Zwei Tage später reiste Edmond zu seiner Cousine Augusta nach Bar-sur-Seine. Die Vorstellung, nach Auteuil zurückzukehren, bereitete ihm das größte Missbehagen, weshalb er den Entschluss gefasst hatte, das Haus entweder zu verkaufen oder zu vermieten. Er hatte eine Anzeige aufgegeben und umgehend ein seriöses Angebot eines interessierten Mieters erhalten. Doch kaum war diese Bewerbung auf dem Tisch, änderte Edmond seinen Entschluss. Er war an dieses Haus, in dem er so gelitten hatte, gebunden; das unsichtbare Band zu durchtrennen war ihm nunmehr unmöglich. Er antwortete dem Interessenten, dass er es sich anders überlegt habe und das Haus weder vermieten noch verkaufen werde.

Im Haus gegenüber lag eine alte Magd seiner Cousine im Sterben.

 

Edmond war nicht krank, aber sein Körper verweigerte die Bewegung, er wollte weder spazieren noch sich unnötig anstrengen.

Stundenlang saß Edmond untätig da, ohne Pläne und ohne Zukunft, es gab nichts anderes als die Vergangenheit, die er mit seinem Bruder geteilt hatte, Jahre, die sich nicht zurückholen ließen; er bereute, sie nicht besser genutzt und sich nicht jede einzelne Minute eingeprägt zu haben. Er fürchtete das Vergessen und spürte in seiner Magengrube

Drüben starb die Magd.

Er besuchte die Sterbende, die er kaum gekannt hatte, als könnte er vom Tod nicht genug bekommen, als würde er dort, wo er schon wieder am Werk war, eine Faser seines Bruders wiederfinden.

Um das Bett der Magd saßen fünf einander zum Verwechseln ähnliche schwarzgekleidete Frauen und murmelten wohl dieselben unverständlichen Gebete, die bereits die sterbende Magd an den Sterbebetten ihrer Verwandten und Freundinnen gebetet hatte.

Edmond blieb unter der Tür stehen und ließ es sich gefallen, dass sich die Köpfe der Klagenden nach ihm umdrehten, während sich die Münder weiter bewegten. Er stand da und wartete. Die Sterbende, deren Nasenspitze weiß wie Gips war, befand sich schon in einer anderen Welt, die Betenden saßen an der Schwelle und achteten darauf, im entscheidenden Augenblick zurückzuweichen, sie wollten nicht ins Jenseits mitgerissen werden.

Jeder Tag wurde zum Gedenktag seines Schmerzes, seiner sich stets erneuernden Trauer, donnerstags erinnerte er sich an den Donnerstag, als sein Bruder den großen Anfall gehabt hatte, freitags dachte er an den Freitag, als er geglaubt hatte, eine Besserung sei eingetreten, samstags, sonntags und montags durchlebte er die Erschütterungen der drei letzten Tage von Jules’ Leben, und am 20. Juli,

Er war traurig, gebrochen, am Boden zerstört; aber er aß mit gutem Appetit.

Der bevorstehende Krieg, von dem alle sprachen, bedeutete zugegebenermaßen eine willkommene Ablenkung.

Er hätte gern von Jules geträumt, in Gedanken war er während des ganzen Tages bei ihm, doch seine Hoffnung, er würde ihn nachts aufsuchen, erfüllte sich nicht, seine Träume blieben leer, Jules suchte ihn im Schlaf nicht heim.

Und dann träumte er eines Nachts endlich doch von ihm. Jules war wie er selbst in tiefer Trauer. Sie schlenderten gemeinsam eine Straße entlang, die Ähnlichkeit mit der Rue Richelieu hatte, und wollten irgendeinem Theaterdirektor ein Stück überbringen, von dem sie sich Erfolg und Einkünfte erhofften. Auf dem Weg trafen sie einige Freunde, darunter Gautier. Wie alle anderen wollte auch er Edmond kondolieren, stutzte aber und hielt inne, als er Jules erblickte, der, wie es seine Gewohnheit gewesen war, auch im Traum ein paar Schritte hinter ihm ging.

Hin- und hergerissen zwischen der Gewissheit, dass Jules’ Gegenwart nichts anderes bedeuten konnte, als dass er lebte, und dem unbestreitbaren Wissen, dass er tot war, begannen Zweifel an ihm zu nagen, die erst dann verschwanden, als er erwachte.

 

Anfang August kehrte er nach Paris zurück, wo eine drückende Ruhe herrschte. Auf den Boulevards waren kaum Kutschen zu sehen, die Geräusche der Stadt erstickten unter der bangen Erwartung, die die Bevölkerung in Schach

Er suchte die Prinzessin auf, deren Palast in Schweigen und schwarze Tücher gehüllt war, die ihre Möbel bedeckten, zwischen denen sie, ihren Befürchtungen ausgeliefert, auf Neuigkeiten wartete, Besuche erhielt sie jetzt, da die meisten Freunde auf ihren Landsitzen ausharrten, kaum. Sie hatte sich mit dem Kaiser getroffen, den sie davon abzuhalten versuchte, in den Krieg zu ziehen, da er krank, zermürbt, kein Vorbild für die Truppen und der ganze Krieg ein unsinniges Unterfangen war. Kaiserin Eugénie aber tat alles, um ihn zum Krieg zu treiben. Mathilde saß, ganz in Schwarz gekleidet, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem der wenigen freien Sessel und wippte unruhig mit ihrem Stiefelchen. Um den Gefühlssturm, der in ihrem Inneren tobte, zu besänftigen, presste sie die Lippen aufeinander, die sich doch immer wieder öffneten, um einen Fluch auszustoßen, den sie nicht unterdrücken konnte. Selbst als sie über die Kaiserin sprach, wollte die alte Ironie, mit der sie sonst über sie herzog, nur matt aufflackern.

Edmond bemerkte Lücken im abgedeckten Mobiliar des Hauses, die darauf hindeuteten, dass sie einen Umzug vorbereitete, über den sie nicht sprechen wollte; sollten die Deutschen in Paris einmarschieren, war sie hier nicht mehr sicher. Aber wohin mit den Sachen?

Plon-Plon war bereits geflohen, sie selbst würde sich nicht so schnell vertreiben lassen.

Edmond sprach über das bedrängte Vaterland und wie sehr er Jules in diesen schweren Zeiten vermisste. Mathilde nickte abwesend, während ihr Blick ruhelos durch den Raum schweifte und nach einem Punkt Ausschau zu

 

Am einsamsten fühlte Edmond sich abends, wenn er allein im Garten saß und rauchte und die Gegenwart seines Bruders vermisste, der nicht mehr neben ihm saß, um ihn mit seinen erlesenen Geistesblitzen zu unterhalten. Wie sehr, wie oft hatten sie gelacht. Welche Bilder und Vergleiche wären ihm wohl eingefallen, wenn er von den Kämpfen und Demütigungen der französischen Armee im Osten des Landes gehört hätte?

 

Paris war seit den Niederlagen bei Weißenburg und Spichern Anfang August 1870 wie gelähmt. Die Gesichter der Menschen drückten die herrschende Unsicherheit, die Ungeduld und den Überdruss, vor allem aber die nackte Angst aus, die immer weiter um sich griff. Es gab keine Ablenkungen mehr, an Unterhaltung wollte niemand denken, der um sein Leben fürchten musste.

Schön und schmuck blitzten die französischen Uniformen, aber gab es bessere und leuchtendere Zielscheiben für preußische Gewehre und Krupp’sche Kanonen als herausgeputzte Soldaten? Die Menschen sahen krank und elend, grau und verwittert aus, unter ihnen war wohl niemand, der nicht wusste, dass die Herrschaft des Kaisers und die friedlichen Tage gezählt waren.

Am 2. September 1870 unterlagen die Franzosen den Preußen auch in Sedan. Napoleon III., der als letzte

Statt Berlin zu erobern, wie sich mancher Franzose zu Beginn des Krieges erträumt hatte, zerfiel die Illusion unerschütterlicher Größe zu Staub; nicht der Kampfgeist und der Wille, sondern die Wahl der tödlicheren Waffen hatte über das Schicksal und die Zukunft der Nationen entschieden.

Napoleon III. befand sich bereits auf dem Weg zum Schloss Wilhelmshöhe in Kassel, wo einst Mathildes Vater als König residiert hatte. Sie floh nun ebenfalls, wollte nach England übersetzen, änderte ihre Pläne jedoch, als sie hörte, dass die See stürmisch und der Empfang jenseits des Kanals nicht herzlich sein würde. Sie reiste nach Belgien. Bevor der Bürgermeister von Dieppe sie allerdings nach Mons weiterziehen ließ, durchsuchte er höchstpersönlich ihre Koffer, da ein Gerücht in Umlauf war, die Prinzessin schmuggle gestohlenes Staatsgold im Wert von einundfünfzig Millionen Francs außer Landes. Davon fand sich keine Spur.

Dass Mathilde sich nach ihrem Landsitz und nach Paris sehnte, erfuhr Edmond ebenso wie von ihrer Entscheidung, unverzüglich die Krone über dem Eingang an der Rue de Courcelles entfernen zu lassen. Pferde, Zaumzeug und Wagen wurden verkauft, der Koch entlassen, die anderen Dienstboten durften bleiben. Der Gutsverwalter von Saint-Gratien wurde angehalten, Grund und Boden zu schützen, denn sie befürchtete, die Pickelhauben

Wozu auf dem Kontinent bleiben? Größtmögliche Entfernung von den Orten, an denen sie so hing, weil sie dort ihre schönste Zeit verbracht hatte, schien Mathilde die beste Vorgehensweise, sich von der Vergangenheit zu lösen. Also beauftragte sie eine Freundin, ein Haus in der Umgebung Londons für sie ausfindig zu machen und zu ermitteln, ob es sauber sei und über die nötigen Küchenutensilien, Wäsche, Geschirr und so weiter verfüge. Schließlich blieb sie aber doch in Belgien.

 

Wenn die Zeit, wie es heißt, alle Wunden heilt, so tat der Krieg einiges dazu, die Heilung zu beschleunigen, er lenkte Edmond vom Verlust des Bruders ab. Da die vier Monate anhaltende Belagerung von Paris auch ihn nicht verschonte, sah er sich gezwungen, sich mit praktischen Dingen zu beschäftigen, wie er es nie zuvor in diesem Ausmaß hatte tun müssen, mit Dingen des täglichen Lebens, die zu erledigen so viel Zeit in Anspruch nahm, dass er Jules manchmal für Minuten, Viertelstunden, ja sogar halbe Stunden vergaß. Der Krieg zog ihn und seine Freunde in Mitleidenschaft, er bestimmte seinen Tag vom Aufstehen bis zum Einschlafen. Doch er fand immer mehr Gefallen daran, fast täglich ausführlich in seinem Tagebuch festzuhalten, was in Paris geschah, dass in den Straßen kaum andere Fahrzeuge als Omnibusse und Fiaker verkehrten, die als Ambulanzen dienten, dass man sich an das Geschützfeuer, das Krachen und Dröhnen der Kanonen gewöhnte und dass der Hunger

Am 18. Dezember 1870 wurde Wilhelm I. in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen, zehn Tage später ergab sich Paris den deutschen Truppen und unterzeichnete einen Waffenstillstandsvertrag. Wer sich in Paris nun in Sicherheit glaubte, wurde jedoch enttäuscht.

 

Edmond hatte sich während des Kriegs in den kleinen Salon im Erdgeschoss zurückgezogen; dort hatte er mit Hilfe des Gärtners ein Bett aufgestellt, hier glaubte er sich vor den Granateneinschlägen der Preußen geschützter als im oberen Stock.

Da unmittelbar nach dem Waffenstillstand mit den Deutschen blutige Auseinandersetzungen zwischen aufständischen Pariser Kommunarden und regierungstreuen

Der kleine Salon war Schlafzimmer, Aufenthaltsraum, Küche und quicklebendige Vorratskammer in einem, als er einige Wochen lang sein häusliches Exil mit sechs Hühnern teilte, von denen allerdings bald nur Blanche übrig blieb; die anderen waren nach und nach Edmonds Hunger zum Opfer gefallen, denn er verabscheute das süße rotschwärzliche Fleisch der Kutschgäule.

Da ihm die hübsch gepunktete, mit einem Häubchen keck gekrönte Blanche ans Herz gewachsen war, schob er deren Tötung immer wieder hinaus. Er brachte es kaum über sich, daran zu denken, wie und warum sie sterben sollte.

Wenn Pélagie ihm das karge Mittagessen servierte, hüpfte das Hühnchen auf den Tisch und pickte blitzschnell die wenigen Armseligkeiten vom Teller, die darauf lagen; Edmond gestand Blanche jeweils die Hälfte zu, denn schließlich hatte auch sie im Lauf der Hungersnot an Gewicht verloren, genau wie er, genau wie Pélagie, und wenn er Blanche

Regelmäßig legte sie Eier, aber niemals hatte er Gelegenheit, eines in Sicherheit zu bringen, um es zu essen. Kaum war es herausgepresst, hatte die hübsche Kannibalin es bereits selbst vertilgt, deren Gackern Edmond, je länger sie zusammenlebten, zu deuten und zu verstehen vermochte. Flink kletterte Blanche an ihm hoch, setzte sich auf seine Schulter und schwang sich von dort auf den Kaminsims, wo sie mit dem Schnabel zornig auf die Unbekannte einhackte, die ihr im Spiegel entgegenblickte. Er hatte Blanche, die er jeden Morgen mit einem feinen Kamm striegelte, so in sein Herz geschlossen, dass es ihm undenkbar schien, sie zu schlachten.

Doch selbst die intelligenten Spatzen und Amseln waren aus Paris geflohen, um den feindlichen Gewehrkugeln zu entkommen; der kleine Teich war leer, die Goldfische hatte er bereits gebacken und gegessen; der Pökelfisch, den die Gemeinde von Auteuil ihm und Pélagie zugeteilt hatte, war voller Gräten und nach drei Tagen verspeist; das Brot war ungenießbar, davon brachte man keinen Bissen herunter; es musste eine Entscheidung getroffen werden.

Eines Morgens forderte er Pélagie dazu auf, es zu tun. Der Gärtner, der diese Art undankbarer Aufgaben bislang erledigt hatte, war eingezogen worden.

»Was tun?«, fragte Pélagie entgeistert.

»Mein Hühnchen wird sterben, es muss nun sein«, sagte Edmond und unterdrückte einen Seufzer, den sie gewiss nicht überhörte.

»Nein, nein«, rief sie entsetzt, »ich nicht. Ich habe nie ein Tier getötet!«

Aber sie weigerte sich, und er verstand sie nur zu gut und wusste, dass er sich wie ein Feigling aufführte, also musste er handeln.

 

Nachdem er die Überlegung, einen Metzger mit der Tötung des Huhns zu beauftragen, wieder verworfen hatte – er wusste, er würde nur spöttische Absagen kassieren –, fiel ihm der japanische Säbel ein, der im ersten Stock hing und dessen Schneide so scharf war wie Sultan Saladins Krummsäbel; es war eiskalt und es lag frischer Schnee.

Entschlossen ging er hinauf und nahm das Schwert von der Wand.

Gerade als er Blanche, die sich im Garten aufhielt, ins Haus lockte, flogen Granaten Richtung Faubourg Saint-Germain übers Haus, und das Hühnchen stellte den Kopf schräg und blickte nach oben, als fragte es sich, wann dieses Gewitter, das schon so lange tobte, wohl enden werde. Dann überschritt es die Schwelle und trippelte auf ihn zu. Blanches Schicksal war besiegelt.

Er hatte etwas Gebäck aus echtem Mehl zerbröselt und vor dem Kamin verteilt und rief Blanche bei allen Kosenamen, die er ihr zugedacht hatte, was aber gar nicht nötig war; ihr Hunger war so groß wie ihr Zutrauen, und so stürzte sie sich aufgeregt flatternd auf die verlockenden Krümel und pickte hastig ihre Henkersmahlzeit auf.

Edmond war bereit. In dem Augenblick, als Blanche das Köpfchen reckte, um den letzten und größten der Bissen herunterzuwürgen, hieb er ihr mit einem glatten Schnitt den Kopf ab. Ihm wurde schwindlig. Es war vollbracht.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass Blanche –

»Was kann man tun?«, schrie er, als er Pélagie neben sich bemerkte, die dem Blutbad wohl heimlich hinter der Tür beigewohnt hatte. Doch sie war sprachlos, und so raste Blanche noch eine Weile ohne Kopf im blutbesudelten Garten herum, bis das Bächlein Leben, das aus ihrem Hals sprudelte, allmählich versiegte. Plötzlich fiel sie stocksteif um.

Als er später feststellen musste, dass das bisschen Fleisch an ihren Knochen trocken und zäh, im Grunde ungenießbar war, vergoss er zum ersten Mal Tränen über einen anderen Verlust als den des geliebten Bruders.

»Vielleicht hätten wir sie ein paar Tage abhängen lassen sollen«, meinte Pélagie, die Blanche wortlos gerupft und zubereitet hatte.