Eines Nachts stand Rose im Zimmer und rief ihn leise. JULES. Sie war gut sichtbar, wenngleich sie ihm etwas größer erschien als früher. JULES. War sie gewachsen oder hatte er sie einfach kleiner in Erinnerung? Die Distanz zwischen Leben und Tod hatte ihren Wuchs verändert, im Jenseits war sie in die Höhe geschossen. JULES. Sie rief so leise, dass er sie kaum verstand, doch erkannte er ihre Stimme sofort, auch wenn sie ihm auffallend rauer schien als früher, wie hätte er sie vergessen können? JULES. Wollte sich Rose für ihre literarische Verwandlung in Germinie rächen? Doch je länger sie unter der Tür stand und ihn rief, desto schwächer wurde seine Angst. Rose hatte keinen Grund, sich Germinies wegen zu grämen. Man hatte ihr nicht Unrecht getan. Man hatte ihr vielmehr zu ihrem Recht verholfen. Wollte sie sich rächen, müsste er sich fürchten. Er fürchtete sich nicht. Roses Geist näherte sich unhörbar, setzte sich leicht wie ein Luftzug auf den Bettrand und wachte an seiner Seite, atmete nicht, bewegte sich langsam, fuhr ihm durchs Haar, über die feuchte Stirn, übers Kinn und murmelte Dinge, die er weder verstand noch verstehen musste, freundliche Dinge, wie die Mutter zu einem Kind, es beruhigte ihn sehr. Er schlummerte ein. Sein Kopf lag schwer in ihrer schwebenden Handfläche.

 

Pélagie kühlte seine Stirn mit einem Schwamm, der auf dem Waschtisch lag. Zunächst stieß er sie heftig von sich, dann ließ er sie gewähren. Sie versuchte, sein Haar zu glätten. Ihre Fürsorge rührte Edmond.

EDMOND: Du hast sicher geträumt.

JULES: Gedäumt.

EDMOND: Ein Alptraum sicher. Erinnerst du dich nicht?

Jules suchte in der Erinnerung oder tat so oder dachte über etwas ganz anderes nach oder dachte an gar nichts. In schneller Folge erwog Edmond jede Möglichkeit, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen.

JULES: Abdaum.

EDMOND: Mit wem sprichst du?

JULES: Oos.

EDMOND: Rose?

Jules sah durch ihn hindurch und nickte.

Indem er alle Scheu vor der Lächerlichkeit überwand, der er sich aussetzte – da niemand zugegen war, fiel es ihm leichter –, sagte Edmond: »Es ist gut, wenn sie auf dich aufpasst. Rose war immer gut zu uns, und wenn ich es recht überlege, waren wir es doch auch zu ihr, bei allem, was war. Nicht wahr?«

Jules wirkte abwesend, entweder verstand er nicht, was sein Bruder sagte, oder er hatte kein Ohr dafür, weil er den unhörbaren Worten seiner schwebenden Aufpasserin lauschte. Also legte Edmond sein Besteck neben den Teller und tat, als lausche auch er, und beide schwiegen und horchten. Jules nahm einen Bissen zwischen Daumen und Zeigefinger, tunkte ihn in die weiße Sauce und führte ihn genüsslich zum Mund. Er hatte nicht verlernt, die feinen Knöchelchen der Froschschenkel im Mund akkurat vom Fleisch zu trennen. Er spuckte sie auf den Tisch, den Pélagie eine Viertelstunde später abräumte. Seit einigen Tagen sah sie sich gezwungen, die Tischdecke täglich zweimal zu wechseln. Jules aß sehr schnell.

Manchmal fürchtete Edmond, Jules könnte versuchen, sich den eigenen Finger abzubeißen, weil er ihn mit einem Froschschenkel verwechselte.

Rose war da, wenn er sich hinlegte, sie wachte über ihn, wenn er schlief, sie wartete auf ihn, wenn er aufwachte. Und dann verschwand sie, wie sie gekommen war.

 

Einmal machten sie einen Spaziergang. Sie sprachen kein Wort. Edmond bedrängte Jules weder mit Fragen noch Hinweisen oder Beobachtungen. Er ließ ihn mit sich und seinen Gedanken, zu denen Edmond nicht vorzudringen vermochte, allein. Jules, so war sein Eindruck, lauschte auf die Geräusche der Natur, auf das Schlurfen seiner eigenen Schritte im trockenen Laub und die silbrige Stille, die sich darauf vorbereitete, mit Schnee wattiert zu werden, den niemand hören würde außer ihm. So jedenfalls erdachte sich Edmond Jules’ innere Welt, nicht als labyrinthischen Garten, sondern als geordnetes Haus, wie ihr eigenes Haus, in dem die Stockwerke durcheinandergeraten waren, der Keller lag auf dem Dachboden, der Dachboden im Garten.

Er sei jung, noch keine vierzig, sagte Edmond, als sie vor einer Bank stehen blieben, auf die sie sich schon öfter gesetzt hatten, doch diesmal blieben sie stehen.

»Nehmen wir an, im schlimmsten Fall, du brauchst ein Jahr, um wieder gesund zu werden, vielleicht auch weniger. Wenn mehr, na wenn schon? Es bleiben dir danach noch viele Jahre, um gemeinsam mit mir ein Dutzend Bücher zu schreiben. Also nimm dir Zeit, du hast viel Zeit.«

Jules’ Kopf, in den er hineinzuschlüpfen versuchte, gewährte ihm keinen Einlass, er bockte und verweigerte die Zusammenarbeit, die notwendig war, um sich ans Werk zu machen. Der Weg dorthin war also versperrt. Das gegenseitige, an keine Bedingungen geknüpfte Einverständnis war einer Festung des Schweigens gewichen. Jules verstand ihn nicht, so wenig wie den Rest der Welt, die ihn umgab, in der er sich noch vor kurzem flink, schlagfertig, geistreich, interessiert und äußerst gebildet bewegt hatte. Jules kehrte zwar immer wieder für kurze Augenblicke zurück, aber je weiter seine Krankheit fortschritt, desto lethargischer wurde er.

Jules sah Edmond an, als wüsste er genau, was Edmond über ihn dachte.

»Ich weiß, dass ich nie mehr arbeiten werde, nie mehr.«

Er wiederholte dieses »nie mehr« in der immer gleichen dumpfen Tonlage so lange, bis sie vor ihrer Haustür standen. Edmond hatte der Versuchung widerstanden, Jules vorauszueilen, hatte Schritt mit dem Bruder gehalten und

Als die Lokomotive just vor ihrem Haus Dampf abließ, schrie Jules aus vollem Hals und hielt sich die Ohren zu. Edmond war einer Ohnmacht nahe, nie zuvor hatte er sich den Tod so sehr gewünscht wie jetzt, den eigenen und Jules’ Tod, um dem allem ein gnädiges Ende zu machen und die Zeit auszulöschen, in der die Zukunft lag, vor der ihm graute.

Kaum hatten sie die Schwelle überschritten, verstummte Jules. Edmond übergab Pélagie seinen Stock, seinen Mantel und seinen Bruder.

»Begleiten Sie ihn nach oben. Er möchte sich bestimmt einen Augenblick hinlegen.«

Und wenn er selbst erkranken würde, wenn er unfähig wäre, sich um Jules zu kümmern, wer würde es tun, wenn er sterben würde, wer kümmerte sich um ihn?

Jules würde das Ende des Jahres nicht mehr erleben, womöglich nicht den Sommer, nicht den Herbst. Edmond wusste es.

An diesem Abend sagte Jules kein Wort mehr, bis sie zu Bett gingen. Er aß mit gutem Appetit. Er stopfte hastig in sich hinein, was Pélagie ihm vorlegte. Sein einziges Interesse galt der Mahlzeit, dem Kauen und dem Verzehr.

Jedes Mal, wenn Edmond aufsah, begegnete er Jules’ Blick, der ihn musterte. Er schien erstaunt, ihn hier zu sehen, als habe er ihn nicht erwartet, als sei er allein, als habe er keinen Bruder, als erkenne er ihn nicht.

Jedes Mal, wenn Pélagie sein Glas nachfüllen wollte, hielt er beide Hände übers Glas, als wollte man ihm etwas antun.

 

Edmond hatte nicht die Kraft, das gemeinsame Tagebuch weiterzuführen, ohne Jules fehlte ihm die empfindsame Seite ihres Zusammenspiels. Niemals würde er mit dem Einfallsreichtum seines Bruders Schritt halten können.

Also ließ er die letzte von Jules beschriebene Seite aufgeschlagen auf dem Tisch liegen. Sollte es ihm eines Tages einfallen, wieder zur Feder zu greifen, könnte er fortfahren, wo er aufgehört hatte, als sei kein Tag vergangen.

Doch die Tage vergingen, und wenn Jules das Arbeitszimmer im ersten Stock betrat, was immer seltener geschah, beachtete er weder das Tagebuch noch sonst etwas, was an ihre gemeinsame Arbeit erinnerte. Er schien wenig angetan, wenn er seinen Bruder dort sitzen sah.

 

Wochen nachdem Jules die Feder weggelegt hatte, begann Edmond fortzusetzen, was bislang vornehmlich die Arbeit seines Bruders gewesen war. Was geschah, musste aufgeschrieben werden, wie schlimm es auch war, denn das Unerträgliche war nur zu ertragen, wenn es festgehalten wurde. Edmond, der seinem Bruder bislang beim Schreiben meist über die Schulter gesehen, ihm diktiert oder das Wort ganz überlassen hatte, setzte das Tagebuch alleine fort. Auch wenn er sich nun, da das Schreiben kein

Er war glücklich, Ende Februar notieren zu können, dass es seinem Bruder besser ging. Der Wille für zwei, den Jules früher gehabt hatte, schien allmählich zurückzukehren. Er war voller Tatendrang und wollte den Wasserfall im Bois de Boulogne wiedersehen.

Es war herrliches Wetter, die kleinen Alleen voller Männer und Frauen, die selig waren, mitten im Winter in den Genuss eines unverhofften Frühlingstages zu kommen. Für einmal ließ Jules den Kopf nicht hängen, sondern schritt frohgemut, hocherhobenen Hauptes voran, scherzte kindsköpfig wie früher und rief Edmond zu: »Siehst du wohl, bist du zufrieden mit mir? Mir geht es besser, ich bin wohlauf, ich bin noch nicht plemplem.«

Angesichts der großen Zahl aufrechter Bürger, die ihnen entgegenkamen, erwachte sein spöttischer Geist zu neuem Leben.

»Warum sagst du nichts?«, warf er seinem verdutzten Bruder zu, der ihm auf seine unfeine Bemerkung über ein älteres Liebespaar eine Antwort schuldig blieb.

In Edmonds Freude mischte sich bald die Besorgnis, dass es sich bei diesem Ausbruch um die trügerischen Anzeichen eines besonders hinterhältigen Schlags handelte, der gleich erfolgen würde.

»Schmerzt es dich, mich so zu sehen?«, sagte Jules.

Edmond antwortete nicht. Als wohne er einem Wunder bei, fand er keine Worte, es zu beschreiben oder darauf zu reagieren. Er glaubte dem Anschein nicht, er war sicher, dass sich dahinter etwas verbarg, das stärker und zerstörerischer war als die sichtbare Oberfläche. Seine

Zu Hause angekommen, entledigte sich Jules seines Mantels, indem er ihn Pélagie vor die Füße warf. Alle Freude und Leichtigkeit waren von ihm abgefallen. Bevor er nach oben ging, sagte er kalt:

»Ich kann nicht mehr unter die Leute gehen, ich werde mich nicht mehr zeigen. Ich schäme mich. Ich bin kaputt. Weg mit mir.«

Edmond fand nicht die Worte, um ihm zu widersprechen, weil er nicht mehr daran glaubte, dass sein Einwand glaubwürdig war.

Geist, Intelligenz und Verstand verließen Jules. Seine Fähigkeit zu artikulieren ließ nach. Sein Bruder durfte ihn nicht verlassen.

Jules sprach immer öfter mit der ungeübten Stimme eines unbekümmerten Kindes, gerade so, als äffte er einen kleinen Jungen nach. Seine Infantilität machte Edmond Angst, zumal sie nichts Rührendes an sich hatte.

Immer öfter weigerte er sich zu sprechen. Er saß im Garten auf einer Bank, nahm dem Strohhut nicht ab, obwohl die Dämmerung bereits eingesetzt hatte, war stumm, ohnmächtig, untätig und starrte feindselig auf einen Baum, als wollte er dessen Laubwerk zwingen, so reglos zu werden wie er selbst. Manchmal streckte er die Hand aus und bewegte die Fingerspitzen mal kreisend, mal in heftigen Strichen, als malte er ein Gemälde in die Luft. Als Edmond ihn fragte, was es darstellte, blickte Jules ihn verständnislos an.

Lediglich Farben schienen ihn zu berühren, Farben, die

Als sie eines Tages durch die Passage des Panoramas spazierten – eine der seltenen Gelegenheiten, da sie die innere Stadt mit ihren vielen Neubauten besuchten –, erinnerte Jules sich nicht an den Namen der Stadt, in der sie lebten. Die Passage erkannte er nicht. Den Namen Watteau schien er nie gehört zu haben. Paris?

Unerklärlicherweise überlebten in der schwindenden Hirnmasse dennoch manche Fähigkeiten und Kenntnisse, immer wieder verdrängten gewisse Wörter die Lethargie und machten der trügerischen Hoffnung Platz, der alte Jules sei auferstanden.

Doch immer öfter schob sich die verstörende Maske des Schwachsinns über seine Züge. Die anderen existierten nicht mehr für ihn, er war egoistisch wie ein kleines Kind.

Edmond litt. Er notierte: Ich leide, ich leide, ich glaube, keinem liebendem Wesen war es gegeben, je so zu leiden, wie ich leide.

Er gab Antworten auf Fragen, die man ihm nicht gestellt hatte. Wenn Edmond ihn fragte, weshalb er so mutlos sei, antwortete er:

»Nun gut, dann werde ich heute Abend im Chateaubriand lesen.«

Von morgens bis abends in den »Erinnerungen« zu lesen

Wenn Jules zufällig einmal ein Buch aufschlug, das er selbst geschrieben hatte, sagte er: »War gut geschrieben.« Das erbarmungslose Imperfekt unterstrich die Tatsache, dass der Verfasser für immer gestorben war und dass all die Pläne für kommende Bücher, die sie gemeinsam entworfen hatten, nie ausgeführt werden würden. Unweigerlich füllten sich dann Edmonds Augen mit Tränen, und er fragte sich immer öfter, wie lange er den Anblick seines stumpfsinnigen Bruders wohl noch ertragen würde, dessen Verstand Tag für Tag schwand.

Jules ließ ihn keine Sekunde in Ruhe, selbst wenn er sich nachmittags erschöpft hinlegte, um einen Augenblick zu schlafen und zu vergessen, konnte er nicht auf Edmond verzichten, wollte immer in seiner Nähe sein, folgte ihm überallhin, war nicht abzuschütteln.

 

Ende Mai fasste Edmond den Entschluss, dem Leiden ein Ende zu bereiten. Die Entscheidung traf er weder über Nacht noch im Affekt, sie war überlegt und bestens vorbereitet, nichts wurde dem Zufall überlassen, nichts durfte schiefgehen.

Frühmorgens, als Jules noch schlief, setzte Edmond einen Brief an die Polizei auf, den er gut sichtbar auf seinen Schreibtisch legte, wo man das Kuvert nicht übersehen würde. In dem Schreiben nahm er die Schuld des Verbrechens auf sich, das er gleich begehen würde, ohne näher

Niemand durfte irrtümlich verdächtigt werden.

Pélagie hatte er frühmorgens weggeschickt und gebeten, erst gegen Abend zurückzukommen. Er hatte ihr anheimgestellt, entweder ihre Familie zu besuchen (so dass es Zeugen für ihre Abwesenheit gab) oder auf seine Kosten durch Paris zu flanieren, einzukaufen, was sie wollte, einzukehren, wo es ihr beliebte (damit sie gesehen wurde). Sie ahnte nicht, was ihr bei ihrer Rückkehr bevorstand. Um sie für den unerquicklichen Anblick zu entschädigen, der sie in Auteuil erwartete, setzte er sie als Erbin des Hauses ein. Das restliche Erbe – Bilder, Bücher, Kunstgegenstände und so weiter – sollte versteigert werden, damit Sammler wie sie in den Genuss der schönen Dinge kamen, die sie zusammengetragen hatten.

Kurz nach zehn betrat Edmond Jules’ Zimmer. Jules war über der Lektüre von Chateaubriands »Erinnerungen« eingeschlafen; hochgeklappt lag das Buch wie ein kleiner Dachgiebel auf der Bettdecke. Er hatte die Augen halb geschlossen – die gelblichen Augäpfel und zwei Sicheln der hellgrauen Iris waren zu sehen – und bewegte im Schlaf die schmalen Lippen, auf denen sich beim stummen Sprechen kleine Bläschen bildeten, die in den Mundwinkeln platzten und im einfallenden Sonnenlicht in winzige Partikel zerstoben. Er zitierte Chateaubriand selbst im Schlaf.

Edmond, der nicht wusste, ob er ein- oder ausatmen

Doch er hielt den Revolver fest.

Er hatte etliche Male in seinem Schlafzimmer geübt, natürlich ohne je einen Schuss abzugeben. Er hatte sein Kissen zusammengeknüllt, es sich unter den Arm geklemmt und die Mündung darauf gehalten. Das weiche Daunenkissen hatte keine Ähnlichkeit mit Jules’ Kopf. Aber die Einbildung, es wäre Jules’ Kopf, war stark genug gewesen, um ihn jedes Mal, wenn der Abzug zuschnappte, erschauern zu lassen. Kaum hatte er abgedrückt, versteckte er die Waffe hinter Büchern. Die Munition bewahrte er in seinem Nachtkasten auf. Er hoffte, der Revolver würde jetzt, da es ernst war, so wenig versagen wie er. Auf wen mehr Verlass war, wusste er nicht.

Er hatte keine Übung, aber er hatte eine Waffe. Der Revolver hatte dem alten Goncourt gehört und ihn vermutlich auf Napoleons Feldzügen begleitet; ob er ihn je benutzt hatte, im Krieg, bei der Jagd oder zur persönlichen Verteidigung, wusste er nicht. Von seiner Existenz hatte Edmond erst nach dem Tod seines Vaters erfahren, als er ihn unter dessen Nachlass in einer Truhe gefunden hatte, wo die Waffe wie alles andere sicher aufbewahrt wurde. Trotzdem hatte er sie nach Blutspuren abgesucht, als handelte es sich um ein Messer.

Es musste sein. Der Gedanke daran entwickelte sich

Er trat auf Zehenspitzen auf das Bett zu, beugte sich über den Schlafenden, dessen Lippen sich nicht mehr bewegten, umschlang mit seiner Linken Jules’ Schulter und zog ihn sachte hoch, er sollte in seinen Armen liegen, wenn es geschah, wenn er sich sicher fühlte, konnte er ihn leichter töten. Er hoffte, er würde nicht aufwachen. Sanft drehte er Jules’ Kopf zu sich, während die Rechte tat, was er so oft geübt hatte. Er zog den Revolver aus der Tasche und hielt die Mündung an Jules’ Schläfe. Die Waffe hatte die Temperatur seines Körpers. Aber sein Kopf war kein Kissen, er war unnachgiebig und hart.

Jules schlug die Augen auf, bevor Edmond abdrücken konnte. Ob er die Waffe an seiner Schläfe spürte und

Jules’ Blick traf Edmond bis ins Mark. Die Verzweiflung darin übermittelte sich ungehindert seinen vor Spannung flatternden Nerven. Er ließ den Revolver sinken, als habe ihn ein elektrischer Schlag getroffen, und ließ sich selbst fallen. Kraftlos rutschte er vom Bett, über die Kante zum Fußboden, während sein Bruder verständnislos zusah, wie er vor ihm auf den Knien landete. Er verharrte dort eine Weile. Er konnte nicht denken. Er dachte an nichts.

Nach einer Weile griff Jules nach seinem Buch und nahm die Lektüre wieder auf, als wäre nichts gewesen. Er las Edmond mit erhobener Stimme etwas vor, was aber nicht bis in dessen Bewusstsein drang.

Edmond mühte sich aufzustehen.

Nie zuvor waren zwei so widersprüchliche Gefühle so stark gewesen wie in diesem Augenblick: Er liebte seinen Bruder, wie er ihn hasste, und hasste ihn, wie er ihn liebte. Dem war nichts hinzuzufügen, kein Kommentar, keine Rechtfertigung, auch nicht der Versuch, es von sich zu weisen. Es half nichts. Nichts half. Er würde bis zum bitteren Ende zusehen und aufschreiben, was mit Jules geschah.

Nach diesem verhinderten Mord- und

 

Immer wieder hatte Jules aber auch lichte Momente. Über seinen Gesundheitszustand sprach er jedoch nie. Logischen Zusammenhängen gegenüber war er insgesamt feindlich gesinnt oder unempfindlich. Nicht nur seine Intelligenz schrumpfte, auch seine Fähigkeiten zu Zärtlichkeit, Zuneigung und Sensibilität schwanden. Sein Zustand war tierhaft, mehr der Erde als dem Himmel verbunden, und es hätte Edmond nicht gewundert, wäre er plötzlich auf allen vieren gekrochen.

Liebte er seinen Bruder noch? Ganz gewiss schlugen ihre Empfindungen nicht mehr im gleichen Takt wie früher. Konnten sie noch vor einem Jahr sicher sein, sich beim Anblick einer Blume, beim Betrachten eines Kunstwerks oder in Gegenwart von Menschen verständnisvoll wiederzufinden, war statt der Harmonie nunmehr ein schriller Misston zu hören.

Versuchte Edmond Jules’ Verstand anzusprechen, wich er aus und schnitt Grimassen. Jede Gedankenkette, die er zu knüpfen versuchte, riss über kurz oder lang. Löcher. Brüche. Fallstricke. Blicken wich er aus. Er selbst blickte

Ohnmächtig musste Edmond dem unaufhaltsamen Verfall seines Bruders beiwohnen und tatenlos und stumm mitansehen, wie dieser wieder und wieder den Fisch und das Fleisch, die Beilagen und das Gemüse salzte, bis alles ungenießbar war, was ihn nicht daran hinderte, mit Heißhunger darüber herzufallen, eine Hand an der Gabel, die andere Hand im Mund, wo sie ungeniert nach Gräten, Knorpelstücken und Fasern stocherte, die sich zwischen den Zähnen verfangen hatten. An die angeregten, vor Geist sprühenden Konversationen, die sie früher geführt hatten, ohne dass ihnen die Themen je ausgegangen waren, konnte er nur sehnsüchtig zurückdenken.

 

Eines Tages blätterte Jules minutenlang in einem Buch vor und zurück, hin und her, das Suchen nach der richtigen Stelle, der Seite, die er zuletzt gelesen hatte, wollte kein Ende nehmen, Edmond versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr das Blättern ihn enervierte. Schließlich fragte Jules ihn knapp: »Wo bin ich nur?«

 

Aber all das war nichts gegen die Furcht vor dem Unbekannten, die Edmond nicht mehr verließ. Er ängstigte sich vor der fremden Kreatur, die eines Tages ganz Besitz von Jules ergreifen würde. Sie als Teil einer benennbaren Krankheit zu betrachten, war ihm nicht möglich. Jules war nicht krank. Er hatte sich verausgabt. Er hatte seine Kraft und seinen künstlerischen Ehrgeiz zu sehr herausgefordert.

Die Bücher, die sie geschrieben hatten, betrachtete er inzwischen wie fremdartige Objekte.

Immer wieder versteinerte Jules, rührte sich nicht, schlug die Augen auf und zu, während die Pupillen unruhig hin- und herrollten.

Wenn Edmond ihn ansprach, hatte er den Eindruck, ihn aus dem Schlaf zu reißen. Wenn Jules ihn dann ungläubig betrachtete, musste er ihn mehrmals bitten, bis er schließlich – schrecklich gelangweilt – irgendeine Antwort erhielt. Irgendeine. Daran, dass sie sich nicht auf seine Frage bezog, hatte sich Edmond längst gewöhnt.

 

Edmond verhärtete sich angesichts der Qualen, die sein Bruder litt, auch gegenüber dem Leid anderer. Sprach ihn ein Bettler an, genügte ein »Habe nichts!«, um diesen zu vertreiben und sich selbst immer weiter von der Gesellschaft zu entfernen.

Er wurde selbst ein Fremder, der sich kaum noch für die anderen interessierte. Wie Jules las er nur noch wenig. Manchmal blätterte er in den eigenen Büchern und wunderte sich darüber, was sie gemeinsam verfasst hatten. Auch wenn er jeden Satz, den sie jemals gemeinsam niedergeschrieben hatten, wiedererkannte, fiel es ihm doch schwer zu glauben, mit welcher Leichtigkeit sie all das zustande gebracht hatten. Wenn er nun las, was gedruckt war, hörte er die Stimme seines Bruders, die Stimme von einst.

 

Edmond hatte seinen Bruder auf eine Art und Weise zurechtgewiesen, wie er es nie zuvor getan hatte – und nie mehr tun würde, denn danach fühlte er sich schuldig und schlecht, als hätte er Jules ins Gesicht geschlagen, und er wollte – und würde – Abbitte leisten, indem er in Zukunft, wo Restaurantbesuche immer seltener wurden und schließlich ganz ausblieben, keine Kritik dieser Art mehr übte und ihn erst recht nicht mehr abkanzelte, weder vor Fremden noch zu Hause.

Was machte Jules aus sich? Was machte Jules aus ihm? Was tat er Jules an? Dessen glänzende Tischmanieren, die von frühester Jugend an stets noch etwas feiner gewesen waren als seine eigenen, hatten sich in Nichts aufgelöst. Ja, er aß wie ein Schwein, und er hatte es ihm gesagt, als er feststellen musste, dass es nicht unbemerkt blieb; obwohl sie in einem einfachen Lokal saßen, fielen sie auf, so schlecht, wie Jules sich benahm. Die Gäste an den anderen Tischen, einfache Leute, beobachteten sie und stießen einander an, bestimmt dachten auch sie: Der isst ja wie ein Schwein, umklammert die Gabel mit der Rechten, mit dem Handrücken nach oben, wie ein Fleischer das Hackmesser; auch den Löffel hatte er wie ein Bauer gehalten, nicht wie ein Mann, dem die Grandezza der feinen Umgangsformen bereits in der Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen war. Nichts davon war noch da, wie weggepustet, nichts mehr an seinem Platz.

Jules brach, noch während Edmond sprach, in Tränen aus: »Es ist nicht meine Schuld, nicht meine Schuld.«

»Ist dir etwas ins Auge geflogen?«, fragte Jules nach einer Weile.

»Ja«, antwortete Edmond und fuhr sich über Stirn und Wangen.

Jules betrachtete Edmonds Hand wie ein fremdes Tier, bestürzt, fast angewidert, dann seine eigene und leckte sie ab, als sei es kaltes Besteck.

»Uesser«, sagte er. »Uabel. Uöffel.«

Er lachte unbändig und versank dann in tiefes Schweigen. Dass die anderen Gäste zu ihnen hinblickten, spielte nun keine Rolle mehr.

 

Eines Montags, als sie im Garten hinter dem Haus saßen und Jules wieder in den »Erinnerungen« las, blieb er fortwährend an einem Wort hängen. Es gelang ihm nicht, das Wort korrekt auszusprechen, er versuchte es Buchstabe für Buchstabe, es gelang ihm aber auch nicht, über diese Unfähigkeit hinwegzugehen, er machte immer neue Anläufe und stolperte und stolperte wieder. Je öfter er das Wort wiederholte, desto unverständlicher wurde es offenbar auch ihm selbst.

Plötzlich hielt er inne. Edmond näherte sich ihm, der wie versteinert dasaß und auf das aufgeschlagene Buch starrte, und bat ihn fortzufahren, doch Jules blieb stumm. Edmond bemerkte einen ihm unbekannten Gesichtsausdruck, Tränen standen in seinen Augen – oder einfach nur Wasser, das aus ihm herausströmte – und Furcht. Überwältigt von diesem Anblick nahm er Jules in den Arm, zog ihn zu sich und küsste ihn.

Edmonds Befürchtung, dass es sich um eine Sprechlähmung handelte, legte sich, als Jules sich innerhalb der nächsten Stunde allmählich beruhigte. Aber auch dann war er nicht fähig, etwas anderes als Ja und Nein zu sagen. Er blickte seinen Bruder aus trüben Augen an. Er schien nicht zu verstehen, was um ihn herum geschah.

Unvermittelt nahm er das Buch wieder zur Hand und wollte unbedingt lesen. Er las: »Kardinal Pa – Kardinal Pa – «

»Kardinal Pa – « Es war ihm unmöglich, den Namen auszusprechen.

Ungehalten rutschte er auf dem Sessel hin und her, nahm seinen Strohhut vom Kopf, fuhr sich mit den Fingern unentwegt über die Stirn, setzte sich den Hut wieder auf, nahm ihn ab und fuhr sich mit den Fingern erneut über die Stirn, als wollte er in sein Hirn eindringen. Er zerknitterte die Seite, die er zu lesen versucht hatte, riss sie heraus und hielt sie ganz dicht vor seine Augen. Er war verzweifelt. Dann stopfte er sich das Papier in den Mund. Edmond konnte ihn daran hindern, es hinunterzuschlingen.

Nie zuvor war Edmond Zeuge eines so traurigen, grausamen Schauspiels gewesen. Es war, als müsste er zusehen, wie der menschliche Verstand der Tatsache gewahr wurde, dass er, der einst weißes Papier zum Leben erweckt hatte, die Fähigkeit zu lesen für immer verloren hatte.

In solchen Augenblicken geschah etwas, was sich weder

 

Der Tod näherte sich. Wie nah er schon war, konnte niemand wissen.

Sie saßen auf einer Bank im Bois de Boulogne und betrachteten die zahlreichen farbigen Kutschen, luxuriösen Equipagen und bunten Kinderwagen, die an ihnen vorbeiglitten, und wer sie nicht kannte, hielt sie wohl für ein zufriedenes Brüderpaar, dessen Gattinnen zur Kur weilten oder bereits gestorben waren.

Da bemerkte Edmond eine schwarzgekleidete Nonne im Fond einer Kutsche, die wie der gestrenge Tod nach ihnen Ausschau zu halten schien. Der Überfluss und die Fröhlichkeit von Paris wurden verschluckt.

 

Wie ein kleines Kind beschäftigte Jules allein das, was er gerade aß, und das, was er am Leib trug. Empfänglich war er für eine Nachspeise und glücklich über ein Kleidungsstück, das er vergessen hatte und im Schrank entdeckte.

Ständig zerknüllte und drehte er irgendwelche Papiere, Stoffe, Wachs, Blätter, Brot und sonstige Lebensmittel zwischen den Fingern zu kleinen Gebilden, die er nach einer Weile achtlos zu Boden fallen ließ. Oft trat er unabsichtlich darauf, wenn er sich erhob, manchmal entschuldigte er sich mit Blick auf den Boden, als handelte es sich um lebende Wesen, und Edmond fragte sich, ob er die Dinge, die dort lagen, als das ausmachte, was sie gewesen waren, bevor er sie zwischen die Finger genommen und malträtiert hatte.

»Nein«, sagte er dann.

 

»Wo bist du, mein Freund?«, fragte ihn Edmond einmal.

Nach einer langen Pause antwortete Jules: »Im leeren Raum.«

Er erinnerte sich an keinen einzigen Titel ihrer Bücher.

Er besaß allerdings noch immer zwei erstaunliche Fähigkeiten, er konnte Passanten mit wenigen Worten wie mit feinsten Pinselstrichen charakterisieren und fand noch immer das richtige Wort, um die Färbung des Himmels zu beschreiben.

Edmond suchte sich an diesen Lichtblicken festzuhalten, aber es waren eben nur flüchtige Momente.