Sie aßen abends – es war bereits dunkel – die saftigen Schenkelchen mit spitzen, vom Fett glänzenden Fingern.

»Haben wir uns je gefragt, was wir hier essen?«, scherzte Edmond.

Jules lachte folgsam: »Glans penis.«

Edmond gehörte nicht zu denen, die deshalb erröteten. Pélagie war nicht im Raum. Tatsächlich war es ihre Freundin Maria, die Hebamme, gewesen, die eines Nachts bemerkte, Jules’ Eichel habe die Konsistenz von Froschschenkelfleisch. Zwischen ihren Lippen, in ihrem Mund.

Mit Lippen, Zungen, Gaumen und Zähnen erspürten sie die Knöchelchen und trennten sie akkurat vom samtig glatten Fleisch. Sie saugten daran, bevor sie die blank gegessenen Knochen an den Rand ihrer Teller legten. Darin waren sie Meister. Schon als Kinder hatte man ihnen, kaum waren ihnen die Milchzähne gewachsen, Froschschenkel à la meunière vorgesetzt, nach dem von Generation zu Generation weitergereichten Rezept einer Urahnin väterlicherseits; manche Dinge änderten sich nie und durften sich nicht ändern, auch wenn der Rest der Welt sich immer neu drapierte. Nichts musste sich deshalb an der vollkommenen Zubereitung von Froschschenkeln ändern. Die zarte Schärfe und zurückhaltende Säure und hintergründige Bitterkeit von Zitrone, Knoblauch, Schalotte und Petersilie gaben dem Gericht Farbe und

Neben jedem Gedeck standen silberne Schälchen (achtzehntes Jahrhundert) mit lauwarmem Wasser und Zitronenscheiben, in die Jules und Edmond, oft gleichzeitig, kurz ihre Fingerspitzen tauchten, um sie dann an den Servietten abzutrocknen, die sie zur Schonung ihrer Hemden umgebunden hatten. Für jeden ein gutes Dutzend Froschschenkel auf einem Teller mit Goldrand. Pélagie hatte Pierre, den Hausburschen, damit beauftragt, dreißig Stück zu besorgen. Als wäre alles normal.

Man sollte von diesen Portionen nicht satt, sondern hungrig werden. Sie kitzelten den Magen und regten den Appetit an, wie die Spießer zu sagen pflegten. Dazu gab es knusprig geröstetes Brot. Es war Spätherbst. Sie liebten den Herbst.

Danach trug Pélagie ein Ragoùt à la marinière in Pastetchen auf. Als sie Kinder waren, hatten die heißen luftigen, im Nu zerbröselnden Blätterteiggebilde in ihrer Fantasie Festungstürme dargestellt, in denen sich die Feinde der Monarchie verschanzt hatten und denen man mit Messer und Gabel auf den Leib rückte, bis nichts von ihnen übrig blieb als Saucenkleckse und aufgeweichter Teig. Muscheln und Krevetten quollen in der mit Eigelb gebundenen Sauce über den Rand der knusprigen Pastetchen. Es roch nach Meer. Pélagies Kochkünste übertrafen Roses Versuche, ihrer Küche einen Anflug von Verwegenheit zu verleihen, bei weitem. Rose war so gut wie immer gescheitert, ihre Kreationen waren Triumphe des Missglückens gewesen. Sie aber hatte stets den befriedigten und freudigen Eindruck vermittelt, ihr sei Köstliches gelungen.

»Ich dachte eben an Rose. Du auch?«, sagte Edmond gut gelaunt.

Sie aßen. Es schmeckte vorzüglich.

Froschschenkel und Ragout reihten sich zu einer Suite im italienischen Stil, bemerkte Jules, wobei er das »L« verschluckte. Er sagte Sti statt Stil. Edmond blickte auf. Das L? Das L? Der Gedanke jedenfalls war ungewöhnlich.

»Froschschenke und Rag reihen sich zu einer Suite im itaienischen Sti – «, wiederholte Jules, diesmal fehlten drei L. Und hatte er nicht Sui – gesagt?

Edmond versuchte, das Fehlen zu überhören, aber wie sollte das gelingen? Es war keine Nachlässigkeit, es war ein Hinweis auf etwas Schreckliches, ein Zeichen.

Manche hielten sie für Zwillinge, auch wenn Edmond unverkennbar älter war als Jules. Unterbrach sich der eine mitten im Satz, um zu überlegen, nahm der andere den Faden auf, als wären sie einer. Sie waren ja eins.

Als Jules die Gabel mit Muschelfleisch und Sauce zum vierten Mal an die Lippen führen wollte, verdüsterte sich sein Gesicht, und die Hand stockte zwischen Tisch und Mund und zuckte und ruckelte auf und ab wie die Hand einer von einem zitternden Spieler geführten Marionette. Es roch nach Meer. Sie waren aber in Auteuil. Zu Hause. In ihrem Speisezimmer. Umgeben von ihren Möbeln, Bildern und hunderterlei kleinen und großen Kostbarkeiten, Kram und Trödel, der eines Tages den Ritterschlag der antiken Exklusivität empfangen würde. Kaum etwas stammte aus diesem Jahrhundert, sie hatten es mit Objekten aus dem vergangenen ausgestattet.

»Le Havre? Wollen wir wirklich davon anfangen?«, fragte Edmond gegen seinen Willen viel zu laut. Und leiser: »Schmeckt es dir nicht?«

»Oh, doch. Es schmeckt.«

Jules bewegte die Lippen weiter in einer Weise, als wollten sie den Name Le Havre immer wieder neu bilden, doch er blieb stumm, was Edmond beunruhigte. Er war alarmiert.

»Rue de l’Hôpital«, sagte Jules deutlich. »Der kleine fremde Arzt. Er hatte einen uckel.«

»Er hatte einen Buckel?«

»Er hatte einen uckel, ja, ja, einen uckel.«

 

Edmond hätte es sich gewiss gemerkt, hätte Jules je erwähnt, dass der Arzt bucklig war. Das war ihm neu. Was sollte er davon halten?

»Einen uckel, einen uckel«, wiederholte Jules immer wieder, quälend, leidvoll, wie besessen von dem Gedanken an den Buckel oder den buckligen Arzt.

»Du solltest es vergessen«, sagte Edmond. »Es gibt Besseres zu erzählen und an Besseres zu denken.«

MEINE NERVEN, dachte Edmond, MEINE NERVEN!

»Wir wollen alles wissen und müssen alles w – «, statt den Satz zu Ende zu bringen, begann Jules zu summen, wie ein großes Insekt. Summte und summte unentwegt. Mit einem zischenden Laut schien das Insekt am Licht zu verbrennen, als er endlich verstummte. Jules zischte und verstummte.

Doch dann begann er von Neuem, als könne das Tier

»Was machst du da? Hör auf! Jules!«

Jules zuckte zusammen wie ein ertapptes Kind und verstummte erneut und sah verständnislos auf seinen Teller und sagte: »Köstliches leisch. Kös kös – «

»Iss, mein Lieber, iss. Es schmeckt einfach herrlich. Pélagie ist ein Segen für unser Haus und unseren Tisch. Nie hat das Ragout besser geschmeckt als bei ihr. Nicht wahr, Jules?«

Doch Jules antwortete jetzt nicht.

»Denkst du an Rose?«

 

»Jules«, wiederholte Edmond. »Denkst du an Rose?«

Und Jules sprach ihm nach wie ein braver, aber unaufmerksamer Papagei:

»Iss den Segen unseres Tischs Pélagie« – und aß weiter und grinste. Er fletschte die Zähne.

»Was sagtest du, Jules?«

»Was sagte ich, Jules? Froschundpélagieragout. Und e Havre, sagte ich.«

Er überlegte, er schwieg.

»Was war das für ein Summen eben?« Ein korrekter Satz.

»Habe ich gehört«, erwiderte Edmond.

Zum Glück war Pélagie nicht im Zimmer. Niemand konnte sie hören, niemand konnte sich wundern, niemand konnte etwas aufschreiben, niemand etwas weitererzählen, niemand war Zeuge, sie waren unter sich, sie waren – dachte Edmond – wie immer, nur dass sie nicht mehr dasselbe dachten.

Edmond schenkte Wein nach, um Jules auf andere

»Erinnerst du dich?«, sagten beide gleichzeitig.

»Vergiss Le Havre«, sagte Edmond beschwörend. »Le Havre ist bloß eine Stadt mit einem kleinen fremden Arzt. Und bucklig dazu, wenn du meinst.« Er blinzelte nervös.

EIN KLEINER FREMDER ARZT hing wie ein Bild im Zimmer schräg an der Wand. Nun auch noch: bucklig. Jules sah ihn deutlich vor sich, etwas höher als zwergwüchsig, entfernt ein verzerrtes Abbild des Prinzen Napoleon, des Cousins des Kaisers, des Bruders der Prinzessin Mathilde.

»Wir wollen morgen Mathilde besuchen«, sagte Edmond.

»Ma – ma – «, stotterte Jules.

»Prinzessin Mathilde Bonaparte.«

»Bo – bo«, stotterte Jules.

 

Pélagie hatte die Teller bereits abgetragen, aber es lag noch ein Hauch Meerbrise in den unteren Räumen.

Jules erinnerte sich an Dr. Maire und an die schiefen Häuser, deren obere Stockwerke sich bauchig wie schwangere

Weil Jules wenig davon verstand, hatte er um Bedenkzeit gebeten und war nicht mehr erschienen. Niemand suchte ihn auf, um ihn wie einen armen Sünder zum Arzt zu schleppen, wie er einmal geträumt hatte. Zwei Jahre später erfuhr er, dass die Kaiserlich Medizinische Akademie die mutwillige Okulation von Schanker – die Geschwulst wurde aufgeschnitten und giftiger Körpersaft in gesundes Gewebe gepflanzt – hatte verbieten lassen. Das von Dr. Auzias-Turenne ersonnene und angewandte Verfahren der Vorbeugung war so umstritten, dass der Polizeipräfekt von Paris dessen Anwendung schließlich sogar an syphilitischen Prostituierten untersagt hatte. Ein heilender Zweck konnte

 

An den Namen der Prostituierten, die ihn im zarten Alter von zwanzig Jahren angesteckt hatte, erinnerte Jules sich natürlich nicht. Doch was spielte der Name für eine Rolle, ob Chouchou, Minet oder Nounou, es handelte sich ja nur selten um den, auf den sie getauft worden waren: Mathilde, wie die Prinzessin, Marie, wie die Muttergottes, Emilie, wie ihre Schwester, die im Kindesalter gestorben war; lauter unverfängliche Namen, die die fromme Krinoline gegen ein Straßenkleid getauscht hatten, das bessere Tage gesehen hatte.

Es war üblich, dass sich die jungen Huren mit ihren falschen Namen vorstellten. Auch die Freier wahrten ihre Anonymität, ihnen genügte es allerdings, ihre Namen zu verschweigen; nicht anders übrigens als die älteren Prostituierten oder Bordellbesitzerinnen, die sich als Mademoiselle oder Madame ansprechen ließen. Die Namen ihrer jungen Berufskolleginnen – ob echt oder falsch – waren so abgedroschen wie die Momente, die man in ihrer Gesellschaft verbrachte. Außer es blieb etwas hängen, was den Rest eines Lebens bestimmte. So wie es Jules passiert war.

 

Jules hatte selbst den Ausdruck dieses Gesichts vergessen wie er tausend andere Gesichter vergessen hatte, denen er im Lauf der Jahrzehnte – er war nun achtunddreißig Jahre alt – auf der Straße, im Theater oder in Restaurants begegnet war und die sich ihm genauso wenig eingeprägt hatten. Gewiss war es das Gesicht eines jungen Mädchens gewesen, denn die meisten dieser Mädchen waren jung; Nachschub

Das Gesicht der Botin des kommenden Unheils war wie Papier in einem versiegelten Kuvert für alle Zeiten fest verschlossen. Sosehr er daran riss, es blieb undurchdringlich wie von der Zeit getrübtes, vom Glasrost zerfressenes Fensterglas. Er hatte auch keine Erinnerung an ihren Körper, nur die Temperatur ihrer warmen Hand auf seinem Bauch glaubte er manchmal zu spüren, und das gelockte, feste Haar, das vielleicht daher rührte, dass kreolisches Blut in ihren Adern floss, nach einer Brennschere hatte es sich nicht angefühlt. Aber was wusste er von weiblicher Toilette und von den verschiedenen Rassen, von Haut und Haaren? Genug, um darüber schreiben zu können, nachdem er sich in die Materie vertieft hatte. Genug. Mehr war nicht nötig.

 

Ein Streifen fahles Licht fiel auf den Esszimmertisch, auf das Geschirr, auf die monogrammierten Servietten, die Speisen, das Besteck. Auf dem Kaminsims brannten zwei Petroleumlampen. Die Nachbarshunde schwiegen. Die Nachbarskinder schwiegen. Jules schwieg. Die Uhr tickte. Jules hörte seinen Bruder fragen, ob es ihm gut gehe, Jules nickte. Jules nickte mehrmals. Jules überlegte, ja, er fühlte sich doch gut. Er nickte. Er nickte. Er hieß Jules. Er erinnerte sich.

 

Nachdem Gott den Koitus und der Mensch die Liebe erschaffen hatte, erfanden die Geschäftstüchtigen die Mädchen, die Letzteres für Geld simulierten. Es war eines dieser

Der Aufschrei der Lust, den das käufliche Mädchen ausgestoßen hatte – eine Lust, die nur vorgetäuscht war –, gellte längst nicht mehr in seinen Ohren.

Er hätte das alles aufschreiben sollen, doch Edmond, der ihn sonst in allem gewähren ließ, hätte es ebenso wenig geduldet wie die Erwähnung seiner wahren Krankheit.

Beim Austausch der Säfte stachen die schlechten die guten aus, so war es wohl immer; geschmeidig wie Schlangen waren die Gifte in seine Blutbahn eingedrungen und hatten die reinen Flüssigkeiten kontaminiert, um seinen Körper von innen heraus zu zersetzen. Dass sie siegen würden, stand außer Zweifel; Heilung war nicht zu erwarten. So alt und abgekämpft die Krankheit auch sein mochte, jeder, der ihr in die Falle ging, wurde zu ihrem Jungbrunnen, in dem sie sich fröhlich fortpflanzte. Ihre Kraft versiegte nie, ihre Zerstörungswut entzündete sich stets von Neuem.

Edmond duldete es nicht, dass Jules darüber sprach. Versuchte Jules es doch, gab er dem Gespräch eine Wendung, die vom Gegenstand ablenkte. Wäre sonst jemand davon betroffen gewesen, egal ob Dichter, Politiker, Aristokrat oder Lakai, ob Freund oder Feind, Bekannter oder Fremder, Mann oder Frau, hätte er über die Krankheit mit der größten Selbstverständlichkeit gesprochen; Rang und Namen spielten keine Rolle angesichts der beeindruckenden Erkenntnisse, die man aus dem Unglück der anderen für sich – und für den Rest der Welt – gewinnen konnte. Egal wer sonst, nur nicht sein kleiner Bruder.

Jules’ unvermeidliche Auflösung protokollarisch ins Auge zu fassen wie die einer Romanfigur, kam jedoch nicht in Frage. Gelassenheit war nur dann erlaubt, wenn die Sache von anderen handelte. Da konnten sie schonungslos und ohne Rücksicht auf die schockierten Zeitgenossen auf der Chronologie der Krankheit beharren.

Edmonds Ablenkungsmanöver, sobald Jules auch nur darauf anspielte, waren erfolgreich.

Jules ließ ihn im Glauben, er selbst gehe von einer naturgegebenen Indisposition aus, die keine andere Erklärung als anhaltende Überbeanspruchung des Geistes zuließ. Er hatte sich angewöhnt, dem älteren Bruder nicht zu widersprechen, zumal es ihn beruhigte, wenn Edmond nicht protestierte. Er stimmte ihm nicht zu, er nickte nicht, er schwieg. Sein Schweigen schien Edmond hinreichend zu beschwichtigen. Dessen Vorstellung, der stete Schwund von Jules’ geistigem Vermögen sei auf die immer weiter vorangetriebene Verfeinerung seines Schreibens zurückzuführen, war so viel tröstlicher als der Name und die Symptome einer Krankheit.

Vielleicht wäre es besser gewesen, er wäre jetzt zur Malerei zurückgekehrt. Er war ein talentierter Zeichner, ein begabter Maler. Den Stift zu führen fiel ihm leichter, als seine Gedanken in Schach zu halten.

 

»Du bist so empfindlich, mein Kleiner, so empfindlich«, sagte Edmond, und er hatte recht, Jules war in einem Maß geräuschempfindlich geworden, wie es sonst vielleicht nur ein Komponist oder Musiker war, den jeder falsche Ton in einen mordlustigen Zustand versetzen musste, weil er durch Fehler erzeugte Missklänge hörte, die dem Laien entgingen, ihm aber unerträglich waren.

In Edmonds Stimme lag mehr zärtliche Liebe, als Jules sie je in der Stimme einer Frau gehört hatte. Liebende Frauen vermisste er nicht. Frauen, die liebten, waren fordernd und anstrengend wie die Liebe selbst, die vom Wesentlichen ablenkte, und dieses Wesentliche war nicht die Liebe, sondern das Werk, das man schuf, das sie schufen, das sie noch schaffen würden, das sie schaffen mussten, das ihnen, den Brüdern Goncourt, aufgetragen war, über die sich manche Leute das Maul zerrissen, weil sie ihre Werke nicht kannten oder deren Bedeutung einfach unterschätzten.

»Magst du etwas Lustiges hören?«, sagte Jules, völlig verändert.

»Ja«, erwiderte Edmond, und Jules sagte: »Etwas Lustiges. Lustiges. Erinnerst du dich an Onkel Alphonse?«

Edmond nickte, und aus dem, was Jules nun in unvollständigen, abgebrochenen Sätzen erzählte, setzte Edmond jene Geschichte zusammen, die er längst kannte.

Der siebzehnjährige Jules hatte seinen Onkel Alphonse begleitet, als dieser einen alten Schulfreund in der Nähe von Orléans besucht hatte. Sie erschienen zum Mittagessen und wurden pünktlich zu Tisch gebeten. Die Dame des Hauses duftete nach Kuchen und Ofen, gerade so, als habe

Die Gastgeberin hatte Jules aufgefordert, er möge sich neben sie setzen, und ihm schon beim Hors d’œuvre eindeutige Blicke zugeworfen und zweideutige Dinge geäußert, nachdem die Herren nur noch über Politik und Finanzen sprachen. So entgingen ihnen die herrlichen Unverfrorenheiten der freizügigen Gastgeberin, die sich mit Jules unterhielt, als sei er ein Kind, das nicht verstand, was sie sagte. Was jeden gewöhnlichen Sterblichen zum Erröten gebracht hätte, blieb unter ihnen. Mehrmals hatte sie heimlich seinen Oberschenkel berührt und nach seinem Geschlecht gegriffen, was erst gelang, nachdem sie den Stuhl in seine Richtung gerückt hatte. »Ein Kinderspiel!«

Zunächst ging alles von ihr aus, aber als der kleine Jules begriff, was sie wollte, streckte er sein rechtes Bein – »Mein Bein!« –, bis er ihren Fuß berührte, dann ihre Waden – »Waden! Waden!« – und ihren Oberschenkel, und er wagte sich immer weiter vor, bis er schließlich beinahe unter den Tisch rutschte, der Stuhl nach hinten kippte und er, zur großen Erheiterung der fröhlichen Tischrunde, die den Grund seines Sturzes nicht kannte, auf dem Hintern landete.

Als sie wieder in der Kutsche saßen und heimwärts fuhren, behauptete Onkel Alphonse, er habe schon befürchtet, sich an Jules’ Stelle mit seinem alten Freund duellieren zu müssen. Jules lachte nun, bis ihm die Tränen kamen.

Er nahm einen Schluck Wein. Es war alles wie früher, nur dass Jules sich nicht daran erinnerte, dass er ihm diese Geschichte schon oft erzählt hatte.

»Immerhin blieben Hemd und Hosen sauber, du weißt ja, was ich meine«, hätte er früher bemerkt.

Beide hätten gelacht.

»Wir werden diese Geschichte aufschreiben«, sagte Edmond. »Die Pointe ist umwerfend. Kein Wunder, dass sie sich in dich verguckte, Jules, blond, hübsch und fröhlich, wie du warst. Welche Frau, die diesen Namen verdient, wollte ernsthaft darauf verzichten, von einem reizenden Cherub verwöhnt zu werden, insbesondere, wenn sie schon etwas in die Jahre gekommen ist.«

Ob sich Jules an die Erektion erinnerte, die ihr vermutlich nicht entgangen war, als er wie ein Maikäfer auf seinem Hosenboden lag?

»Mit ihr hättest du sicher mehr Glück und Vergnügen gehabt als ich mit Madame Charles, dieser zu kurz geratenen Kreatur, an die ich mit sechzehn geriet. Es ist wahrlich ein Wunder, dass mir der Anblick ihrer Blöße die Lust an der körperlichen Liebe nicht ein für alle Mal genommen und mich zum Päderasten gemacht hat. Ekel erfasst mich, wenn ich daran denke, dass ich mich tatsächlich an ihr verging und ihre Lustschreie ertrug, ohne sie zu erwürgen. Ihr Torso hatte die Form eines Rhombus, an den ein ungnädiger Gott kurze Ärmchen und Beinchen geschraubt hatte. Sie sah aus wie ein Taschenkrebs, der auf dem Rücken liegt, als sie mich auf ihr Lager zog. Wie habe ich das bloß

»Womöglich«, warf Jules ein, »hatte sie hübsche, volle Brüste?«

»Wer weiß, wer weiß.«

Sie lachten beide und malten sich alles Mögliche aus, so dass sie Pélagies Eintreten nicht bemerkten, die begann, das Geschirr abzuräumen. Es war so, als wäre nichts, als wäre alles beim Alten.

 

Er war zwanzig Jahre alt gewesen, als sich eine rötliche Geschwulst, klein wie ein entzündeter Insektenstich, in der Leistengegend bemerkbar gemacht hatte. Weder schockiert noch bestürzt – Geschlechtskrankheiten waren schließlich sein tägliches Brot –, hatte der Arzt seine Befürchtungen bestätigt.

Längst nicht jeder stirbt daran, hatte Edmond damals beschwichtigend behauptet. Der Arzt hatte sich auf keine Prognosen eingelassen.

»Ich empfehle eine Syphillisation«, hatte er gesagt. »Ich bin überzeugt, dass man Übel erfolgreich nur mit Übel bekämpft.«

Dann hatte er ihm erklärt, was er damit meinte.

 

Name und Gesicht der Hure von damals waren ausgelöscht, nicht aber das armselige Zimmer, in dem Jules ihr auf die gewöhnlichste Art beigewohnt hatte, er war gerade zwanzig geworden, unerfahren, er kannte nichts weiter als die aushöhlende Selbstbefriedigung, das unerfüllte Verlangen

 

Im Gegensatz zu ihr war das Zimmer, in dem sie ihn vor achtzehn Jahren kontaminiert hatte, so gegenwärtig, als habe er es nie verlassen, ein Verschlag, in den man ihn gesperrt hatte, aus dem er sich nicht befreien konnte, auch wenn er ihn manchmal tage-, wochenlang vergaß, aber nie länger, nie monatelang, das Verlies war immer nah. Warum er die Hure ohne seinen Bruder besucht hatte, war nirgendwo vermerkt. 1850, im Jahr, als es geschah, hatten sie noch kein Tagebuch geführt.

Es mochte Zufall sein, doch von dem Augenblick an, da er die Krankheit in sich trug, schienen seine Fähigkeiten als Dichter und genauer Beobachter seiner Zeit zu explodieren; der Zeichner und Maler war von der Bühne abgetreten.

Es gab andere, die ihn auf diesem Gebiet mühelos überragten, Gavarni etwa. Dies zuzulassen und ohne Neid oder Missgunst zu schätzen war die Freiheit, die er empfand, wenn er Gavarni bewunderte, glücklich darüber, seine Bekanntschaft gemacht und seine Freundschaft errungen zu haben; doch seit drei Jahren war er tot. Sie sprachen oft von ihm, sehr oft.

»Gavarni«, murmelte er.

Edmond nickte, bewegte die Lippen: »Gavarni …«

 

Zurück im Verschlag seiner Krankheit hörte er, wie in der Ferne ein besoffener Chopin Kleinholz auf einem verstimmten Klavier hackte, indem er die Tasten in der Klaviatur versenkte, bis es endlich verstummte. Ein paar schlaffe

»Ssss…«

»Jules, mein Junge?«

Das Pferd bockelte.

Die Hunde bellten.

Die Kinder schrien.

Das Klavier schwieg.

Da war noch etwas.

 

Die Gardine hatte die Farbe von Kinderpisse, der Saum war am Boden umgeknickt wie ein zu langes, von Gossenwasserflecken beschmutztes Abendkleid. Das Fenster stand halb offen, ein warmer Windhauch, in dem sich der Salzgehalt des trägen Meers verfangen hatte, streifte Jules, den jungen Mann, damals, als sie das Gift in ihn geträufelt hatte. Im dampfenden Mondlicht tanzten die Falter. Alles schwitzte Feuchtigkeit aus. Der Schweiß auf seinem Körper schützte ihn vor dem Mond, nicht vor der Frau. Der warme Wind trug die Matrosenkrankheiten und die Melancholie an Land. Hier war kein Raum für Sentimentalität.

In einer Ecke stand ein Stuhl mit der Sitzfläche zur Wand, der einem Schüler ähnelte, den man zur Strafe dorthin gestellt und vergessen hatte. Unter dem Waschtisch dehnte sich eine dunkle Wasserlache aus, die wie Blut aussah, auf der sich gläserne Blasen gebildet hatten, es war kein Blut, sah nur so aus, es war bloß Seifenwasser, mit dem sich die Prostituierte Schweiß und Sperma seines Vorgängers vom

 

Wenige Tage später hatten sich die ersten Anzeichen der Krankheit bemerkbar gemacht, vor der man ihn schon als Jugendlicher gewarnt hatte, ohne ihm zu sagen, wie man sie vermeiden konnte. Zu vollständiger Abstinenz hatte ihn niemand angehalten, schließlich galt es, die menschliche Rasse am Leben zu erhalten, und sei es um den Preis, sich in Lebensgefahr zu begeben.

Er hatte dem kleinen Ausschlag zunächst keine Beachtung geschenkt oder jedenfalls nicht mehr als nötig, er war erst zwanzig, er war so jung, so schön, so gesund. Gewiss hatte er später etliche Frauen damit angesteckt. Wenngleich er sich damit nicht brüstete wie andere, schämte er sich auch nicht dafür.

 

Wer wusste besser als die Hure, die ihn angesteckt hatte, welche Risiken es barg, mit einem Fremden zu schlafen? War es tatsächlich die eine gewesen, an die er sich nicht erinnerte, in deren Zimmer ein Teil von ihm geblieben war, und nicht die Nächste, an die er sich ebenso wenig erinnerte?

Wie man die Ansteckung vermeiden konnte, ohne jungfräulich zu bleiben, wussten sie so wenig wie er. Sie wussten nur um die Unheilbarkeit der neapolitanischen Krankheit, die anderswo die Franzosenkrankheit hieß. Sie hatte sich in den Jahrhunderten, die seit ihrem ersten Auftreten vergangen waren, dort häuslich eingerichtet, wo Menschen lebten. Manche überlebten sie, es gab immer Wunder.

Erst vierzehn Jahre nach der Infektion hatte er es ins Tagebuch eingetragen. Edmond hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Die Wahrheit gehörte nicht unter den Teppich gekehrt, die Wahrheit, so düster sie auch sein mochte, durfte das Tageslicht nicht scheuen. So wie alles, was sie sagten, hörten und dachten, wert war, für die Nachwelt aufgezeichnet zu werden. Das Tagebuch war Teil ihres Werkes und ihres Lebens, die Rangfolge austauschbar.

Gott hatte den Koitus geschaffen, der Mensch die Liebe. Hätte sich Gott auf die Liebe beschränkt, wären ihm unzählige Tote jeden Alters erspart geblieben, die jetzt in der Hölle schmorten, dachte Jules. Die Liebe ist nur eine Konvulsion. Weitreichender als ihre angenehmen Seiten sind ihre bösen Folgen.

 

Wenn etwas Erfolg versprach, dann heiße mineralische Bäder: die Thermen von Leuk, die Bäder von Royat, die sie aufsuchten. Bereits die alten Römer hatten sich davon Heilung versprochen. Man erzählte sich von wahren Wundern. Natur korrigiert die Natur und heilt sich selbst.

»Wie viel Hitze, meinst du, erträgt der Mensch, bevor er in Flammen aufgeht?«, fragte er seinen Bruder.

»Gesetzt den Fall, ein Mensch, irgendein Mensch, leidet an einer schlimmen Krankheit, die allein dadurch geheilt werden kann, dass man das Blut des Kranken bis zum Siedepunkt erhitzt und so die Krankheit wegbrennt?«

»Die Gefahr lebensgefährlicher Verbrennungen ist viel zu groß. Er wird daran sterben, noch bevor er an der Krankheit stirbt, die er heilen will.«

 

Im September 1868 hatten sie ihre Wohnung in Paris gegen das Haus am Boulevard de Montmorency Nr. 53 getauscht, den Lärm der Stadt gegen die ländliche Ruhe, so jedenfalls hatten sie gehofft. Die Nachbarschaft der Ringbahn, die es ihnen jederzeit erlaubte, für wenig Geld mitten in die Stadt zur Gare Saint-Lazare zu fahren, war ein weiterer Anreiz.

 

Jules hatte keine Erinnerung an den Geschmack der Erdbeeren. Er erinnerte sich nicht daran, wie ein Feuer, wie der Schnee roch, wie ein Apfel oder wie Sahne schmeckte. Er erinnerte sich auch nicht an den vergangenen Tag. Er wusste nicht, wie man es niederschrieb. Wie man was und wozu niederschrieb. Zahlen und Buchstaben zerflossen. Was bedeuteten sie? War es Sommer? War es Sommer gewesen? War heute Montag, Mittwoch oder Samstag, ein Wochentag, ein Sonntag oder ein achter Tag? Wie viele Tage wurden zu Nächten? Er schlug die Augen auf – er lag bekleidet auf seinem Bett – und versuchte sich zu vergegenwärtigen, was ein Monat, ein Tag, was eine Jahreszeit sei, was Erdbeeren, was Äpfel, Sahne, aber er hatte keine Erinnerung, und damit waren die Worte für die Gegenstände fort, so wie die Gegenstände für die Worte nicht mehr existierten,

Er besaß lediglich ein paar herumliegende Worte, nutzlose Dinge, Buchstaben und Silben, die sich nicht fügten und nicht ineinander- und zusammenpassten, renitente, unwillige Fragmente. Er hob sie auf und ließ sie fallen, immer wieder, hundertmal, tausendmal.

Aber er war hungrig. Tief in seinem Inneren rief etwas danach, lückenlos gefüllt zu werden, damit das Loch, eine Blase wie eine Schweinsblase, nicht größer wurde. Die Lücke war schon groß genug, und er fürchtete, sie würde immer größer. Draußen war es dunkel. Kein Hund bellte. Kein Wind rauschte. Er hörte das Stampfen einer nahenden Lokomotive. Er setzte sich auf und sah an sich herab. Im Haus war es still. Waren alle ausgegangen, aber wer waren sie? Die Petroleumlampe brannte auf dem Nachttisch, der in Zinn gefasste Glasbehälter war fast leer. Sie musste bald verlöschen. Der Docht der Kerze war unberührt. Er wollte rufen. Wen sollte er rufen? Es war immer jemand da, der ihn hörte, aber wer? Wo? Er öffnete den Mund, doch mehr als ein Lallen kam nicht über seine Lippen. Er schloss die Augen. Er stöhnte leise, die Laute blieben an den nackten Wänden hängen, sie füllten sich mit seinen Seufzern, tierischen Lauten, Zeichnungen an den Wänden. Das Zimmer lag im Zwielicht. Die Lampe flackerte nicht. Sonst flackerte sie meist. Er wusste, was eine Lampe ist. Er wusste, was ihr Flackern bedeutete, doch was bedeutete es, wenn sie nicht flackerte? Vielleicht würde das Wissen

An der abgeschrägten Mansardendecke zeichnete sich das Gesicht eines Menschen ab, an dessen Namen er sich nicht erinnerte, ein Schriftsteller, ein Theaterdirektor, ein Freund oder Verwandter der Prinzessin, ihr Bruder, der Kaiser? Musik macht man mit acht Noten auf drei Oktaven, Verse mit sechsundzwanzig Buchstaben auf Tausenden von Seiten, das Glück mit dem, was dafür übrig bleibt. Kinder sind wie Sahne: Je mehr man sie schlägt, desto fester werden sie. Nach einer Weile zerfließt das Glück, und die Sahne wird wieder flüssig.

Über seinen Handrücken lief Blut in Strömen, Ströme von Blut. Sie hatten die Kinder steif geschlagen wie gestärktes Linnen. In diesem Augenblick spürte er das Anschwellen seines Glieds und stöhnte laut, einmal, zweimal, dreimal, dann wurde die Tür seines Zimmers aufgerissen und Edmond betrat das Zimmer mit einer Kerze. Da erinnerte sich Jules an alles, an ihr Gesicht, an ihre Hände, Brüste, Schenkel, und danach fiel er in einen Zustand der Bewusstlosigkeit, in dem er alles vergaß, was er je gewusst hatte.