statt den Jungen zu fragen, ob er blind sei oder etwas sehe, schwiegen sie einmütig. Sie sprachen auch später nicht darüber und hielten zwar ihre Begegnung fest, wie sie fast alles festhielten, aber die toten Augen erwähnten sie nicht.

 

Am Morgen des 31. Juli 1862, als sie nach Paris zurückgekehrt waren, bestellten sie den Arzt, Doktor Simon, der ihnen nach Roses Untersuchung sagen sollte, ob sie leben oder sterben würde.

Beide saßen im Salon, während der Arzt Rose, die sich nicht in der Küche ausziehen wollte, in ihrer Dachkammer aufsuchte.

Der Arzt zögerte, dann blickte er langsam und gefasst von einem zum anderen.

»Es ist nur eine Frage der Zeit. Ein paar Wochen, ein paar Monate.«

Er hatte tief Atem geholt, um das herauszubringen.

»Die Krankheit ist sehr weit fortgeschritten und schneller, als ich dachte. Einer der beiden Lungenflügel arbeitet nicht mehr, und bald wird auch der andere seine Tätigkeit einstellen. Es ist aussichtslos. Es ist nichts zu machen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine günstigere Auskunft geben kann. Beten Sie, dass die Schmerzen nicht schlimmer werden, denn auch da kann ich Ihnen leider keine Hoffnungen machen. Und schauen Sie sich bald nach einem neuen Mädchen um, denn lange wird Rose es ohne fremde Hilfe nicht mehr schaffen. Ersparen Sie ihr die Demütigung, dass sie vor Ihren Augen zusammenbricht.«

Als Rose die Wohnung wieder betrat, ließen sie sich nichts anmerken. Ob Doktor Simon sie über ihren Zustand aufgeklärt hatte, wussten sie nicht. Sie hielten sie für ahnungslos.

»An die Arbeit, an die Arbeit«, murmelte Rose und band sich die Schürze um, denn schließlich war es bereits elf.

 

Zu spät, sie hatten es ja geahnt. Keine Hoffnung, nur eine Frage der Zeit. Der Gedanke, Rose zu verlieren, nahm allmählich Gestalt an.

Am liebsten wären sie auf der Stelle aus der Wohnung

 

Gleich nach dem Mittagessen, dessen farb- und geschmacklose Konsistenz gut zu ihrer Verfassung passte, wanderten sie tatsächlich eine Stunde lang ziellos durch die Stadt, wie es sonst nicht ihre Art war. Sie kamen an Madame Colmants Laden vorbei, ohne die geringste Ahnung von all den Dramen zu haben, zu denen der Sohn der Besitzerin die Stichworte geliefert hatte.

Erschöpft und schwitzend ließen sie sich schließlich vor einem Café nieder und bestellten Mokka und Kaffeegranité, von denen sie sich Stärkung und Kühlung erhofften. Als sie aus lauter Gewohnheit eine bereits gelesene Zeitung aufschlugen, die unordentlich gebündelt auf dem Nebentisch lag, fiel ihr Blick zufällig auf die Auflösung des letzten Bilderrätsels: »Gegen den Tod kann man nicht Berufung einlegen.«

 

Sie überwanden ihren Abscheu vor Roses abgemagertem Körper und setzten ihr auf Anraten des Arztes Schröpfköpfe auf den Rücken. Ihre Haut glich einer Papierhülle, die ihre Knochen notdürftig verhüllte. Rose wehrte sich nicht, wie sie insgeheim gehofft hatten, sondern ließ sie gewähren.

Also erhitzten sie alle drei Tage die Schröpfkugeln mit brennenden Papierschnipseln, die Edmond auf den elenden Körper drückte, dessen Anblick ihn und seinen Bruder entsetzte. Die Wirbelsäule erinnerte sie an eine Reihe

Jules litt Qualen. Edmonds Herz stockte, seine Hände zitterten. Entsetzt sahen sie zu, wie die dünne Haut unter den Glaskugeln zu hühnereigroßen Blasen anschwoll. Doch was sie befürchteten, trat nicht ein, die Haut platzte nicht.

»Danach wird es mir besser gehen. Wenn das vorbei ist, geht es mir besser«, stöhnte Rose und bedankte sich in einem fort. »Ich werde das Leben genießen. Danke.«

Sie sagte Dinge, die nie zuvor über ihre Lippen gekommen waren.

Sie lag da wie eine ausgezehrte kapitolinische Wölfin, die Romulus und Remus gläserne Zitzen darbot, dem Hungertod nahe.

Sie fanden keine Worte für das, was sie in diesen Tagen fühlten. Aber sie kannten den Grund. Niemand hatte ihnen je nähergestanden als Rose. Nicht ihre Mutter, nicht einmal ihre alte Freundin Maria, die sie noch immer besuchte, nun öfter auch, um nach Rose zu sehen.

In die lähmende Melancholie mischte sich der Widerwille gegen alles Alltägliche. Ständig erwarteten sie eine Verschlimmerung von Roses Zustand, denn Hoffnung hatten sie keine mehr; wenn sie morgens das Frühstück servierte, waren sie genauso niedergeschlagen, als wäre sie nicht erschienen. Kündigte sich ein Hustenanfall an, huschte sie blitzschnell aus dem Zimmer.

Als habe ein Maler seine eben noch farbige Leinwand in Grisaillemanier übermalt, hatte sich die Welt vor ihren Augen entfärbt. Auf der Straße nahmen sie nur die Schritte der Passanten und das Geräusch der über das Pflaster

Sie froren trotz der sommerlichen Hitze. Auf was sie auch blickten, es wirkte aussichtslos und abgestorben, und sie hatten kein Verständnis dafür, dass ihre Umwelt es anders sah. Gingen sie in den großen Parks spazieren, wirkten diese auf sie wie Krankenhausgärten; die spielenden Kinder machten auf sie den Eindruck von aufgezogenen Automaten, die richtungslos herumliefen.

Sie waren froh, dass Maria manchmal zum Essen blieb. Sie hatte inzwischen die Aufgabe übernommen, Rose zu schröpfen, obwohl auch sie nicht mehr an eine Besserung glaubte, wie sie Jules und Edmond zu verstehen gab.

»Es nimmt bald ein Ende, wie der Doktor schon sagte«, meinte sie und blickte der abgemagerten Gestalt nach, die das Geschirr hinaustrug. Hinsichtlich des Schröpfens sagte sie:

»Man tut es, um sich selbst zu stärken, so lange, bis man merkt, dass es ihr unnötige Schmerzen bereitet.«

»Firlefanz ist das«, erwiderte Edmond und versuchte den Gedanken an Roses malträtierte Haut beiseitezuschieben.

Maria legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen. Doch Gelassenheit wollte sich nicht einstellen.

»Ich bin nervös, schrecklich nervös.«

Sie bemerkte, wie blass Jules war und wie wenig er sprach. Roses Verlöschen bedrückte sie. Sie versuchte, ihre einstigen Liebhaber zu trösten.

»Sie weiß zum Glück nicht, was sie erwartet. Sie ist wie ein

Auch sie bestand darauf, dass die Brüder sich nach einer neuen Magd umsehen mussten.

Sie würde bei der Suche behilflich sein.

 

Erwartungsgemäß gesellte sich zur chronischen Lungenkrankheit eine Bauchfellentzündung. Rose verließ ihr Zimmer nun nicht mehr und stand nur auf, um ihre Notdurft zu verrichten. Die Bauchschmerzen waren unerträglich, bei jeder Bewegung zuckte sie zusammen, sie konnte weder auf dem Rücken noch auf der Seite liegen.

»Der Tod ist also nicht genug, das arme Wesen muss auch noch leiden? Ihre Leiden sind kaum auszuhalten. Wozu das? Warum?«, fragte Edmond.

Es hatte den Anschein, als vereinten sich sämtliche Schmerzen, von denen ihre Organe betroffen waren, zu einem höllischen Finale.

»Sade erklärt uns Gott«, sagte Edmond.

Maria sagte: »Du lästerst Gott!«

Edmond antwortete: »Gott lästert Rose. Gott ist de Sade geworden. Es ist nicht auszuhalten.«

Er stand auf, warf die Serviette neben seinen Teller – er hatte ohne Appetit kaum etwas gegessen – und verließ das Speisezimmer. Jules folgte ihm, nachdem ihm Maria einen Blick zugeworfen hatte. Als ob er seinem Bruder nicht ohne diese schweigende Aufforderung zur Hilfe geeilt wäre.

Eher hatten sie damit gerechnet, dass Rose sie hinüberbegleiten würde, als dass sie Zeuge ihrer letzten Stunde werden müssten.

Doktor Simon überzeugte die Brüder davon, dass Rose ins Krankenhaus gehörte. Sie weigerte sich aber, in Doktor Antoine Dubois’ Hospital in der Rue du Faubourg Saint-Denis überführt zu werden, wie man ihr vorschlug.

»Nein, auf keinen Fall! Dort wartet der Tod!«

Jahre zuvor hatte sie Edmonds kranke Amme an diesem unseligen Ort besucht. Sie war gestorben. Sie wollte nicht sterben.

Am nächsten Tag, dem 11. August 1862, warteten Edmond und Jules in ihrer Wohnung ungeduldig auf Doktor Simon, der ihnen die Überweisung ins Krankenhaus Lariboisière überbringen sollte. Rose war regelrecht aufgeblüht, als sie ihr am Abend zuvor versichert hatten, dass sie dort Aufnahme finden würde; offenbar betrachtete sie diesen Umstand als entscheidenden Schritt zu ihrer vollständigen Genesung. Wie sie am Morgen erzählte, hatte sie danach die erste ruhige Nacht seit Tagen verbracht. Sie war hoffnungsvoll und guter Dinge, und die Brüder taten alles, sie darin zu bestärken.

Gegen zwei Uhr nachmittags erschien endlich der Arzt mit dem erforderlichen Dokument. Edmond ging nach

Das neue Dienstmädchen – Claudine oder Clothilde – half ihr auf und kleidete sie an, doch kaum war sie auf den Beinen, wurde sie leichenblass. Edmond fürchtete, sie würde auf der Stelle umkippen, doch sie hielt sich aufrecht. Sie schwankte, aber sie fiel nicht. Ihr Gesicht sah aus, als habe man Asche darüber gestreut.

Edmond und das neue Mädchen begleiteten Rose nach unten in die Wohnung. Im Esszimmer zog sie unter großen Anstrengungen ihre Strümpfe an. Jules und Edmond erschraken beim Anblick ihrer Waden, die nicht dicker waren als die Beine des Stuhls, auf dem sie saß. Sie wirkte fahrig, als habe sie die Kontrolle über die richtige Abfolge ihrer Bewegungen verloren, hielt immer wieder inne und schien angestrengt zu überlegen, was als Nächstes zu tun sei, während sie sich bemühten, all das zu übersehen.

In der Wohnung herrschte Stille wie nach einem Begräbnis, doch die Tote war noch am Leben. Jules balancierte seinen Stock auf den Knien, bis er ihm entglitt und auf dem Boden aufschlug.

Jules, dessen Gedanken zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen heute und morgen, zwischen Gegenstand und Schemen hin und her sprangen, sah sie als Geist aus ihrem gebrechlichen Körper wie aus einer Schlangenhaut steigen und gelblich glimmend von Zimmer zu Zimmer schweben. Sie berührte den Esstisch, sie betastete den Herd, sie strich über die Decken und Kissen ihrer Betten, sie fuhr sich durchs silbrige Haar, das sich allmählich

Das neue Mädchen hatte bereits ein Bündel mit etwas Leibwäsche, einem Zinnteller, einem Trinkglas und einer Tasse gepackt, mehr Dinge würde Rose im Krankenhaus nicht brauchen.

Rose betrachtete das Esszimmer, als wollte sie es sich einprägen. Es waren die Augen einer Sterbenden. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel – leiser als sonst –, war es ein Abschiedsgeräusch.

Im Erdgeschoss angekommen, setzte sich Rose auf die unterste Treppenstufe und atmete schwer. Sie begann zu husten. Der Husten hörte nicht auf.

Um sie abzulenken und das Husten zu übertönen, erzählte der dicke Portier einen Witz, den außer ihm niemand komisch fand, und prophezeite Rose, sie werde in sechs Wochen wieder gesund sein.

»Gesund und munter und wieder daheim«, sagte er fröhlich.

»Sechs Wochen?«, fragte Rose zwischen zwei Anfällen, als ob sechs Wochen viel zu lang wären.

 

Sie stiegen in die Kutsche und fuhren los. Um nicht von der Bank zu rutschen, hielt Rose den Türgriff umklammert und zog sich immer wieder daran hoch. Zwischen halb geschlossenen Lidern blickte sie stumm den vorbeiziehenden Häusern nach. Weder Jules noch Edmond, die sie gemeinsam mit dem neuen Hausmädchen ins Krankenhaus begleiteten, hatten eine Vorstellung davon, woran sie jetzt dachte.

Während einer Viertelstunde kritzelte der Angestellte ein Dutzend Formulare voll, deren Briefkopf ein religiöses Symbol zierte.

Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung von Rose, die nun gänzlich abwesend wirkte.

 

Edmond folgte Jules zur Kutsche, die sie hatten warten lassen. In diesem Augenblick brach Jules’ ganzer Schmerz hervor. Beim Anblick der leeren Kutsche, in der Rose eben noch gesessen hatte, begann er zu weinen.

»Sie ist fort!«

Der Kutscher wunderte sich wohl, als er das Schluchzen in seinem Rücken vernahm, drehte sich aber aus Taktgefühl nicht um.

 

Zwei Tage später fuhren sie wieder zum Krankenhaus. Rose lag ruhig in ihrem frisch gemachten Bett und sprach davon, in spätestens drei Wochen entlassen zu werden, schon jetzt fühle sie sich gestärkt und erstarkt, und bis dahin wäre sie völlig geheilt. Aufgekratzt schilderte sie ihnen die

 

Zwei Tage später, am 15. August, freuten sie sich schon mittags auf die erwünschte Ablenkung von ihren Sorgen um Rose. Sie wollten sich während des großen Feuerwerks am Sankt-Napoleons-Tag unter die Leute mischen, wo sich ihr Kummer im unbeschwerten Vergnügen der anderen in Luft auflösen würde, so hofften sie zumindest. Mit dem Volk vereint, würden sie für ein paar Stunden mit der Menschenmenge verschmelzen.

Doch noch während des Feuerwerks stellten sie fest, dass es ihnen nur kurzfristig Zerstreuung und nicht die geringste Aufheiterung bot. Die allgemeine Ausgelassenheit, der sich die Menschen hingaben, färbte nicht auf die Junggesellen ab. Nur das Besondere, Unverwechselbare konnte sie erheitern, nicht die Volksmenge, nicht das Feuer am Himmel und schon gar nicht der künstliche Donner, der es begleitete.

 

Am nächsten Morgen klingelte es um zehn an ihrer Tür. Das Mädchen öffnete, davor stand der Portier, der Rose vor wenigen Tagen beim Abschied aufgemuntert hatte. Er übergab ihnen die Nachricht, die sie erwartet hatten.

»Eine traurige Nachricht«, sagte der Mann.

Die Briefmarke ließ keinen Zweifel daran, wo er abgeschickt worden war.

Rose war um sieben Uhr früh im Krankenhaus gestorben.

»Das arme Mädchen«, sagte Edmond, und Jules sagte: »Die Ärmste, unsere Rose.«

Nachdem sie bei ihrem letzten Besuch so lebhaft und zuversichtlich gewesen war, hatte sich das Schicksal nun schneller für das Ende entschieden, als sie erwartet hatten.

Sie entließen den Portier ohne Trinkgeld und baten das Mädchen, starken, ungesüßten Assam zuzubereiten – so dunkel und bitter wie ihre Stimmung.

 

Nun saßen sie schweigend im Salon und dachten wie alle Hinterbliebenen: Wir werden sie niemals wiedersehen, niemals wieder, niemals, niemals – unablässig wie ein Rad, das nicht mehr stehenbleiben wollte. Ein fortwährender Gedanke, der sich wie außerhalb ihrer selbst wiederholte, der um sie und um sich selbst kreiste wie ein Rondeau, um die wenigen Gedanken kreiste, in denen sie gefangen waren, die nun alle um Rose kreisten, um den Tisch kreisten, um die Vorstellung kreisten – die sie gar nicht abwenden wollten und auch nicht konnten –, sie wäre noch da, Rose würde gleich das Zimmer betreten und selbstverständlich den Tisch decken wollen, Rose würde sie auffordern, sich unverzüglich an den Tisch zu setzen, das Essen sei bereitet, es werde kalt, sie werde gleich servieren. Und so begann der Gedanke »Sie wird nie mehr servieren« zu kreisen, und es stimmte ja auch, sie würde nie mehr servieren, und sie

Tatsächlich aber kannten sie nur die vorzeigbaren Merkmale ihres Lebens. Welche Umstände zu ihrer Erkrankung und ihrem Tod geführt hatten, ahnten sie nicht.

»Was wusste sie nicht von uns, alles wusste sie von uns«, flüsterte Jules unter Tränen.

Sie erinnerten sich – sprachen sie es aus oder dachten sie es nur? –, dass sie Jules das Reifenspiel beigebracht und ihm Apfeltaschen zugesteckt hatte, wenn ihn ein Heißhunger auf Süßes übermannte, und dass sie mehr als einmal die halbe Nacht auf Edmond gewartet hatte, um ihn im Morgengrauen hinter dem Rücken seiner ahnungslosen Mutter ins Haus zu lassen, wenn er als Halbwüchsiger heimlich irgendwelche Bälle besuchte. Sie war wie eine unauffällige Gattin und Krankenschwester gewesen, sie hatte die Schlüssel zu jedem Schloss – außer dem zu ihrer Geldkassette – besessen, sie hatten ihr blind vertraut,

Ihre Körper waren Roses Hände so gewohnt gewesen wie die einer Geliebten oder Schwester, wie oft hatte sie sie abends, wenn sie noch am Schreibtisch saßen, leicht auf ihre Schultern gelegt, und mit welcher Umsicht hatte sie sie gepflegt, wenn einer von ihnen krank war? Rose hatte ihre Gewohnheiten und die Frauen gekannt, die bei ihnen verkehrten, zu Maria, der Hebamme, war die Verbindung bis zuletzt nicht abgerissen. Sie hatte Bemerkungen über ihre Mätressen, über deren Alter, Aussehen oder Herkunft stets unterlassen, sie aber auch nicht wie Luft behandelt, wenn sie ihnen in der Rue Saint-Georges begegnete.

Wie gut hätten ihnen ihre missglückten Speisen bis ans Ende ihrer Tage geschmeckt, wenn sie nur bereit gewesen wäre, länger zu leben. Doch nun war alles vorbei.

So saßen sie lange da, untröstlich wie Kinder, denen das Beste und Liebste geraubt worden war, unzertrennliche Brüder, deren Leben, wie jedes Leben, begrenzt war wie Roses Leben und die über diesem Gedanken ihre treue Magd zu vergessen suchten.

Aus ihrem Leben verschwunden, brachte nichts sie zu ihnen zurück.

Die freundliche Einladung, die sie von Prinzessin Mathilde Bonaparte erhalten hatten, sie an diesem Abend zu besuchen, kam ihnen als Ablenkung von ihren düsteren Gedanken sehr gelegen. Ein glücklicher Zufall.

 

In der Eisenbahn trafen sie im ersten Wagen auf ihren alten Freund Gavarni, der ebenfalls bei der Prinzessin

Das Schloss hatte äußerlich wenig von einem Palast an sich, und auch dem Interieur fehlte das herrschaftliche Flair. Sein einzigartiger Luxus bestand in der Behaglichkeit, die den Räumen innewohnte. Die Zimmer waren weiträumig und die vornehmlich türkisfarben bezogenen Möbel komfortabel. Kein einziges Kunstwerk zierte die Wände. Dort hingen stattdessen Körbchen, die mit Blumen gefüllt waren. Keinem Maler wurde dadurch der Vorzug gegeben. Der Salon ging in einen Wintergarten über, der den Blick auf ein schönes Rasenstück und einen schier endlosen Park freigab. Hier warteten sie gemeinsam mit Gavarni und weiteren Besuchern auf die Prinzessin, die sich noch in den oberen Gemächern aufhielt. Sie hatten Gavarni bereits während der Eisenbahnfahrt von Roses Tod erzählt. Er hatte sie ja oft bei ihnen gesehen und drückte ihnen sein Beileid aus.

 

Am Morgen des 17. August erledigten sie die notwendigen Behördengänge. Noch einmal begaben sie sich ins Krankenhaus und warteten im Empfangsraum. Jules machte Edmond auf Roses schmalen Schatten aufmerksam, der dort, wo sie gesessen hatte, noch immer lag, wie er behauptete, jetzt unbeweglich. Ein kalter Schauer ergriff ihn, und er tastete nach der Hand des Bruders, als wäre er vier und jener zwölf, als könnte er ihn vor dem Schlimmsten bewahren.

Der zuständige Angestellte fragte, ob sie den Leichnam sehen wollten, und sie nickten, ohne nachzudenken, und

Am entgegengesetzten Ende des Krankenhauses angelangt, klopfte ihr Begleiter an die Tür zum Auditorium für die Studenten. Eine Kreuzung aus Gladiator und Totengräber öffnete ihnen, bei dessen Anblick sie unwillkürlich an jene römischen Sklaven dachten, deren Aufgabe es war, die toten Kämpfer aus dem Circus zu schaffen. Sie schreckten instinktiv zurück.

Der Mann, dessen Muskeln seinen Kittel an allen Ecken und Enden zu sprengen drohte, bat sie, sich kurz zu gedulden, und verschwand; sie blieben stehen, doch je länger sie darauf warteten, dass die Tür sich wieder öffnete, desto mehr sank ihr Mut, sich dem Unbekannten zu stellen, das von Minute zu Minute immer deutlicher Gestalt annahm, die Form eines verstümmelten Körpers, den sie nicht wiedererkennen würden, einer Toten, deren Gesicht entstellt, deren Mund verzerrt war und die sich aus Abscheu vor sich selbst in eine dunkle Ecke verkrochen hatte. Als sich die Tür wieder öffnete, teilten sie dem Mann mit, sie würden jemanden vorbeischicken, und kehrten dem Ort, von dem sie fürchteten, er würde sie bis in ihre Träume verfolgen, den Rücken zu. Sie hatten hier nichts verloren.

Gegen ihre Gewohnheit bestiegen sie die erstbeste Kutsche und fuhren zum Rathaus, um die Sterbeurkunde abzugeben, wie es unumgänglich war.

Während sie im Rathaus Rosalie Malingres Ableben meldeten – seit ihrem Eintrag ins Geburtsregister war sie bestimmt von niemandem mehr beim Nachnamen genannt worden –, stürzte ein glückstrunkener Mann ins Amtszimmer, um auf dem Almanach den Namen des Tagesheiligen zu ermitteln, auf den er sein neugeborenes Kind taufen lassen wollte. Beim Vorbeigehen streifte sein Mantelsaum das Dokument, auf dem Roses Tod protokolliert wurde, wodurch es etwas hochgehoben wurde; es war, als werde das Papier durch einen letzten Atemstoß aus ihrem Mund bewegt.

Als die Brüder nach Hause zurückgekehrt waren, stiegen sie zur Dachkammer hinauf, um Roses Sachen auszusortieren; viel war es nicht, und kaum etwas erwies sich als brauchbar. Sie fanden wertloses Zeug, das unordentlich in die Kommode gestopft war und auf dem Boden herumlag, Wäsche und Kleider, vergilbtes Bettzeug, das Roses Nachfolgerin übernehmen würde, dunkle Locken in einem winzigen Kuvert, die an Schamhaar erinnerten, die sie verbrennen würden – und eine beachtliche Summe Geld, die sie nicht bei ihr vermutet hatten.

Sich in diesem Zimmer aufzuhalten war schmerzlich, und als sie im Bett Brotkrümel bemerkten, bedeckten sie sie mit einem Leintuch, das nun wie ein Leichentuch den Umriss einer unsichtbaren Toten verhüllte. Daraufhin begannen sie sich Gedanken über ihr Totenhemd zu machen.

Den Brief, in dem die Amme ihr Louisettes Tod hinterbracht hatte, fanden sie nicht.

Seit Wochen hatten sie mit Roses bevorstehendem Tod gelebt, damit gerechnet und darauf gewartet, sich fast wie Söhne um sie gesorgt und auch die traurigen Behördengänge erledigt. Nun stand das unwiderrufliche Ende bevor: die Bestattung, das Erdloch.

 

Gott war der Nachbar der sezierten Leichen. Die Kapelle lag direkt neben dem Anatomiesaal.

Die Kirche betrog beide, die Verstorbene und Gott, von dem die Brüder nicht wussten, ob Rose überhaupt an ihn geglaubt hatte.

Der Priester hatte ohne ihre Einwilligung vier weitere Särge mit Leichen aufstellen lassen, die nun unentgeltlich in den Genuss der Totenmesse kamen. Noch nicht einmal unter der Erde, hatte es schon jetzt den Anschein, als lägen die armen Seelen Seite an Seite in einem Massengrab. Großzügig wie dieses Verfahren war auch die Art, wie der Priester das kostenlose Weihwasser in der Kapelle verteilte. Jules glaubte Lavendelöl zu riechen, das der Geistliche dem Weihwasser beigemischt haben musste.

Endlich am offenen Grab angekommen, begann der Priester Verse zu psalmodieren, deren Bedeutung er seit seinem Studium vermutlich vergessen hatte.

Nachdem er den Segen gesprochen hatte, versenkten die Totengräber den Sarg an zwei Seilen in die Erde. Selbst für den schmalen Sarg war Rose zu klein. Ihr Körper schien darin hin und her zu rollen. Nach weniger als fünf Minuten war Rose für immer unter der Erde.

 

Ihr Tod beherrschte ihre Gedanken weit über die Beerdigung hinaus.

Einige Tage später schlossen sie die Sache ab, wie Edmond sagte.

Denn zwischen ihrem Besuch bei Rose am Donnerstag und ihrem Tod gab es etwas Unbekanntes, das ihnen nicht aus dem Sinn gehen wollte. Es war das Widerspenstige und Unfassbare der Agonie und des Todes, der sich schattengleich herangeschlichen hatte. Trotz aller Vorzeichen hatten sie, wie sie nun gewahrten, doch nicht damit gerechnet.

Sie mussten zu Roses letzten Stunden vordringen, wenn sie nicht weiter im Dunkeln tappen wollten. Um zu wissen, wie sie gestorben war, war es unumgänglich, noch einmal ins Krankenhaus zu fahren.

Der beleibte, stark schwitzende Concierge mit dem ungestärkten Hemdkragen, der sie diesmal empfing, roch nach Leben, wie man nach Wein oder Knoblauch riecht.

Als sie am Ende des letzten Korridors angekommen waren, öffnete ihnen der Concierge die Tür zu einem kahlen weiß gekalkten Raum, dann zog er sich zurück. An einer der Wände hingen zwei gerahmte Ansichten des Vesuvs, armselige Aquarelle, die hier fehl am Platz wirkten; es war, als seien sie in dieser Umgebung zu Eis erstarrt. Zwischen zwei Fenstern stand auf einem Sockel eine Gipsmadonna. Aus dem Nebenzimmer erklangen das Gekicher und Schwatzen und Lachen und Schreien herumtollender Kinder.

Nach einer Weile erschien eine kleine, unscheinbare Nonne in weißem Ornat und schwarzer Haube, eine Jungfrau wie aus dem Bilderbuch, die nichts vom Leben erwartete, aber alles, was sie sich wünschte, von Gott erhalten hatte. Sie war die Aufseherin des Krankensaals, in dem Rose gelegen hatte.

»Erzählen Sie uns, wie Rose starb. Erinnern Sie sich an sie?«

»Oh ja, natürlich!«

Die Nonne war sehr freundlich und strahlte, als Roses Name fiel.

Sie zweifelten keinen Augenblick an der Aufrichtigkeit ihrer Erzählung.

»Sie hatte kaum Schmerzen. Ihr aufgetriebener Bauch war abgeschwollen. Es ging ihr besser. Sie schien erleichtert. Ein trügerischer Augenblick, der beim Sterben hilft. Sie war voller Hoffnung, bis sie plötzlich Blut erbrach und innerhalb weniger Sekunden starb. Sie hat ihren Tod nicht

Als sie sich verabschiedeten, waren sie erleichtert, befreit von der entsetzlichen Vorstellung, dass sie beim Sterben gelitten haben könnte, froh, von diesem Ende gehört zu haben.